Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reminiszere, 7. März 2004
Predigt zu Luthers 2. Invokavit-Predigt, verfaßt von Ulrich Haag

(zum Überblick)


Die folgende Predigt ist für das Lesen mit verteilten Rollen vorgesehen. Es sind mindestens zwei Sprecher erforderlich.
Die Predigt zitiert Teile aus der Originalpredigt „Am Montag nach Invocavit“ von Martin Luther wortgetreu – inklusive der widerspenstigen und zum Teil uneinheitlichen Schreibweise - nach der Weimarer Ausgabe von 1905 (unv.Neuabdr.1966), Band 10, Abt.III, Seiten 13-20. Man kann die Zitate in der ursprünglichen Sprache vortragen. Man kann sie in modernes Hochdeutsch bringen. Man kann sie gar nur sinngemäß und vereinfacht wiedergeben. Die Predigerin, der Prediger wird selbst entscheiden, ob und welche homiletischen Vorarbeiten die Situation, in der die Predigt zu Gehör gebracht werden soll, noch erfordert.

Sprecher 1:
Reminiscere, so lautet der Name des heutigen Sonntags: „Gedenke!“
Dieser Ruf stammt aus dem 25.Psam: Gedenke, Herr an deine Barmherzigkeit und an deine Güte.
Auch wir wollen heute morgen gedenken. Uns ein Ereignis vergegenwärtigen, das grob gerechnet 500 Jahre zurückliegt.
Ein kleiner Mönch namens Martin Luther hatte es gewagt, sich gegen die Ideologien und religiösen Betriebslügen einer Maschinerie zu stellen, die halb Europa im Griff hielt: Des heiligen römischen Reiches und seiner Kirche.
Die Folge waren nichtöffentliche und öffentliche Verhöre vor kirchlichen Stellen, am Ende gar ein Verhör vor der höchsten Instanz des Reiches, dem Reichtsag in Worms.
Der Mann aus Wittenberg ließ sich nicht einschüchtern. So wurde er schließlich mit der Reichsacht belegt, was einem Todesurteil gleichkam. Um ihn und vielleicht auch die eigene Herrschaft zu schützen, zog ihn sein Landesherr, der Kurfürst Friedrich für einige Monate aus dem Verkehr. Doch während Luther auf der Wartburg das neue Testament übersetzte, verbreiteten sich seine Ideen wie ein Lauffeuer. Überall in Deutschland schossen Reformbewegungen aus dem Boden, die zunächst auf religiöse, dann aber auch auf soziale Neuerungen zielten, auf eine gerechte Verteilung von Macht und Reichtum.

Sprecher 2:
Auch die Stimmung in Wittenberg, der kleinen Stadt im Fürstentum Sachsen war, wenn man so sagen will, vorrevolutionär. Aufgeregte Diskussionen, geharnischte Reden, heiße Köpfe, Forderungen und Resolutionen, - die Unruhe mag sich auf gleiche Weise geäußert haben, wie sie es heute tut. Man mußte doch endlich ernstmachen mit den Erkenntnissen Martin Luthers. Man mußte doch endlich umsetzen, was der eigene Glaube als richtig erkannt hatte! Allen voran die heilige Messe abschaffen, die der Reformator selbst als sündig und sonderbar gebrandmarkt hatte. Der neue Glaube wollte sich Ausdruck verleihen, und dazu brauchte er eine gottesdienstliche Feier, die seinen Überzeugungen nicht widersprach. Also weg mit der Messe, abgeschafft, die alten Zöpfe abgeschnitten ohne Wenn und Aber! Irgendwann mußte sich doch etwas bewegen!
Wie nahe sie uns sind, die Wittenberger Luther-Freunde. Und wie ungern sie die Worte ihres Vordenkers gehört haben werden. Der nämlich hatte am Sonntag Invokavit des Jahres 1522 die Wartburg verlassen, um die Stimmung zu dämpfen. An sieben aufeinanderfolgenden Tagen hielt er in der Stadtkirche zu Wittenberg seine später berühmt gewordenen Invokavit-Predigten. Wir wollen heute den Reformatoren mit der zweiten, der Montagspredigt, zu Wort kommen lassen. Ihn ins Gespräch bringen mit den Fragen, die seine Weggefährten damals gehabt haben mögen - und wir heute noch haben.

Sprecher 1:
„Lieben Freunde, Ir habt gestern gehört, … wie das gantze Christliche leben und Wesen sey gleuben und lieben.“ (S.13)
Die Liebe aber handelt so, „dass sie nicht zwinget noch allzu strenge feret“. (S.14)
Daß die Messe auf die bisherige Weise gehalten „sündlich ist“, und „sollten abgethan sein“ (S.14), das soll man „predigen, … schreiben und verkündigen…“, doch „niemand sol man mit den Haren davon reissen, sondern man soll es Gott heim geben und sein wort allen wircken lassen one unser zuthun oder wercke.“ (S.14)

Sprecher 2:
Ob es bei der Predigt in der Wittenberger Stadtkirche Zwischenrufe gegeben hat? Kaum anzunehmen, dass Luthers Weggefährten –scharfe und kritische Geister waren darunter - den Worten des Reformators ergeben gelauscht haben.

Gott walten lassen, schön und gut, lieber Martinus, doch hat er uns Hände gegeben, und was er hier auf Erden vollbringen will tut er nicht anders als durch Menschenhand. Auch hat er uns die Vernunft gegeben, die unsere Hände lenkt. Und das, was die Vernunft als die Wahrheit erkennt, muß der Mensch doch durch sein Handeln Gestalt werden lassen. Wie von Anfang an Adam und Eva, die den Auftrag erhalten haben, den Garten Gottes zu bebauen und zu bewahren, so sollen wir die Kirche und alles was zum Glauben gehört nach bestem Wissen pflegen, instand halten und wenn nötig umbauen.

Sprecher 1:
Es sind nicht in erster Linie Vernunft und Erkenntnis, die das menschliche Handeln leiten. Nach dem Willen Gottes und nach den Worten des Evangeliums ist es vielmehr die Liebe.
„Der Glaub ist gericht gegen Gott, die Liebe aber gegen dem Menschen un Nehsten.“ (S.13) Und die Liebe soll niemanden zwingen und in äußerlichen Dingen „nicht gestrenge faren und dieselbigen Messen mit gewalt abreissen.“ Denn wenn wir in den Fehler verfallen und den „missbrauch der Messen mit gewalt ablegen, so sind ir viel, die … wissen … nicht wie sie dran sind, obs recht oder unrecht sei. … und haben davon ein unruhiges Gewissen.“ (S.15)
„Die Liebe erfodderts, das du Mitleiden habst mit den Schwachen, bis sie auch im Glauben zunehmen und stercker werden.“ (S.17) Ich möge „auch für sie gebeten haben“ (S.18)

Sprecher 2:
Mit den Schwachen mitleiden, schön und gut.
Für sie beten auch.
Aber warum sollen die, die noch nicht so weit sind, über das Leben derer bestimmen, die sich schon längst von den falschen Überlieferungen der Vergangenheit gelöst haben?
Wenn man bei jeder Veränderung, bei jedem Schritt in die Zukunft auf die Fußkranken warten wollte, die Bedenkenträger und Zauderer, was würde sich dann überhaupt bewegen? Genügt es nicht, wenn eine Mehrheit den Entschluss fasst, neues zu wagen? Genügt manchmal nicht sogar eine qualifizierte, will sagen gebildete und interessierte Minderheit?

Sprecher 1:
„Was kann dirs schaden, wenn du mit … solch eussserlichen dingen gedult tregest, hastu doch deinen Glauben rein und starck zu Gott.“ (S.17)
Und: „Solange noch nicht aller Menschen „gemüt und hertz dabey sind, da las es Gott walten, da bitt ich dich umb, denn du richtest nichts guts an.“ (S.17) „Wenn nu aber darnach aller mut und sinn zusamen stimmet und … eins werden, so das keine Schwachheit mehr vorhanden ist, da thue man denn abe, was nicht recht ist.“ (S.17)
Dazu muß man aber zuerst „der Leute hertz“ fangen, „welches denn geschiet, wenn ich Gottes wort treibe, predige das Euangelion, verkünige …“ (S.16) „… denn mit dem wort nimet Gott das Hertz ein, wenn das Hertz eingenomen ist, so hastu den Menschen schon gewonnen“, und am Ende werden die Dinge fallen, die fallen sollen (S.16).
„Also wirckete Gott mit seinem wort mehr denn wenn du und ich und die gantze Welt alle gewalt auff einen hauffen schmeltzeten…“ (S.16)

Sprecher 2:
Gewalt lehnen wir auch ab, Martinus. Und doch ist es nötig, daß wir Verantwortung übernehmen und uns nicht scheuen, die Macht in beide Hände zu nehmen. Wer das tut, kann natürlich seinen Glauben nicht so rein bewahren, wie du es dir wünschst. Wer Verantwortung übernimmt, wird sich zwangsläufig die Hände schmutzig machen.

Sprecher 1:
„Mit … stürmen und gewalt werdet irs nicht hinausfüren, das werdet ir sehen.“ (S.17)
„Nemet ein Exempel an mir. Ich bin dem Bapst, dem Ablas und allen Papisten entgegen gestanden, Aber mit keiner gewalt, ..., sondern Gottes wort allein habe ich getrieben, ..., sonst hab ich nichts dazu getan.“ (S.18)
„Ich hab nichts gethan, das Wort hat es alles gehandelt und außgericht.“ … „Das hat, ..., wenn ich wittenbergisch bier mit meynem Philipo und Amßdorff getruncken hab, also vil gethan, das das Bapstum also schwach worden ist, das im noch nye keyn Fürst noch Keyser so vil abgebrochen hat.“ (S.18f)

Sprecher 2:
Vor dir, Martin, haben andere Reformatoren ebenso klar und deutlich das Wort geführt. Und die sind auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Es ist eine Ausnahmesituation der Geschichte, eine Fügung, daß das Wort ausgerechnet zu unserer Zeit so schnell durch alle Lande läuft. Vielleicht weil mans auf einfache Weise vervielfältigen kann indem mans mit Bleilettern druckt. Aber nicht lange, da werden sich Papst und Kaiser dieses Mediums bemächtigen und verbieten zu schreiben und zu drucken, was nicht ihrer Lehre entspricht. Dann kommt es wieder so, daß man ein freies Wort nirgends mehr wird wagen dürfen.
Nein: Wir müssen Verantwortung übernehmen. Wir müssen die Macht, die wir haben, nutzen und Fakten schaffen. Wenn wir es nicht tun, tun es andere und wir werden von der Geschichte überrollt.

„…Wo ir also verharret und euch nicht wollet lencken lassen, so wisset, das ich nicht will bei euch stehen.“ (S.17)
Sondern ich werde „alles, was ich geschrieben und gepredigt hab, widerruffen. (S.17)
Summa summarum … zwingen und dringen mit gewalt will ich niemand, denn der Glaub wil willig und ungenötiget sein und one zwang angenomen werden.

Sprecher 1:
Von da an gingen sie getrennte Wege, Martin Luther und die radikaleren Reformatoren, die später so genannten „Schwarmgeister“, Widertäufer, „Propheten“. Die meisten von ihnen hatten vor Augen, aus Kirche mit ihren Ideen und Fähigkeiten ein Reich Gottes zu bauen.

Auch für uns ist die Anfechtung groß, nicht allein auf Gottes Wort zu bauen.
Wie schwer fällt es uns, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Wie groß ist die Versuchung, Entscheidungen herbei zu führen, auf den Gang der Dinge einzuwirken, das Geschehen selbst in die Hand zu nehmen und in unserem Sinne zu beeinflussen.
Wenn die Diagnose auf Krebs lautet.
Wenn die Tochter mit zwölf in die Disco will.
Wenn zwei Menschen akzeptieren müssen, sie passen nicht zu einander.
Wenn im Betrieb einer den Hut nehmen muss, damit der andere bleiben kann:
Immer möchte ich das Gesetz des Handelns in Händen behalten.

Sprecher 2:
Denn ich möchte am Ende nicht von der Entwicklung überrollt werden. Keiner möchte ins Abseits geraten, auf der Seite der Verlierer stehen. Natürlich muß etwas geschehen. Aber wir möchten nicht, daß etwas an uns, mit uns geschieht. Was an uns und mit uns geschieht, möchten wir selbst entscheiden. Wir fürchten uns davor, daß andere Menschen oder Ereignisse „etwas mit uns machen“. Gar etwas, worunter wir zu leiden hätten.
Es ist die Angst vor dem Leiden. Die Angst davor, etwas hinnehmen zu müssen und zur Passivität, gar zur Passion verurteilt zu sein, die uns zur Aktion, zur Aktivität drängt.
Es ist die Bereitschaft zum Leiden, notfalls zum Martyrium, die Martin Luthers Glauben so fest, die seine Worte so furchtlos und wirkungsvoll macht.

Sprecher 1:
So fragt sich, wer damals eigentliche die Starken waren – und wer die Schwachen.
Die Zupackenden? Die mit durchaus guten Argumenten dem Lauf der Geschichte nachhelfen wolten?
Martin Luther jedenfalls hat in seinem Glauben, durch die Fähigkeit, die entscheidenden Dinge auf Gott hin loszulassen, ein spannendes, reiches, geradezu rasantes Leben führen können. Voller Aufgaben, übertragener Verantwortung und Erfüllung.
Ich sehe das mit Staunen.
Und wünsche mir und uns und bitte Gott, daß er uns dort, wo es darauf ankommt, auch etwas von diesem großen Vertrauen schenkt.
Amen.

Ulrich Haag, Aachen
haag@ekir.de


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