Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Okuli, 14. März 2004
Predigt zu Luthers 3. Invokavit-Predigt, verfaßt von Walter Sparn

(zum Überblick)


Freiheit und Gewissen

( 1. Die Frage lautet nicht, ängstlich: Wie verbinden wir Freiheit und Ordnung, sondern, riskanter: Akzeptieren wir, dass Freiheit auf gewissen Handlungsfeldern die Ordnung Gottes für Christen ist? )

„Was Gott frei gemacht hat, das soll frei bleiben. Verbietet dir's aber jemand, wie es der Papst getan hat, der Antichrist, dem sollst du nicht folgen.“ Es scheint, liebe Gemeinde, dass Martin Luther in seiner dritten Invokavitpredigt nun doch nicht umhin kann, den Wittenberger Bilderstürmern im Grundsatz recht zu geben. „Was Gott frei gemacht hat, das soll frei bleiben“ – einem Verbot durch die kirchliche Obrigkeit muss ein Christ mit Ungehorsam begegnen. Der Antichrist ist da am Werk!

Um Himmels willen, muss man gleich vom Antichrist reden? Muss man gleich den Aufstand proben? Sollte man um des lieben Friedens willen sich nicht besser der kirchlichen Führung unterwerfen, die es doch gewiss gut mit ihren Schäflein meint und auch nicht dumm ist? Außerdem handelt es sich bei den Dingen, die frei sind, ja erklärtermaßen um weniger Wichtiges, nicht Entscheidendes – sonst gehörten sie nicht in die Gruppe „frei sein“, sondern in die Gruppe „müssen sein“, wie Luther das in der ersten Invokavitpredigt klar unterschieden hatte. Wie er auch in der dritten Invokavitpredigt wiederholt, dass es sich um solche Dinge handele, „die nicht notwendig sind, sondern von Gott frei gelassen, die man halten kann oder nicht, wie ehelich werden oder nicht, ob Mönche und Nonnen aus den Klöstern gehen sollen“ oder nicht.

„Frei gelassen “, das ist ein Wort, das man allerdings leicht missversteht, als sei das, was Gott uns frei lässt, für Gott gleichgültig. Nein, einen Gott, der sich desinteressiert abwendet, wenn er uns etwas überlassen hat, der war Luther unvorstellbar. Anders als manche antike Heiden und viele moderne Menschen, die sich Gott sehr weit entfernt von den irdischen Angelegenheiten vorstellen, als passiven Zuschauer. Man kann's verstehen, geht es doch hier auf Erden oft genug so böse zu, dass man nicht glauben mag, der liebe Gott mische da aktiv mit, und alles Missratene lieber der menschlichen Freiheit zurechnet. Und geht es hier nicht eben darum, dass Gott zwar manches direkt will, uns nämlich etwas gebietet oder verbietet, uns manches aber eben frei lässt, uns überlässt?

Ja, darum geht es Luther: Gott lässt uns Menschen Entscheidungen wie die zwischen Ehe und Ehelosigkeit oder zwischen klösterlichem und weltlichem Leben frei, er überlässt das uns. Aber er ist, der es uns überlässt, Gott lässt es uns frei. Schauen wir genau hin: Gott will diese Freiheit ebenso bestimmt wie die Handlungen, die er uns gebietet oder verbietet. Die von Gott für uns gewollte Freiheit ist keineswegs beliebig. Sie darf von Menschen nicht eingeschränkt oder aufgehoben werden. Verbieten Menschen etwas, was Gott frei gelassen hat, so ist das, wie Luther ausdrücklich sagt, „Unrecht, denn es ist gegen Gottes Ordnung.“ Gegen Gottes Ordnung ! Das ist nun das Gegenteil von Beliebigkeit: Dass wir auf manchen Feldern unseres Handelns entscheidungsfrei sind, genau dies ist Gottes Wille und Gottes Anordnung! Deshalb ist die Freiheit eines Christenmenschen, so paradox es klingt, Gottes Gebot .

In Wahrheit ist das überhaupt nicht paradox. Denn Freiheit kommt nicht von nichts. Freiheit kann man sich manchmal nehmen, manchmal erwirbt man sie in harter Arbeit, manchmal wird sie einem geschenkt. Wenn Gott sie schenkt, dann kann sie einem niemand wegnehmen außer mit Unrecht und Gewalt. „Ich meine“, sagt Luther, „ihr solltet's verstehn und kein Gebot aus der Freiheit machen.“ Kein Gebot aus der Freiheit machen – das ist die durch Gottes Gebot eingerichtete Ordnung unter uns Menschen. „Darum musst du eine Freiheit bleiben und nicht einen Zwang draus machen lassen ... Gott hat verordnet, ich solle frei sein.“

( 2. Die gebotene Freiheit in eigenen Entscheidungen auszuüben, erfordert unvertretbar das eigene Gewissen , ein beratenes und starkes Gewissen. )

Alles okay, alles super? Leider nein, liebe Gemeinde, jetzt fangen die Probleme erst recht an. Mit dieser von Gott gebotenen Freiheit eines Christenmenschen ist nämlich überhaupt nicht zu spaßen. Zwar kann uns diese Freiheit niemand wirklich rauben. Nicht einmal wir selbst, wir können uns allenfalls selbst betrügen und den „Narren“ spielen, wie Luther das dann nennt. In Wahrheit sind auch wir selbst sind nicht frei, die von Gott verordnete Freiheit wieder zurückgeben, um doch lieber ein Knecht ohne eigene Verantwortung zu bleiben. Wo Gott Entscheidungen uns überlässt, müssen wir uns auch entscheiden, da gibt es keine Ausflucht. Und schon gar nicht kann uns eine menschliche Autorität aus unserer Freiheit wieder ins Untertanendasein zurückholen. Niemand kann uns von unserem Freiheitsrisiko wieder entlasten und befreien.

Luther macht da nicht viel Federlesens: Du musst dich selbst orientieren und stärken für deine Entscheidung in den freien Dingen, und zwar du selbst für dich allein. „Es ist nicht genug, wenn du sagen wolltest: Der und der hat es getan, ich bin dem großen Haufen gefolgt...“ Was immer man tut, man muss es aufs eigene Gewissen nehmen.

Da ist es nun, diese letzte Instanz, das Gewissen . Luther hat dieses deutsche Wort in Gebrauch gebracht und geprägt weit über seinen lateinischen Vorläufer hinausgehend. Nicht nur in einmaligen Situationen des Bekenntnisses auf Tod und Leben ist es das Letzte, auf das wir uns berufen können, sondern auch auf dem täglichen Weg mit Gott und im Umgang mit den Nächsten kommt alles hierauf an: Kannst du in deinem Gewissen verantworten, was du glaubst und tust? Ist dein Gewissen stark genug?

Luther wird oft als der starke und unbeirrbare Gewissensheld dargestellt, dem nichts etwas anhaben konnte. Aber er war nicht so stiernackig, er wurde sein ganzes Leben lang bis zur Verzweiflung von schweren Anfechtungen gebeutelt. Und er hat auch von seinen Hörern am Dienstag nach Invokavit nicht verlangt, dass sie es besser können müssten. Er verlangte nur, dass sie nicht mehr und nichts anderes tun, als was sie im eigenen Gewissen tragen und verantworten können. Denen, die da gerne das Kloster verlassen und geheiratet hätten, weil der Luther es sagt oder weil alle es jetzt so machen, sagt er ganz kühl: Wer das tut, ohne das im eigenen Gewissen tragen zu können und gar ohne zu wissen, dass es sich um eine freie Entscheidung handelt, „das ist böse“. Nein, mein Lieber, kannst du dein Gelübde ohne große Beschwerung weiter halten, so halte es doch! „Wer es ohne Schaden tun kann und dem Nächsten zur Liebe eine Kappe oder Tonsur trägt als Mönch, zumal es dir an deinem Glauben nicht schadet, der tue es. Die Kappe erwürgt dich nicht, obschon du sie trägst“ – solange du nicht deinerseits ein allgemeines Gebot daraus machst. Und wer die Ehelosigkeit nicht bewahren kann, der sehe auf sein Gewissen. „Ist sein Herz und Gewissen so gestärkt, dass er bestehen kann mit gutem Gewissen, der nehme eine Frau und sie nehme einen Mann.“

Das ist ja klar genug. Klar genug ist aber auch, dass dieses letztinstanzliche Gewissen in keiner beneidenswerten Lage ist. „Achte darauf“, empfiehlt Luther denn auch, „dass du gerüstet und geharnischt bist, damit du vor Gott und der Welt bestehen kannst, wenn du angefochten würdest, besonders im Sterben vom Teufel ... Jedermann muss für sich stehen und gerüstet sein, mit dem Teufel zu streiten ...“ Und wie rüstet man sich da? „Du musst dich gründen auf einen starken, klaren Spruch der Schrift, mit dem du bestehen kannst. Wenn du den nicht hast, dann ist es nicht möglich, dass du bestehen kannst. Dann reißt dich der Teufel hinweg wie ein dürres Blatt.“

( 3. Warum es keine biblizistische Entlastung des Gewissens vom Risiko der Freiheit gibt .)

Ein starker, klarer Bibelspruch ist es also, was unser Gewissen entscheidungsstark macht. Oh, wie angenehm, dann muss das Gewissen letztlich doch nicht das Risiko der eigenen, selbst verantworteten Entscheidung tragen!? Das würde uns so passen...

Nein, auch Luther kann und will uns da nicht in eine freiwillige Knechtschaft unter Autoritäten zurückführen, und sei es die Knechtschaft von Bibelsprüchen. Schauen wir uns den „starken“ Spruch der Bibel an, den er hier anführt. Es ist 1. Timotheus 4,1, wo der Apostel prophezeit, dass in den letzten Zeiten Teufelslehrer auftreten werden, „die verbieten werden die Ehe und die Speisen, die Gott geschaffen hat“. Nun, dieser Spruch begründet mitnichten die Entscheidung eines Mönches oder einer Nonne, die Ehelosigkeit zu halten oder aber zu heiraten; er begründet mitnichten, ob ich heute faste oder aber nicht. Er begründet, dass man sich einem allgemeinen Verbot der Ehe oder des Essen widersetzen darf und muss, weil Gott die Ehe oder Speisen geschaffen hat. Dieser Bibelspruch begründet, und das ist nicht wenig, die Freiheit eines Christenmenschen im Umgang mit den Schöpfungsgütern.

So, und jetzt sind wir genau an der Stelle wieder, wo wir schon einmal waren: Zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit eines Christenmenschen gibt es keine Alternative – wir können uns vor dem Gebrauch der uns von Gott gebotenen Freiheit, wir können uns vor unserer Gewissensentscheidung und ihrem Risiko der Irrtums nicht drücken.

Denselben Befund ergeben auch die Bibelstellen, die Luther für ein anderes Beispiel der von Gott frei gelassen Dinge anführt, das er in seiner Predigt dann ausführlich behandelt. Es sind die gemalten, geschnitzten und gemeißelten Bilder von Christus, der Dreifaltigkeit und von den Heiligen, Maria vor allen, in und an den Kirchen; diese Bilder waren nun auch in Wittenberg den Bilderstürmern zum Opfer gefallen. Die Bilderstürmer beriefen sich auf den Zusatz zum Ersten Gebot, das die Verehrung anderer Götter verbietet: Du sollst dir kein Bild oder Gleichnis machen, weder der Dinge im Himmel noch der auf Erden oder im Wasser ... Bete sie nicht an und diene ihnen nicht (2.Mose 20,4f). Die Bilderstürmer isolieren den ersten Teil des Gebots: kein Bild!; die Bilderfreunde sagen: kein Anbetung von Bildern! Luther neigt zur letzteren Auffassung: Die Erzväter hätten doch Altäre gebaut, auf der Bundeslade, wo ja Gott angebetet werden wollte, seien zwei „Vögel“ (Cherubim!) angebracht gewesen (2. Mose 37,7ff), und auch Moses habe ein Bild aufgerichtet, die eherne Schlange (4. Mose 21,9). Nur wenn sie angebetet würden, als sei Gott oder die Gotteskraft da drin, wurden sie zerstört, wie vom König Hiskia (2. Kön. 18, 4).

Das ist eine gut evangelische Begründung: Bilder ja, Gnadenbilder nein. Wie alle äußerlichen Dinge können sie „dem Glauben keinen Schaden zufügen, nur das Herz darf nicht daran hängen, nicht darauf vertrauen.“ Trotzdem sagt Luther, dass er Bilder nicht mag und dass es besser wäre, wenn wir sie gar nicht hätten, denn Bilder sind an sich nichts und man tut Gott keinen Dienst damit, dass man sie aufrichtet. Außerdem entsteht an ihnen nur allzu leicht der Streit darüber, ob sie entweder nicht sein dürfen oder aber sein müssen . Luther erinnert dafür an den einstigen Bilderstreit zwischen dem Kaiser und dem Papst: „beide haben geirrt“. Obrigkeiten wollen klare Verhältnisse haben und definitiv regeln, was alle Schäflein zu tun haben – wo kämen wir den hin, wenn jeder sein eigenes Süppchen kochen wollte?! Nun, was ist falsch an dieser Haltung? Sie macht „aus der Freiheit ein ‚Müssen' ... Das kann Gott nicht leiden.“ Originalton Luther.

( 4. Warum das Gewissen mit gutem biblischem Grund seine Freiheit gebrauchen und entscheiden kann, was zu tun oder zu lassen gut ist .)

Luther selbst hält sich erstaunlich genau an das Verbot, aus der Freiheit ein Gebot zu machen. In dem Für und Wider die Bilder verzichtet er auf ihre generelle Abschaffung, weil er nicht weiß und nicht wissen kann, ob der Bilderfreund seine Bilder zugleich göttlich verehrt. So kühn will er nicht einmal den Papisten gegenüber sein, von denen er das durchaus annimmt. Aber: „Sie werden entgegnen: Bist du der Mann, der uns beschuldigen darf, wir hätten sie angebetet?“ Luther weiß: „Wir können sie nicht dahin bringen, dass sie das zugeben müssten.“ Es bleibt auch hier dabei, dass nicht schon äußerlich, sondern letztinstanzlich im Gewissen entschieden wird, was geschieht und was es bedeutet. Luther macht aus der Freiheit kein Gebot – auch nicht in der Absicht „sicher ist sicher“. Die wäre hier falsch am Platz. Gott mag das nicht leiden.

Eine biblizistische Beseitigung des Risikos der Freiheit eines Christenmenschen gibt es also nicht, die Frage: „Hält mein Gewissen stand?“, können wir nicht loswerden an einen Bibelspruch. Die Stärke des guten Gewissens eines Christenmenschen ruht nun aber nicht auf seiner menschlichen Entscheidungs- und Entschlusskraft, ist nichts rein Subjektives. Im Gegenteil! Es gibt für Luther auch ein objektives Kriterium der richtigen Entscheidung des Gewissens, des guten Gebrauchs unserer Freiheit. Und das erst ist die wirklich biblische Begründung unserer Verhaltens, es ist die Grundlage jeder evangelischen Ethik. Wir kennen es alle, seit Luther es in seiner berühmten Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ 1520 formuliert hat: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. Frei – im unbedingten, durch nichts Äußerliches zu bedingendes Gottvertrauen; dienstbar in der Liebe zum Nächsten, einer echten Liebe, die nicht mehr nach himmlischem Lohn zu schielen braucht.

Auch in seinen Invokavitpredigten richtet Luther den Dienst der Liebe zum Nächsten als einziges, aber immer geltendes Maß des Gebrauchs unserer christlichen Freiheit im gewissenhaften Tun und Lassen auf. Er begründet es mit den Evangeliumsgeschichten: mit Jesu Gebrauch des Doppelgebots der Liebe, mit Jesu Verhalten am Sabbat und mit den Gleichnissen Jesu wie dem vom barmherzigen Samariter. Diese biblische Begründung der Freiheitsregel des christlichen Gewissens ist uns seit der Reformation Luthers so völlig selbstverständlich, dass wir manche Aspekte davon leicht oder sogar gern übersehen. Zwei solcher Kennzeichen christlichen Freiheitsgebrauches macht Luther gerade in der Invokavitpredigt stark, mit der wir heute ins Gespräch getreten sind.

( 5. Was aus der Regel der christlichen Freiheit folgt: die Pluralität der gewissenhaften Entscheidungen; die Liebe bestimmt auch das Glaubenszeugnis .)

Das eine Kennzeichen christlichen Freiheitsgebrauchs ist deshalb wichtig, weil es uns zwar wohlvertraut ist, wir es aber gar nicht so gern sehen. Das ist die Pluralität der gewissenhaften Entscheidungen des Gewissens. Luther, der gerade dabei ist, das Kloster endgültig zu verlassen, sagt gleichwohl, ich wiederhole es: Wer im Gewissen stark genug ist und „dem Nächsten zuliebe eine Kappe oder Tonsur trägt als Mönch, ... der tue es.“ Klösterlich oder weltlich – beides ist möglich. Ehelos oder verheiratet – beides ist möglich, Fasten oder nicht – beides ist möglich, Bilder oder keine Bilder – beides ist möglich, beides ist eine Möglichkeit des christlich freien Gewissens.

Luthers Konkretionen christlicher Freiheit mögen uns nicht mehr aufregen. Aber verlängern wir diese Liste versuchsweise in unsere Zeit! Da merken wir schnell, das uns Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit dann doch lieber ist als Vielfalt und Unübersichtlichkeit! „Sicher ist sicher“, das ist auch in christlichen (Kern-)Gemeinden die große Tendenz. Dabei ist christlich frommes Leben vielmehr dadurch ausgezeichnet, dass es bei allen Christen dasselbe ist im Christusglauben, aber schon recht verschieden in den Formen des Christuszeugnisses und vollends unterschiedlich im Reichtum der vielen möglichen Lebensgestaltungen. Ein Christ überzeugt ja dann am meisten, wenn er oder sie eine ganz und gar individuelle Person geworden ist und nicht wie der große Haufe trottet, sondern ganz persönlich, eigenartig, ja eigen-sinnig den gemeinsamen, gewissenhaften Bezug auf Jesus Christus erkennen lässt. Gott sei Dank, es gibt sie, solche eigene Gestalten christlicher Freiheit! Nehmen wir Pluralität nicht länger als notwendiges Übel hin; betrachten wir, übrigens auch bei uns selbst, Individualität und Pluralität als wesentliches Kennzeichen der Freiheit von Christenmenschen – einer von Gott gebotenen Freiheit!

Das andere Kennzeichen der christlichen Freiheitsregel, das Luther in seiner Invokavitpredigt herausstellt, ist womöglich noch brisanter. Denn die Regel der Liebe ist für Luther so fundamental, dass sie nicht nur den Gebrauch dessen regeln soll, was frei gelassen ist, sondern auch den Umgang mit dem, was Gott direkt geboten oder verboten hat. Luther ist zum Beispiel überzeugt, dass die Winkelmessen, in denen der Priester die Verdienste der Heiligen gegen Bezahlung an Tote vermittelt, widerchristlich sind und abgeschafft werden müssen. Aber „man soll keinen an den Haaren davon weg- oder dazu hinziehen. Denn ich kann keinen zum Himmel treiben oder mit Knüppel hineinprügeln. Das ist deutlich genug. Ich meine, ihr habt es verstanden“, sagt Luther in Erinnerung an seine vorige Predigt. Haben wir es verstanden?

Auch bei der Bilderfrage sagt Luther, dass er niemand zum wahren Glauben zwingen, sondern nur predigen kann und Gott die Wirkung überlassen muss und auch ruhig überlassen darf. Wie Paulus in Athen mache er es auch: „Gegen die Abgötterei predigte er, aber er riss keinen mit Gewalt weg“ (Apg. 17,22). Nicht nur in den Dingen, die frei sind, sondern auch „in den Dingen, die da sein müssen und notwendig sind, nämlich an Christus glauben, handelt die Liebe dennoch so, dass sie nicht zwingt oder zu streng verfährt,“ so hatte er schon in der vorigen Predigt mit Hinweis auf Paulus in Athen betont. Beides gilt: Eine „lieblose Freiheit“, der die Geschwister gleichgültig sind und die im Gewissen Schwachen und Ängstlichen als Ärgernis ansieht und nicht als Herausforderung der Liebe, diese lieblose Freiheit widerspricht der christlichen Freiheitsregel. Und auch ein liebloses Rechthaben und Durchdrücken des Gebotenen und Notwendigen widerspricht der Basis dieser Freiheitsregel, dem Evangelium. Denn das Evangelium wird ungenötigt und willig angenommen – oder gar nicht. Selbst im Blick auf die glaubenswidrige Praxis der bisherigen Messe gilt: „Macht kein Gesetz, dringt auch nicht auf eine allgemeine Ordnung ... Derweil fällt das Wort tief in die Herzen und wirkt...“

Non vi, sed verbo , nicht mit Gewalt, sondern durchs Wort, das ist der wichtigste praktische Grundsatz der Reformation. Ist er in unseren Kirchen verwirklicht? Wo religiöse Autorität und politische Macht keineswegs völlig entkoppelt sind ... Am Ende unserer Invokavitpredigt sagt Luther wie am Tag zuvor, dass wir Christen wie die Apostel unbedingt das Recht zum Dienst der Verkündigung haben, niemals aber das Recht, ihren Erfolg mit Mitteln der Macht zu erstreben. Verhalten wir uns wirklich so? Freiheit und Gewissen – das ist in der verfassten Kirche ein doppelt heißes Eisen. „Ich meine, ihr solltet's verstehn und kein Gebot aus der Freiheit machen!“ So der Reformator in apostolischer Sukzession. Amen.

Prof. Dr. Walter Sparn, Erlangen
Walter.Sparn@t-online.de


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