Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 28. März 2004
Predigt zu Luthers 5. Invokavit-Predigt, verfaßt von

(zum Überblick)


Die christliche Freiheit

I

„Über den Wolken, da muß die Freiheit grenzenlos sein“ - so hieß es in einem vor einigen Jahren sehr beliebten Schlager. In ihm spricht sich die Sehnsucht nach einer Freiheit aus, die auch in einer freiheitlich-liberalen, ja permissiven Gesellschaft wie der unsrigen von den Menschen schmerzlich vermißt wird. Obwohl es im heutigen Europa anscheinend überall jedem freisteht, zu leben, wie er will, und nach seiner Façon glücklich zu werden, fühlen sich die meisten unfrei und eingeengt. Ein banales Beispiel bietet der Straßenverkehr. Zwar kann ein jeder fahren, wann und wohin er will und soweit ihn sein fahrbarer Untersatz trägt, aber bald sieht er sich von einem Schilderwald umgeben, der ihn mit dem übrigen Verkehrsstrom in feste Bahnen lenkt, oder im Stau stecken, der seinem Freiheitsdrang enge Grenzen setzt. Und auf dem Lebensweg geht es ihm nicht anders wie auf der Autobahn: Wirtschaftliche Zwänge bestimmen seine Berufswahl und Berufsausübung, das Familienleben setzt ihm Grenzen, die er sich so nicht vorgestellt hat. Aber nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen und die Bedürfnisse seiner Mitmenschen schränken die freie Entfaltung der Persönlichkeit ein: jeder unterliegt dem ehernen Gesetz von Ursachen und Folgen, von dem es keine Ausnahme gibt. Wir haben die freie Wahl, zu essen, zu trinken, zu rauchen, was uns beliebt, - die Folgen stellen sich aber ohne unser Zutun ein, wir müssen sie tragen, ob wir wollen oder nicht.

All das gibt dem Menschen das Bewußtsein, Mächten und Gesetzen ausgeliefert zu sein, die über ihn Gewalt haben, die ihm vielleicht übel wollen, auf jeden Fall aber seine Freiheit hindern. Weil es kein Entkommen gibt, ist die Freiheit eine Utopie: Nur „über den Wolken“ kann es sie geben, die grenzenlose Freiheit, nach der wir uns sehnen. Wenn wir festen Boden unter uns haben, ist es damit vorbei.

So geht es nicht nur uns heutigen Menschen; auch die vergangenen Geschlechter fühlten sich zu allen Zeiten dunklen, ungreifbaren Mächten ausgeliefert, die sie mit Krankheit und Tod, Not und Knechtschaft, Streit und Unfrieden bedrohten. Sie nannten diese Mächte Götter und Dämonen. Man mußte sie besänftigen und milde stimmen, wenn es einem gut gehen sollte, und konnte doch nie ganz sicher sein, wie sie reagierten. Heute nennen wir diese Mächte Schadstoffe, Klimaveränderungen, Großkonzerne, Suchtmittel oder wie auch immer. Wir suchen ihnen durch Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge oder Protestaktionen beizukommen, wobei wir aber über die Folgen und Nebenwirkungen all unserer Vorkehrungen ebenso im Dunkeln tappen wie unsere Vorfahren gegenüber dem Willen der Götter.

II

Mit all dem räumt die Bibel auf. Das beginnt schon im Alten Testament: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut sei und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6, 8). Wer Einzelheiten wissen will, der halte sich an die zehn Gebote. „Der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben.“ (3. Mose 18,5). Damit weicht die „Heidenangst“ vor der übermächtigen Willkür der Götter und Dämonen der Gottesfurcht vor dem Herrn, der sich in seinem Wort an Moses und die Propheten zu erkennen gegeben hat. Wer diesem Worte vertraut, der vertraut sich damit der Treue Gottes an und verliert die knechtende Angst vor „des Geschickes Mächten“, mit denen nach den Worten Friedrich Schillers bekanntlich „kein ew’ger Bund zu flechten“ ist. Aber damit ist er noch nicht frei. Der Zweifel hält ihn gefangen: Habe ich genug getan, um den Forderungen Gottes zu genügen? Was fehlt mir noch, um mir seine Liebe zu sichern? Diese Fragen, die in dieser Form heute nur noch wenige Menschen bei uns stellen, beherrschten unsere Vorfahren am Vorabend der Reformation. Darum kauften sie Ablaßbriefe, machten Wallfahrten, ließen Messen lesen und fanden doch keine Ruhe. Luther kennzeichnet diesen Zustand mit einem, wie er sagt, „groben fleischlichen Beispiel“: „Wenn ein Mann oder Weib annimmt, daß der andere Liebe und Wohlgefallen an ihm empfindet, und fest daran glaubt - wer lehrt ihn dann, wie er sich benehmen soll, was er tun, lassen, sagen, schweigen und denken soll? Die Zuversicht allein lehrt ihn das alles und mehr als nötig ist. Da gibt es für ihn keinen Unterschied in den Werken; er tut das Große, Lange, Viele so gerne wie das Kleine, Kurze, Wenige und umgekehrt, und das alles mit fröhlichem, friedlichem, sicherem Herzen und ist ein ganz freier Geselle. Wenn aber ein Zweifel da ist, dann sucht man, was am besten sei, da fängt man an, sich verschiedene Werke auszumalen, mit denen man Gunst erwerben will, und geht doch mit schwerem Herzen und großer Unlust daran, und ist gleich gefangen, mehr als halb verzweifelt und wird oft zum Narren darüber.“ So, sagt Luther, geht es auch den Christen, die nicht allein auf Gottes Güte und Treue vertrauen, sondern sich voller Zweifel auf ihr eigenes Verhalten und Tun verlassen wollen.

Fremd ist uns Menschen von heute das nicht. Was tun wir nicht alles, um uns vor allen Wechselfällen des Lebens zu schützen? Wie quälen wir uns, um unserer Gesundheit willen ein paar Pfunde herunter zu kriegen? Mit welchem Argwohn oder Neid betrachten wir unsere Mitmenschen, denen es anscheinend besser geht als uns? Und bei all dem sind wir nicht froh und frei, sondern mürrisch und unlustig und mancher „wird oft zum Narren darüber“. Ohne es recht zu merken, sind wir Knechte geworden - Knechte unserer Sorgen, Zweifel und Ängste.

Um wirklich frei zu werden, helfen uns keine Anstrengungen und kein gutes Zureden. Um wirklich frei zu werden, muß uns einer zur Freiheit befreien, der sie uns selbst vorgelebt hat: unser Herr Jesus Christus. So vorgelebt hat er uns diese Freiheit der Kinder Gottes, daß er sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt und hingegeben hat. Und er hat diese Freiheit uns nicht nur vorgelebt wie ein unerreichbares Vorbild, sondern er hat uns in diese Freiheit gleichsam hineingezogen, daß wir ihm gleich werden, seinen Leib und sein Blut, sein ganzes Wesen in uns aufnehmen können. Das hat er mit einem Zeichen besiegelt, das bis heute gilt und in alle Zukunft, mit seinem Abendmahl „in der Nacht, da er verraten ward“. Mit dem Brot, das er gebrochen hat, mit dem Kelch, den er seinen Jüngern gab, nehmen wir seinen Leib und sein Blut in uns auf und gewinnen damit Anteil an ihm selbst, an seiner Freiheit, an der Gotteskindschaft.

Das hatte die Christenheit lange Zeit vergessen. Sie hatte das Abendmahl mit hohen Zäunen umgeben, mit Vorleistungen und Bedingungen, die von der Freiheit kaum etwas übrig ließen: Nur der geweihte Priester durfte das Brot mit seinen Händen berühren, nur er durfte den Kelch nehmen; der einfache Christ durfte das Abendmahl nur feiern, wenn er vorher gebeichtet und für seine Sünden Buße getan und Vergebung erlangt hatte.

III

All diese Zäune um das Abendmahl hatte Luther abgebrochen - nur eines war nötig, um die Freiheit zu erlangen: der Glaube, das kindliche Vertrauen auf Gottes Vergebung. Das hatten nicht alle Menschen, die Luthers Predigt vernommen hatten, begriffen. Viele waren noch gefangen im alten Brauch und wagten es nicht, die Umzäunung zu verlassen und sich frei der Gottesverheißung hinzugeben. Andere dagegen waren voll Begeisterung darauf eingegangen und schickten sich an, die gewonnene Freiheit in der ganzen Kirche durchzusetzen. Dabei nahmen sie keine Rücksicht auf die Ängstlichen und Zaghaften, sondern zwangen sie, zuzugreifen und sich über die alten Sitten und einengenden Gebräuche hinwegzusetzen. Wenn die sich sträubten und sich wehrten gegen das, was sie als Frevel und Frechheit ansahen, wurden sie unter Druck gesetzt und gegen ihre Gewissensbedenken genötigt, das Abendmahl in beiderlei Gestalt aus den Händen Ungeweihter zu empfangen. Dabei kam es 1522 in Wittenberg zu wüsten Szenen und Gewaltanwendung gegen Priester, wodurch viele an der Freiheit der Kinder Gottes irre wurden. Als der Kurfürst drohte, die Unruhen mit militärischen Mitteln zu beenden, verließ Luther gegen dessen Befehl die Wartburg und griff mit sieben Predigten in der Invocavitwoche in den Streit ein.

In der fünften dieser Predigten, wo es ihm besonders um das Abendmahl geht, stellt Luther zunächst klar, daß jeder Christ die Freiheit habe, das Abendmahl nach dem Maß seines Glaubens zu feiern. Denn der Glaube an die Sünden vergebende Gemeinschaft mit Christus ist es, der uns durch das Mahl Kraft gibt und der dem Christen die Freiheit schenkt. Aber es kommt nun alles auf den Gebrauch dieser Freiheit an. Wenn ich meine Freiheit dazu gebrauche, einem Mitchristen meine Auffassungen aufzudrängen und ihn zu nötigen, etwas wider sein Gewissen zu tun, dann mißbrauche ich meine Freiheit. Denn ich beraube ihn damit seiner Freiheit, die ihm Christus genauso wie mir geschenkt hat. Und noch mehr: ich soll auch nicht, indem ich meine Freiheit gebrauche, anderen ein Beispiel geben, an dem er sich ärgert, das heißt: an der Gabe Christi im Abendmahl irre wird. Ohne daß er sich wörtlich darauf bezieht, schließt Luther sich hier dem Apostel Paulus an, wenn der im ersten Korintherbrief die Gemeinde ermahnt: „Es ist mir alles erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“ (1. Kor. 6, 12) So fragt Luther: „Warum willst du denn den Schwachgläubigen hierin nicht dienen und dich deiner Freiheit enthalten, weil es dir doch keinen Nutzen bringt, wenn du es tust, und keinen Schaden, wenn du es läßt?“ Etwas Neues kann man nicht durch Zwang einführen, sondern nur aufrichten, wenn das Evangelium „durch und durch gepredigt und erkannt“ ist. Darum braucht es Geduld, bis alle Mitchristen durch das Evangelium innerlich frei geworden sind.

Einen rücksichtslosen Gebrauch der christlichen Freiheit will Luther nicht dulden. Denn „man spricht: Ja, zu Wittenberg sind gute Christen, daß sie nehmen das Sakrament in die Hände und greifen den Kelch an, gehen danach hin zum Branntwein und saufen sich voll. - Also treibt es denn die schwachen, gutherzigen Menschen zurück, die noch wohl zu uns kämen, wenn sie so lange und viel <vom Evangelium> gehört hätten wie wir.“

Das Mißverständnis der Freiheit, das zu ihrem Mißbrauch führt, ist heute weit verbreitet, auch wenn wir es kaum mehr mit dem Abendmahl in Verbindung bringen. So lassen wir es uns heute von Rosa Luxemburg sagen, daß die Freiheit immer die Freiheit es andern ist, was wir auch schon von Paulus und Luther hätten lernen können. Christliche Freiheit befreit mich dazu, dem Wohl des Nächsten zu dienen, statt meinen Gelüsten oder Neigungen nachzugeben, die bald Gewalt über mich gewinnen. Und wie schnell betrügt man sich dabei selbst: „Ich habe doch nur das beste gewollt“, heißt es, wenn wieder einmal gründlich schief gegangen ist, was wir aus Vorwitz oder Besserwisserei anderen Menschen aufgedrängt haben. Darum müssen wir uns gerade als Christen täglich darauf besinnen, daß uns die wahre Freiheit nicht in die Wiege gelegt ist, sondern daß sie uns durch unseren Herrn geschenkt wurde, damit wir sie in seinem Namen gebrauchen. Darum beten wir:

„Erhalt uns in der Wahrheit,
Gib ewigliche Freiheit
Zu preisen deinen Namen
Durch Jesum Christum. Amen“ (EG 320, 6)

H. M. Müller
Depenauer Weg 38
31303 Burgdorf
Tel. 05136-6885
muellerhm@gmx.de


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