Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 28. März 2004
Predigt zu Luthers 5. Invokavit-Predigt, verfaßt von Stefan Knobloch

(zum Überblick)


Freiheit und die rechte Abendmahlsfeier

Wer es noch nicht gewußt haben sollte: Martin Luther liebte eine klare Sprache, eine erfrischende Sprache, die freilich auf den heutigen domestizierten Hörer bisweilen wie eine kalte Dusche wirkt, so daß er sich veranlaßt sehen könnte, zur Feder bzw. in die Tastatur des PC zu greifen, um dem Superintendenten oder dem Landesbischof einen Beschwerdebrief über die Wortwahl Martin Luthers zu schreiben. Luthers im Rahmen der Invokavitpredigten 1522 in Wittenberg gehaltene 5. Predigt gäbe da einiges her. Allerdings nur für den, der sich gern skandalisiert. Und er wäre darüber zu bedauern, weil ihm dann die eigentlichen Gedanken Luthers entgangen bzw. unentdeckt geblieben wären.

Auf den ersten Blick ist das in der 5. Predigt von Luther angesprochene Thema nicht mehr unser Thema, und zwar in großer ökumenischer Übereinstimmung nicht mehr unser Thema, weder bei den Kirchen der Reformation noch unter Katholiken. Luther handelt von der Frage, ob Laien den Leib Christi mit ihren Händen berühren und empfangen dürfen oder nicht. Und was vom Abendmahlsempfang unter beiderlei Gestalt zu halten sei. Und schon hätten wir, wenn wir den Inhalt seiner 5. Predigt in dieser Weise angäben, ihr eigentliches Anliegen verfehlt. Vielleicht nicht einmal böswillig verfehlt, jedoch faktisch. Und das wohl allein deshalb, weil wir Luther und seine Worte in unserem Frage- und Problemhorizont und nicht in seinem gelesen hätten.

Luther ist in dieser Predigt weit davon entfernt, gewissermaßen liturgisch-rubrizistische Anweisungen zu geben. So und so hätten die Christinnen und Christen Wittenbergs das Abendmahl zu feiern. Basta. Alles andere sei vom Teufel. Luther setzt ganz anders an. Er setzt modern an und ist damit der Botschaft Jesu inhaltlich ebenso nahe wie unserem heutigen Empfinden. Er setzt beim Wort Gottes an, bei der Ernstnahme dieses Wortes, dabei, es wirklich ankommen zu lassen als ein Wort, als eine Botschaft, die in Freiheit setzt, die das Leben befreit, exakt weil es die Botschaft Gottes an unser Leben ist. Das Wort Gottes hat bei Martin Luther Priorität vor allem, und deshalb habe sich unser Leben immer wieder an diesem Wort auszurichten. Denn es bietet Lebensfülle, Gottesnähe und Freiheit.

Bei wem das Wort Gottes in dieser Wirkung angekommen ist, wer sich so für das Wort aufgetan und geöffnet hat – und das sollte bei den Christinnen und Christen der Fall sein -, zu dem passe es nicht, wenn er zurückfällt in beckmesserische Kleinkrämerei, in Gedanken des Zwanges und zwanghafter Ordnungen. Und schon gar nicht – das schlägt gewissermaßen dem Faß den Boden aus – im liturgisch-sakramentalen Bereich der Abendmahlsfeier, also in der Begegnung mit dem befreienden Gott. Offenbar hatte sich in Wittenberg die Praxis durchgesetzt, die man nun in einer Art Einheitlichkeitswahn rigoros praktizierte, daß man beim Empfang des Abendmahls den Leib Christi in die Hände gelegt bekam. Nicht dieser Sachverhalt als solcher brachte ihn – um, mit Verlaub, Luthers Sprachkraft nachzuahmen – „auf die Palme“. Dazu war er ein viel zu kundiger Theologie, um nicht zu wissen, daß schon Cyrill von Jerusalem in seiner fünften mystagogischen Katechese den Empfang des Leibes Christi so beschrieben hatte: „Mache die Linke zum Thron für die Rechte, die den König empfangen soll. Mache die Hand hohl, empfange so den Leib Christi und sage ‚Amen’ dazu.“

Nicht um diesen Sachverhalt also ging es, sondern darum, daß man daraus – in Wittenberg – eine Zwangsvorschrift gemacht hatte. Und solcher Zwang vertrug und verträgt sich nicht mit der Freiheit, die in Gottes Wort gründet. Das ist Luthers Grundgedanke. Mit ihm aber verbindet sich – auf der Basis dieses Grundgedankens, und nicht um ihn abzuschwächen oder zu ersetzen – der paulinische Gedanke der Rücksicht auf die im Glauben Schwächeren. Bei Paulus ging es damals um den Genuß von Götzenopferfleisch, worin er grundsätzlich kein Problem sah, da die Christen es nicht „als Götzenopferfleisch“ verzehrten. Doch konnte es sein – und so war es in der Tat -, daß gewissermaßen ängstliche Gemüter darin dennoch eine Verletzung sahen, weil sie die Unterscheidung, mit welcher Einstellung das Opferfleisch verzehrt wurde, nicht mitmachen konnten. Sie nahmen Anstoß. So ähnlich auch hier. Mit Rücksicht auf alle die, die an der Wittenberger Praxis der Abendmahlsfeier Anstoß nahmen – und das müssen viele gewesen sein; „die ganz Welt ärgert sich daran,“ sagt Luther in dieser Predigt -, mit Rücksicht auf sie also sollten die Wittenberger ihre Praxis bedenken, ob sie Nutzen oder Schaden bringe.

Noch einmal, mit letzterem ist Luther nicht einfach bei einer bloßen Nützlichkeitserwägung angekommen, sondern er argumentiert so auf der Basis der Freiheit, die durch Gott geschenkt wurde, die aber ihre Grenze an der Rücksichtnahme auf andere findet. „Deshalb,“ so schließt Luther seinen Gedankengang ab, „laßt davon ab,“ nämlich von der Zwangspraxis, das Abendmahl mit den Händen zu empfangen, „das bitte ich euch.“ Es fällt nebenbei auf, daß Luther mit seiner eigenen Betroffenheit, ja mit seiner Enttäuschung über die Wittenberger Praxis nicht hinter dem Berg hält. Er äußert sie so deutlich, daß man fast den Eindruck haben könnte, sein persönliches Motiv stehe in seiner Argumentation so im Vordergrund, daß der Verweis auf das Wort Gottes geradezu zum sekundären Motiv werde. Das aber träfe nicht zu.

Luther wendet sich in dieser 5. Predigt noch einem zweiten Problem zu, nämlich dem Empfang des Abendmahls unter beiderlei Gestalt. Und wieder geht es nicht um diesen Sachverhalt als solchen, sondern um den Zwangscharakter, mit dem diese Praxis in Wittenberg durchgeführt wurde; nicht gegen die Tatsache als solche, so verdeutlicht Luther: „Ich hörte es gerne, als es mir geschrieben wurde, daß einige hier angefangen hätten, das Sakrament in beiderlei Gestalt zu nehmen.“ Dann aber kommentiert er diesen Vorgang so: „Bei dem Brauch hättet ihr’s bleiben lassen sollen und nicht zu einer Ordnung gezwungen haben.“ Luther scheint befürchtet zu haben, daß diese erzwungene Praxis des Abendmahlsempfangs unter beiderlei Gestalt die Aufmerksamkeit der Empfänger mehr auf die Materie und nicht auf das Wesen des Abendmahles lenken würde. Als sei mit dem „materiellen“ Zugewinn – im Empfang unter beiderlei Gestalt – von selbst auch ein geistlicher Zugewinn gegeben. Das hätte ja immerhin sein können, doch befürchtet Luther, daß im Gegenteil mit dem Interesse am materiellen Gewinn der geistliche Zugewinn, der Heilsgewinn verschwinde. Nur so muß man sein deftiges, heutige Ohren kräftig strapazierendes Bild deuten, daß so gesehen wohl auch eine Sau ein Christ sein könnte, da sie mit ihrem großen Rüssel ja auch das Sakrament äußerlich aufnehmen könne.

Wieder also bewegt Luther im ganzen der Zwangscharakter der Praxis, die sich in Wittenberg breitgemacht hatte und die dem Verständnis der Feier mehr schaden als nützen konnte.

Was bleibt für uns heute angesichts dieser doppelten Problematik aus Luthers 5. Predigt? Ich denke, ihr Grundanliegen, nämlich die aus dem Wort Gottes gewonnene Freiheit des Christen, holt auch uns heute auf unsere Weise ein. Und zwar nicht mehr bezogen auf die Frage der Art und Weise des Empfangs des Abendmahls. Hier müßte man leider eher von der weithin praktizierten Freiheit von der Teilnahme am Abendmahl sprechen, eine Praxis, gegenüber der Martin Luther sicherlich deutliche Worte finden würde.

Nein, heute geht es eher um das neue Herantasten an die Grundüberzeugung, daß das Wort Gottes in der Tat einen Raum der Freiheit eröffnet, einen Lebensraum, in dem das Leben gelingen kann. Daß es nicht eine das Leben beengende, den Lebenswert mindernde Qualität besitzt. Nur wie an diese Überzeugung herankommen? Wie an sie heranführen? An eine Überzeugung im übrigen, die nicht als hehre, abstrakte, im Grunde lebensferne Theorie fein wattiert in fromme Tücher eingeschlagen wird? Als etwas – im schlechten Sinn – für den Sonntag und für die sonntägliche Anmutung nur? Nein, es geht anders herum um das Aufsuchen der je eigenen Lebensorte und Lebenserfahrungen und um die Frage, ob sich dort aus ihnen selbst – gewiß mit Hilfe und im Licht der tradierten Glaubensvorgaben, und nicht gegen sei – das Wissen oder die Ahnung einstellt, daß der Glaube und die Orientierung am Wort Gottes tatsächlich lebensbefreiend und lebensvergewissernd sein können. Vielleicht nehmen die einzelnen dabei aus ihrem Leben Gottesspuren auf, die sie nicht in herkömmliche Kirchensprache fassen, die aber gerade so ein Hinweis darauf sein können, daß Gott sich in ihrem Leben längst schon hat finden lassen. Diese vorsichtigen Spuren zur Geltung zu bringen, sie zu einem tragenden Element des Lebens der Gemeinden zu machen – vielleicht wäre das ein Weg. Ein langer, aber richtiger Weg, um zuletzt auch die Menschen von heute wieder an das heranzuführen, wovon die 5. Predigt Luthers handelte, an die Feier des Abendmahls.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Mainz
stefan.knobloch@kapuziner.org


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