Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reminiszere, 7. März 2004
Predigt zu Luthers 2. Invokavit-Predigt, verfaßt von Ulrich Braun

(zum Überblick)


Vom Irrtum der Zwangsmaßnahmen für die Freiheit

Meine lieben Freunde!

Mit der Freiheit ist es eine eigene und komplizierte Sache. Was nicht neu und womit es seit den Tagen der Reformation auch nicht eben leichter geworden ist. Man kann die Freiheit nicht einfach her zeigen oder sie im strengen Sinne beweisen. Man kann, wenn man einmal von ihr geschmeckt hat, auch nicht mehr von ihr schweigen und muss zugleich damit leben, dass sie sich nicht mit Zwangsmaßnahmen herstellen lässt.

Wir diskutieren heute darüber, ob und wann und wo muslimische Frauen Kopftücher sollen tragen dürfen oder ob und wann und wo gerade nicht. In dieser Debatte sind sie wieder alle versammelt, die großen Fragen; was die Freiheit sei, was man um ihretwillen zulassen und was zu ihrem Schutz unterbinden soll.

Zu der aktuellen Streitfrage eine Meinung zu haben, ist nicht schwer. Bei den Begründungen der beherzt bezogenen Positionen lauern jedoch die Probleme. Natürlich soll in Schulen keine religiöse Beeinflussung stattfinden – schon gar nicht durch Leute, die Frauen vorschreiben wollen, wie sie sich zu kleiden und bis zu welchem Grade sie sich zu verhüllen haben. Was aber, wenn eine Frau nun aus welchen Gründen auch immer – so weit man sehen kann aber aus einigermaßen freien Stücken – ein Kopftuch tragen möchte? Was, wenn sie es – und halten wir es noch so sehr für einen Irrtum – für ein Gebot Gottes hält, sich mittels Kopftuch, Schleier oder Burka symbolisch oder tatsächlich, ganz oder teilweise zu verhüllen?

Wie weit darf eine Gesellschaft, welche die Freiheit zu ihren Grundwerten zählt, in die individuelle Entscheidung und die religiöse Symbolsprache von Menschen eingreifen? Und wie hilfreich wird es sein, dem Zwang zur Verhüllung, der gestrengen Muslimen geboten erscheint, mit Regeln zu begegnen, die nun – ihrerseits verbindlich – solche Verhüllung verbieten? Die Freiheit ist schon ein eigenartiger Vogel. Sie kann ohne Schutz nicht sein. Und irgendwelchen Fundamentalisten wollen wir sie nicht ausliefern. Wo aber aus dem schützenden Zaun ein hemmendes Gatter wird, wird am Ende auch die Freiheit selber Schaden nehmen.

Wie sich die Bilder gleichen

In Wittenberg war einigen Vertretern der Reformation der Geduldsfaden gerissen. Mit guten Gründen. Seit nunmehr bald fünf Jahren war es öffentlich: der christliche Glaube sollte wahrhaft geistige und geistliche Religion sein. Die Gatter religiöser Regulierung ihren Schrecken verloren. Gepredigt wurde in der Sprache der Leute. Die deutsche Bibelübersetzung Martin Luthers war beinahe fertig. Der Gottesdienst sollte der persönlichen Erbauung und der Schärfung der Gewissen dienen, anstatt Sündenangst zu verbreiten und kleinkrämerisches Abstottern vermeintlicher Fegfeuerjahre zu behaupten. Jeder sollte beim Abendmahl jeder Brot und Wein empfangen. Mit dem Gott, von dem da die Rede war, konnte man über Mauern und geradewegs in die Freiheit springen.

Das alles hätte so schön sein können, wenn, ja wenn nicht allenthalben das Alte noch sichtbar und lebendig gewesen wäre. Noch immer gab es so genannte Winkelmessen, die als frommes Werk verstanden wurden und in denen der Priester gewissermaßen den Bestand der Welt dadurch garantierte, dass er mit dem Vollzug des Sühnopfers den Zorn Gottes zu besänftigen suchte. All das hatte sich tief in den Volksglauben eingewurzelt. Und der wurde durch die ungezählten Bilder von Höllenqual und Himmelreich genährt, die weiter in den Kirchen hingen. In den Tausenden von mehr oder weniger geschmackvollen Reliquien hatte der Aberglauben den Wurzelgrund, in den er sich krallte und aus dem er – verschämter zwar aber immer noch kräftig genug – neue Blüten trieb.

Es war an der Zeit, dem Übel an genau diese Wurzel zu gehen, Schluss zu machen mit Winkelmessen und Bildermagie. Das geistliche Christentum brauchte Luft zum Atmen. Nichts anderes hatte die Leute bewegt, die Messen gestört und Bilder zerschlagen und verbrannt hatten. Und genau diese Ausschreitungen nun hatten Martin Luther vorzeitig von der Wartburg zurück nach Wittenberg eilen lassen.

Uns, die wir den Bildersturm vorwiegend von seiner kunstgeschichtlichen Bilanz her lesen – neben unglaublichen Kitsch und Schund wurden eben auch unglaubliche Werte vernichtet –, will das Eingreifen Luthers sozusagen als das Mindeste erscheinen, was er zu tun hatte. Schließlich hatte er doch mehr als nur ein Scherflein dazu beigesteuert, die Gemüter derart zu erhitzen. Nun, da die Rollkommandos der Reformation losgelassen waren, da war es gewissermaßen seine Pflicht, ihnen Einhalt zu gebieten.

Aber nur, weil Luther dem verderblichen Treiben mit seinen Invokavit-Predigten Einhalt einen Schluss setzen wollte, müssen wir den Bilderstürmern nicht jegliches Verständnis versagen. Für einen, der unter der Macht der Bilder gelitten hat stellt sich die Sache freilich anders dar als unter dem Blickwinkel der Kunstgeschichte. Ist die gerade abgestreifte Gewaltherrschaft nur noch nahe genug, vergegenwärtigt sie sich noch immer in den Bildern und Gebräuchen. So wird mindestens verständlich, warum sich am Bild entlädt, was sich an der Sache aufgestaut hatte. Man denke nur an das Standbild Saddam Husseins vor einem Jahr in Bagdad. Es wäre doch ein putziger Gedanke, vor seiner Demontage erst einmal kunstgeschichtliche, handwerkliche und materialtechnische Expertisen eingeholt zu haben, um den Koloss dann in geregeltem Abtransport zu entfernen. Nein, der musste gleich weg, mittels Panzer und Abschleppseil. Und er musste nicht nur weg, sondern es musste sichtbar fallen und kaputt gemacht werden, so wie mit Symbolen der Macht nun einmal im Umsturz verfahren wird. Nach keinem anderen Motto verfuhren die Rollkommandos der Reformation: Macht kaputt, was euch kaputt macht.

Und Luther? Der hatte die Schwierigkeit, diejenigen nur zu gut zu kennen, die in den Rollkommandos wirkten. Es waren seine Leute, und ihre Gründe waren seine Gründe. Nur eben, dass Luther den Kindergehalt des von ihnen ausgeschütteten Badewassers nicht tolerieren wollte. Worin genau ihr Fehler bestand, dem gilt es noch einmal mit Bedacht und mit Verständnis nachzuspüren. Und Luthers Predigten lohnen schon deshalb die Lektüre, weil sie nicht einfach Gardinenpredigten an ungezogene Kinder sind, die, kaum dass man ihnen einmal den Rücken zuwendet, lauter Dummheiten machen.

Martin Luther nennt seine Hörer „meine lieben Freunde“. Er kanzelt nicht ab, nimmt aber auch nichts zurück, zetert nicht darüber, dass er das alles doch so nicht gemeint habe. In seiner zweiten Predigt am Montag nach Invokavit spricht er über den Glauben an Gott und über die Liebe zum Nächsten. Er spricht über das, was mit Notwendigkeit zum Glauben gehört, und dasjenige, was die Freiheit des Christenmenschen sein soll, darüber, was dieser Freiheit dient und was ihr schadet. Und notwendig zum Glauben und zur Freiheit gehört nun einmal die Liebe.

Martin Luther zeigt sich in seinen Predigten als Pädagoge. Es geht ihm nicht in erster Linie darum, Recht zu haben, sondern seine Hörerinnen und Hörer verstehen zu lassen, worauf es ankommt; nämlich darauf, das Erlebnis der von Gott geschenkten Freiheit nicht in Verruf zu bringen, sondern sie in Nachsicht und Liebe zum Nächsten sich bewähren zu lassen. Wer selbst das Gatter religiöser Regulierung übersprungen hat, soll acht geben, die neue Freiheit nicht zu missbrauchen. Wer sie gebraucht, um denjenigen, die noch nicht mit gesprungen sind, die Nächstenliebe aufzukündigen, der ist auf dem besten Wege, aus den gerade zerfallenen Gattern einen neuen Pferch zu zimmern.

Es mögen die Winkelmessen noch so falsch sein. Mindestens genau so falsch ist es, Priester und Gläubige an den Haaren daraus weg zu schleppen, ihnen die Bilder zu verbieten und zu zertrümmern, die sie – und sei es aus Kleinmut, Irrtum und Unglauben – doch für heilig halten.

Was daran falsch ist, beginnt Luther schon mit seiner Anrede zu zeigen: „Meine lieben Freunde!“ Freunde sind wir geworden, bedeutet Luther mit dem Ton seiner Rede, weil wir es so gerade nicht angefangen haben. Beinahe jeder von uns hat bis vor nicht allzu langer Zeit selber Messen gefeiert. Haben wir einander denn unter Androhung von Gewalt da heraus geschleppt? Doch wohl nicht. Sondern allein der Kraft des Wortes haben wir vertraut. Und sie hat uns weit gebracht. Sie hat Papst und Kaiser wanken lassen. Sie hat uns zu Kindern des Lichts und zu Freunden gemacht.

Natürlich hatte es in den Debatten auch manch lautes Wort gegeben. Gerade der gute Doctor Martinus war nicht eben für seine Leisetreterei berühmt. Aber das Wort hatte doch Manches geleistet. Es hatte offen und im Stillen bei jedem einzelnen gewirkt. Es hatte einem jeden seinen eigenen Rhythmus und hatte ihm auch im Streit seine Würde gelassen. Und es hatte sie doch wohl tiefer berührt als jede äußere Gewalt es je vermag: tief im Grund des eigenen Herzens.

Es gibt also keinen Grund, dieser Macht des Wortes das Vertrauen zu entziehen. Auch nicht in Bezug auf diejenigen, die sich noch immer an die Bilder, Messen und Opfer halten. Es gibt, Freunde, gute Gründe dafür, dass einem der Faden der Geduld einmal reißt. Aber es gibt noch bessere Gründe, die Grenze zur äußeren Gewalt deswegen nicht zu überschreiten, um nicht einzureißen, worauf es doch im Kern ankommt: auf die Liebe, an der wir einander erkennen und mit der wir anderen begegnen. Sie ebenso Teil der Freiheit wie das offene Wort, wie der Streit um den richtigen Weg und wie der Glaube an den gnädigen Gott. Und sie allein vermag, was Zwang und äußere Gewalt nie und nimmer erreichen: Menschenherzen zu gewinnen.

Im Geist der Liebe lassen sich ein paar gute Gründe gegen Zwangsmittel und für den Geist der Freiheit aufzählen: Erstens taktische: die Reformation ist aufs Ganze gesehen noch ein ziemlich zartes Pflänzchen. Manche zögern noch, sich ihr anzuschließen, andere sind mächtige Widersachern. Erstere sollten nicht abgeschreckt werden, Letztere sollten nicht Gelegenheit erhalten, der Reformation Schlechtes nachzusagen.

Zweitens gibt es inhaltliche Gründe: Wer die Sache der Freiheit betreibt, wird eine natürlich Vorsicht in Bezug auf zwangsmittel walten lassen. Sie einzusetzen würde die Sache der Freiheit selbst ganz verdunkeln. Der Teufel würde sich fein die Hände reiben, könnte er sehen, wie schlecht da eine gute Sache vertreten wird. Er, der selbst der Fürst der Unfreiheit ist, könnte sich bequem zurück lehnen und zusehen wie die Kinder des Lichts mit den Mitteln der Finsternis kämpften. Damit würden sie am Ende doch nur sein Geschäft betreiben und ihm in die Hände spielen.

Und darüber, dass sie ihm in die Hände spielten, könne nun einmal kein Zweifel sein. Wer die Ohnmacht der Winkelmessen, des Reliquienwesens, der Heiligenbilder und der religiösen Verordnungen erkannt habe, der sei doch gerade frei von ihren Zwängen. Wer aber auf sie einschlägt, befindet sich ganz offenkundig in einem erbitterten Machtkampf mit ihnen. Wer aber den Machtkampf eingeht, der erkennt – und wenn er es tausendmal vermeiden möchte – doch eine Macht der Bilder an. Wer sich aber vor der Macht der Bilder fürchtet, der ist noch nicht recht frei geworden.

Freiheit und Liebe

Martin Luther bestreitet nicht, dass das Vorgehen der Rollkommandos organisationsstrategische Erfolge zeitigen kann. Tatsächlich werden damit die Zeichen einer neuen Zeit aufgerichtet. Es fragt sich nur, was die unter diesen Bedingungen wert sind.

So klingt bei Luther die Probe aufs Exempel: „Wenn ich nun dreinfahre und wollte es auf Gewalt anlegen, so gibt es viele, die darauf eingehen müssen und nicht wissen, wie sie damit dran sind, ob es Recht oder Unrecht sei. Sie sprechen: Ich weiß nicht, ob es Recht oder Unrecht ist, weiß nicht, wie ich dran sei; ich habe der Allgemeinheit und der Gewalt folgen müssen.“ Mit anderen Worten: Menschen werden aus Angst und Bequemlichkeit, im äußersten Fall aus schierem Selbsterhaltungstrieb, tun, wozu sie gezwungen werden. Wer sie aber zwingt, hat der Freiheit einen Bärendienst erwiesen. Mit wieder andern Worten: Mit unsrer macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.

Der Bildersturm und die Störung der Messen werden denen, die die Bilder verehren, keinen Geschmack auf die Freiheit des Glaubens machen. Ihnen aber mit Liebe und nachsucht zu begegnen, gibt der eigentümlichen macht des Wortes Raum. Die Zögernden, die Sicherheit in Bildern und Messopfern suchen, können so selbst einen Geschmack der Freiheit bekommen. Was nicht heißt, ihnen nicht deutlich zu sagen, was man von Bildmagie und Messopfer hält.

Luther musste das Kunststück vollbringen, Stellung gegen den Bildersturm zu beziehen ohne zurück zu rudern, ohne den Seinen die Freundschaft aufzukündigen und ohne mit eigenen neuen Vorschriften seinerseits Schatten auf die Sache der Freiheit zu werfen. Gemeinsam müssen die Freunde nun das Kunststück vollbringen, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, was sie von Bildermagie und Messopfer halten, zugleich aber denen, die davon bislang nicht lassen mit Geduld und Liebe zu begegnen. Aber es hatte ja auch niemand behauptet, dass die Freiheit eine leichte Sache sein würde.

In der Predigt am Montag nach dem Invokavit-Sonntag versucht Martin Luther das Kunststück, nicht selbst in die Falle der Satzungen, Regeln und Besserwisserei zu tappen. Liebe und Geduld lassen sich ebenso wenig verordnen wie die Freiheit. Es ist vielmehr der innere Zusammenhang der Liebe und der Freiheit: Weil wir die Machtlosigkeit der Satzungen, Bilder und Messopfer erkannt haben, gerade deshalb können wir in aller Geduld und Vergnügtheit warten, bis sie in sich selbst zusammenfallen. Mit den Mitteln unserer macht, mit Dreinschlagen ist da nichts getan.

Hilflose Freiheit?

Mit der Freiheit ist es eine eigene und komplizierte Sache. Und es wollte es so scheinen, als könnte man für sie so gar nichts tun, wäre das nun auch wieder nicht ganz richtig ist. Der Verzicht auf Zwang ist zwar zunächst nur ein Unterlassen. Aber eben eines, das sich mit Notwendigkeit aus der Freiheit selbst ergibt. Aus der Einsicht nämlich, dass in der Freiheit eben – man möchte es bedauern oder nicht – eben auch Raum für den Irrtum sein muss. Wer aber aufhört, die letzten Dinge durch religiöse und andere Regeln absichern zu wollen, hat mehr für die Freiheit getan, als Rollkommandos je ausrichten können.

Allein das Unterlassen kann, wenn man den Furor der Bilderstürmer bedenkt, schon eine höchst anstrengende Tätigkeit sein. Zumal ein weiteres, höchst anspruchsvolles Element hinzu treten muss. In der Freiheit auch dem Irrtum Raum zu gewähren heißt eben nicht, den Irrtum gewähren zu lassen. Es bleibt ja doch Irrtum, Gott durch Opfer zu besänftigen und das Leben durch fromme Übungen sichern zu wollen.

Es bleibt falsch, wenn Männer und Frauen durch Bekleidungs- und Verhüllungsregeln unterschieden werden. Es darf keineswegs dazu geschwiegen werden, wenn durch vermeintliche Gottesregeln ihr öffentliches Auftreten reglementiert wird, wenn Mädchen in ihrem Selbstbestimmungsrecht behindert werden.

Neben den Irrtümern, die im weitesten Sinne auch noch der Folklore, jedenfalls den sozialen Regeln einer Kultur, zugerechnet werden können, gibt es auch solche, die nun überhaupt nicht zu ertragen sind: wenn etwa jemand gar der Wert eines Menschenlebens nach seiner Volks- oder Religionszugehörigkeit bemisst. Hier darf nicht geschwiegen und hier muss in der Tat gehandelt werden. Wie hilfreich dabei Panzer und Raketen sind – und kämen sie auch unter dem Titel „enduring freedom“ – mag jeder selbst ermessen.

Schluss

Was also tun? Nachdenken, predigen, in die Debatte eingreifen und mit aller Leidenschaft für seine Sache eintreten. An die Güte Gottes glauben und daran, dass Menschenherzen gewonnen werden können. Und das wahrscheinlich umso mehr, je weniger die Zugänge dazu durch neue Regeln verrammelt werden, die den alten doch wieder zum Verwechseln ähnlich sind.

Wir diskutieren heute darüber, ob und wann und wo muslimische Frauen Kopftücher sollen tragen dürfen oder ob und wann und wo gerade nicht. In dieser Debatte sind sie wieder alle versammelt, die großen Fragen; was die Freiheit sei, was man um ihretwillen zulassen und was zu ihrem Schutz unterbinden soll.

Diese Fragen zu lösen, das wird das Kunststück sein, das wir vollbringen müssen. Wir werden Position beziehen müssen, und es wird vermutlich nicht abgehen, ohne sich auf einen gewissen Regelrahmen zu einigen. Entscheidend wird am Ende sein, ob unsere Regeln das leisten, was zu einem guten Zusammenleben nötig ist, ob sie die individuellen Entscheidungen von Menschen achten und die Freiheit der Vielen schützen. Geduld und Liebe wird nötig sein und Unterscheidungsfähigkeit.

Es tut niemandem etwas Böses, wenn eine Muslimin ein Kopftuch tragen möchte, man mag ihren Glauben teilen oder nicht. Schwierig wird es, wo ein äußeres Zeichen wie das Kopftuch für verbindlich gehalten und erklärt werden soll. Noch schwieriger, wo der Wert eines Menschen nach seinem Geschlecht, seiner Volks- oder Religionszugehörigkeit bemessen wird. Es wird viel Geduld und Liebe nötig sein, die Kunststücke zu vollbringen, die von uns gefordert werden.

Es wird am Ende nicht unser Ziel sein, uns mit der Reglementierung von Zeichen zu begnügen. Diejenigen, die die Kopftücher und Schleier tragen, und diejenigen, die sie verordnen, sollen doch nicht andere zwingen dürfen. Das ist klar. Die Freiheit derer, die sonst unter einen Zwang geraten, müssen wir schützen. Ganz ohne Regeln wird das nicht gehen. Aber zugleich sollen diejenigen, die den Schleier tragen oder verordnen wollen, doch Schwestern und Brüder sein und am Ende Freunde werden können, die selbst die Freiheit schmecken. Übrigens: wer einmal die Freiheit von den Bildern und Opfern und Menschensatzungen geschmeckt hat, wird daraus auch zur Unterscheidung der Zeichen befähigt: Es gibt religiöse Zeichen der Freiheit und solche der Unfreiheit.

Zeichen der Freiheit sind die Liebe und die Geduld. Zeichen der Freiheit ist die Einsicht, dass Mächte und Gewalten nicht vermögen, was doch das Wort der Freiheit kann: Menschenherzen wenden.

Meine lieben Freunde! Wenig spricht dafür, dass wir den Streit um Bilder, Kopftücher und die Freiheit schon recht bald werden beilegen können. Wir werden uns gleichermaßen vor Blauäugigkeit, Eiferertum, Kleinmut und Lieblosigkeit hüten müssen; denn die Freiheit ist eine empfindliche Sache, die ohne Schutz nicht sein kann. Was wir zu ihrem Schutz verbieten, was um ihretwillen zulassen wollen, das will erst noch erstritten sein. Da wird noch manches Kunststück von uns verlangt. Es sage niemand, dass es mit Freiheit eine leichte Sache sei. Doch einen lohnenderen Grund kann niemand legen als den Grund der Freiheit selbst. Der hat die Macht der äußeren Zeichen und Bilder schon gebrochen und kann, was Menschen und Mächte nimmermehr vermögen: bis in die Herzen von Menschen reichen. Lasst uns Zeichen der Freiheit setzen und damit Gott befohlen sein.

Amen

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
eMail: ulrich.braun@nikolausberg.de


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