Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 28. März 2004
Predigt zu Luthers 5. Invokavit-Predigt, verfaßt von Friedrich Weber

(zum Überblick)


„Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemand untertan.‘“ Bei solchen Worten jubelte der Christen Herz, da wurde wahr, was so lange gesucht, vermisst und wofür gelitten wurde: Freiheit.

1520 schreibt Martin Luther diesen Satz. Keiner vor ihm hatte mit so viel Kraft und Überzeugung von Freiheit in dieser Weise geredet. Da musste der Funke überspringen. Da mussten die im Glauben und Leben Bedrängten aufbrechen, heraus aus den Fesseln der kirchlichen Macht, heraus aus den Regeln, die seit Jahrhunderten über sie gelegt waren: endlich frei. Nur noch sich selbst und den eigenen Möglichkeiten verantwortlich. Jeder und jede wird nun seine und ihren Weg eigenverantwortlich beschreiben und gehen.

Aber halt!

Vom autonomen Menschen redet Luther bestimmt nicht. Vom, dem, was den Menschen bestimmt und leitet, von der Freiheit des menschlichen Willens, von seiner Kraft, die geschenkte Freiheit zu gestalten, denkt er realistisch. So sehr Freiheit für ihn der tiefste Ausdruck dessen ist, was das Evangelium schenkt, so sehr ist er von der Unfreiheit des menschlichen Willens überzeugt.

Bereits 1516 schreibt Luther: „Der Wille des Menschen ohne Gnade ist nicht frei, sondern versklavt.“

Und weil sein Wille nicht frei ist, darum führt eine Freiheit, die sich aus dem Menschen selbst begründet, ins Chaos. Natürlich mag der Mensch frei sein, seine täglichen Geschäfte zu ordnen, aber in den Grundfragen des Lebens, in den Fragen nach dem was gut oder böse ist, also im Blick auf die Begründung seines Tuns ist er nicht frei. Wir sind zwar frei, dies und jenes zu tun oder zu lassen, aber wir können das, was wir selbst, was wir als Person sind, nicht selber wählen. Vor unserem Wollen, Reden und Handeln sind wir Personen vor Gott. Das sind wir, ob wirt es wollen oder nicht. Dass wir als Menschen vor Gott sind, können wir zwar leugnen, aber das Gottesverhältnis können wir nicht abstreifen, weil Gott uns als seine Geschöpfe nicht loslässt. Das ist unsere Unfreiheit vor Gott. Sie leugnen heißt, seinen eigener Grund sein zu wollen und sein Leben entsprechend absolut, also losgelöst vom Grund gestalten zu wollen. Das zerstört aber – dem angeblich freien Willen unbewusst – die eigenen Person, weil sie etwas will, was nicht in ihrer Macht steht, nicht der Autonomie unterstellt ist,. Das zerstört auch die menschliche Gemeinschaft, weil das Wesen der Liebe korrumpiert wird. Der Mensch sucht dann in allem letztlich sich selbst. In bezug auf Gott, den Geber, Bewahrer und Erlöser kann nur gelten, dass der Mensch von Natur nicht wollen kann, „dass Gott Gott sei, im Gegenteil, er wollte, er selbst wäre Gott und Gott wäre nicht Gott.“ Frei ist der Mensch nur, nämlich frei vom Drang sich selbst zu suchen und sich losgelöst von aller sozialen Bindung zu entfalten und damit des Nächsten Wolf zu werden, wenn er sich im Glauben auf Gott einlässt. Frei ist er nur, wenn er Gott gelten lässt als den, der ihn liebt, sich für ihn schenkt und ihn damit als Geschöpf Wert achtet. Aus dieser Erkenntnis aber folgt das Bekenntnis, dass Gott der Herr ist.

Dass dieses Bekenntnis im Gegenüber zu ganz anderen Herren gesprochen wird, macht das Bild deutlich, das Luther in diesem Zusammenhang gerne verwendet.

Er vergleicht mit ihm den freien Willen des Menschen mit einem Reittier: „Wenn Gott aufsitzt, dann will es und geht es, wohin Gott will ... wenn der Satan aufsitzt, will es und geht es, wohin der Satan will, und es ist nicht in seiner Entscheidung, zu welchem Reiter es laufen will oder ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst streiten darum, es in Besitz zu nehmen.“ Für Luther ist klar: Wenn Gott der Herr ist, ist es sein guter Wille, der den Menschen seine Freiheit verantwortlich gestalten lässt. Der Mensch im Gegenüber Gottes, der Mensch, der Gott als den erkennt und ehrt, der ihn liebt, dieser Mensch nur wird Freiheit von den bösen, niederdrückenden und chaotischen Mächten gewinnen. Er wird von sich selbst befreit, von seinen eigenen Abgründen, er wird befreit zur Liebe.

So gesehen ist der zweite Satz Luthers in seinem Traktat „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520), der dem, dass der Mensch niemandem untertan ist, folgt, verständlich: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und Jedermann untertan.“

Die im Glauben geschenkte Freiheit ist Freiheit zum Dienst der Liebe. Was paradox klingt, löst sich auf, denn diese Freiheit und Unfreiheit werden nicht verstanden als Lebensform des autonomen Menschen, sondern sind die Lebensformen des Glaubens, die – so Luther – zu „Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben dem Nächsten zu dienen umsonst“ schenken.

Auf diesem Hintergrund nun ist die 5. Invocavit - Predigt Luthers, am 13. März 1522 in Wittenberg gehalten, zu verstehen. Ihr Thema ist die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit, bzw. von Freiheit und Ordnung. Das Spannende ist, dass die in Wittenberg von den Freunden Luthers propagierte Freiheit von Luther als Unfreiheit erkannt und die von ihm geforderte Ordnung eine Ordnung der Freiheit ist.

Der Hintergrund sei kurz erinnert. Luther, gebannt, nach seinem Auftritt vor Kaiser und Reich auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521 auch mit der Reichsacht versehen und damit als Ketzer größter persönlicher Gefahr ausgesetzt, wird durch Friedrich den Weisen auf der Wartburg bei Eisenach versteckt. 10 Monate lebt er dort inkognito als Junker Jörg und übersetzt während dieser Zeit das Neue Testament ins Deutsche. Während seiner Abwesenheit begannen seine Anhänger, allen voran Professor Karlstadt, in Wittenberg mit praktischen Reformen. Priester sollen heiraten, das Mönchtum soll aufgehoben werden, das Abendmahl soll unter beider Gestalt, also Brot und Wein für alle, gefeiert werden. Durch den Eifer der Reformer kam es in Wittenberg zu Tumulten. Der besonnene Melanchthon vermochte nicht den aufrührerischen Geist der aus Zwickau kommenden neuen „Propheten“, damit sind der Tuchmacher Niklas Storch und der Student Markus Stübner gemeint, die sich auf eigene Offenbarungen beriefen und das geschriebene Wort der Bibel bei Seite stellten, zu steuern. Thomas Münzer, von Luther nach Zwickau empfohlen, der später eine entscheidende Rolle im Bauernkrieg spielen sollte, hatte sie geprägt.

In Wittenberg kam es im Februar 1522 zu einem Bildersturm. Die beschworene neue evangelische Freiheit verwandelte sich in Willkür und Chaos. Der Rat der Stadt vermochte die erregte Volksmenge nicht mehr zu lenken. Die kurfürstliche Regierung in Wittenberg sah sich genötigt einzuschreiten. Luther erfuhr auf der Wartburg von diesen Vorgängen und entschloss sich zum Eingreifen, kommt unerkannt inmitten eines Trupps von Reitern als Junker Jörg am 06.03.1522 in Wittenberg an, Acht und Bann nicht achtend. Es geht um mehr als seine Sicherheit und es gelingt ihm sprachmächtig oder besser, von Gottes Geist bewegt, in dieser Auseinandersetzung mit Weggefährten, um Kirche und die Klarheit des Evangeliums besorgt, die erregte Menge zu beruhigen und die Ordnung der Freiheit als Lebens- und Glaubensordnung wieder herzustellen.

„Die schwierige Aufgabe für Luther besteht (nun) darin, einerseits eine neue Ordnung, die sich zwingend von der reformatorischen Botschaft her ergab und nun gesetzt war, gelten zu lassen und notfalls zu verteidigen, andererseits ungeistlichen Eifer zu dämpfen und Änderungen, denen die Gemeinden noch gar nicht gewachsen waren, deren Vornahme also eine Verletzung der Pflicht der Liebe und der Schonung der Schwachen bedeutete, wieder rückgängig zu machen“ (Franz Lau).

In der 5. Invocavit-Predigt entfaltet er dies an der Art, wie man sich beim Abendmahl verhalten solle.

Sein Prinzip: Bei allem, was an Veränderungen nötig ist, soll „man keinen Zwang noch Verordnung daraus machen ..., auch keinen an den Haaren davon wegzwingen oder drängen, sondern allein Gottes Wort handeln lassen.“

Gottes Wort soll handeln. Das heißt, es soll nicht alleine gehört werden, sondern ihm wird zugetraut, dass es Menschen zum rechten Verhalten leitet, dynamisch, voller Kraft, Richtung weisend ist dieses Wort. Es hat eine Dynamik in sich, ganz unabhängig von menschlicher Rede. Es ist selbstmächtig. Das Wort von der Freiheit befreit vor allen eigenen Entscheidungen, es richtet auf, es tröstet und es richtet.

Und dann wird Luther ganz konkret: Wenn auch der Papst gesagt habe, keine Frau dürfe das Altartuch waschen, keine Laie dürfe die Hostie berühren, so sei dies als närrisches Gesetz erwiesen, aber daraus folge doch wahrhaftig nicht, dass man nun zwanghaft genau das Gegenteil tun müsse, um ein Christ zu sein. Aus dem alten Zwang der Verbote ist so ein neuer Zwang der Gebote geworden. Nein, „das Reich Gottes besteht nicht in äußerlichen Dingen, die man anfassen oder empfinden kann, sondern im Glauben.“

Natürlich ist es keine Sünde, so Luther, das Sakrament anzufassen, aber ein gutes Werk war es auch nicht, „dieweil sich die ganze Welt daran ärgert, bei der es Brauch ist, dass sie das hochwürdige Sakrament von des Priesters Händen empfängt.“

Und dann folgt der entscheidende Satz Luthers an 1. Korinther 8 geschulter Kriteriologie als Frage formuliert: „Warum willst du denn den Schwachgläubigen nicht auch hierin dienen und dich deiner Freiheit enthalten, dieweil es dir keinen Nutzen bringt, so du es tust, und keinen Schaden, so du es lässt?“

Luther kann darum nur raten, dem Wort seinen Lauf zu lassen und keinen Zwang zu schaffen, denn den will der, der die Unfreiheit des Menschen sucht und neues Chaos, neue Unordnung bringt. Der Glaube an Gott dagegen schenkt den Frieden, der es nicht nötig hat, die eigenen (Freiheits-)Rechte rücksichtslos durchzusetzen. (1. Kor 14,33) Es gilt vielmehr: Predigt, lehrt und hört auf das Wort und ergebt euch seiner Dynamik, das wird euch die Freiheit schenken, die Dinge so zu ordnen, wie sie dem Nächsten nützen und Gott die Ehre geben. Die Ordnung, die unter euch gelte, sei durch das Wort geschenkt, durch das Wort, das im Glauben befreit.

Menschen, die in solcher Art frei sind, werden sich nicht mehr so verhalten, wie die Tumult suchenden Wittenberger. Und denen – ganz gleich in welchem Jahrhundert sie leben – gilt Luthers Wort von der Wittenberger Kanzel gesprochen: „Aber hier ist kein Dulden, denn ihr habt es zu grob gemacht, so dass man sagt: ja, zu Wittenberg sind gute Christen, denn sie nehmen das Sakrament in die Hände und fassen den Kelch an, gehen danach hin zum Brandwein und saufen sich voll. So treibt es denn die schwachen, gutherzigen Menschen zurück, die wohl noch zu uns kämen, wenn sie so lange und viel gehört hätten wie wir.“

Ja, er konnte deutlich werden, unser Reformator, wenn er den Übermut der vermeintlich Freien, die in Wahrheit schon wieder von neuem Gesetz und Zwang gebunden waren, verspürte.

Ich frage mich – heute 482 Jahre später – wo bestimmt Zwang und neues Gesetz unser kirchliches Leben und ich weiß zugleich, dass es keinen besseren Weg gibt, um in aller Unterschiedlichkeit, die uns Christen und Christinnen auszeichnet, beieinander zu bleiben, als den von Luther gezeichneten. Ob er auch heute noch so lautet: Vermeidet das Ärgernis. Ihr könnt es als die Freien, die in Christus jedermanns Untertanen sind, aber Untertanen um der Liebe willen.

Amen

Landesbischof Dr. Friedrich Weber, Braunschweig
E-Mail: landesbischof@luth-braunschweig.de


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