Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Buß- und Bettag, 17. November 2004
Predigt über
Römer 2, 1-11, verfaßt von Eberhard Busch
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1.
In einem Märchen wird erzählt von einem Streit zwischen Sturm und Sonnenschein über die Frage, wer von beiden der Stärkere ist. Sie machen ab, das durch den Nachweis festzustellen, wer von ihnen einen Wanderer dazu bringt, seinen Mantel auszuziehen. Zunächst blies und tobte der Sturm. Aber je energischer er all seine Kraft zusammennahm, desto mehr hüllte und wickelte sich der Mann in seinen Mantel. Dann zeigte die Sonne ihre Kunst: Sie strahlte still und heiter, so dass es dem Wanderer warm und wohl wurde, und er zog wie von selbst gern seinen Mantel aus, der ihm überflüssig geworden war. Ein Gleichnis dafür: "Weisst du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?" Der Mantel, in den sich der Mensch gleichsam verhüllt und verwickelt hat, muss ausgezogen werden. Der Mensch muss Buße tun - der heutige Bußtag stellt uns das vor Augen: Buße für seinen Mangel an Vertrauen zu Gott und am Gehorsam gegen dessen Willen. Aber der Mensch tut noch lange nicht, was er tun muss. Man kann an ihm schütteln und rütteln. Aber je mehr man es tut, desto mehr versteckt er sich hinter der Schutzschicht von immer neuen Ausreden. Diese Schicht schützt ihn nur vermeintlich. Aber sie ist doch so dick, dass er meint: er könne auch ohne Buße ganz gut leben.

Buße tun - das heisst, dass wir etwas ablegen: etwas, bei dem wir eigentlich heilfroh sein dürften, es endlich ablegen zu dürfen. Denn es ist nicht gut, und es tut uns nicht gut, dass wir damit bemüht, damit belastet sind. Und doch scheuen wir davor zurück, es abzugeben, was wir da tragen. Wir sind halt daran gewöhnt. Wir empfinden es als normal. Ja, wir pflegen es, als wäre es unser Liebstes: unsere Sünde, - mein Hängen an mir selbst, mein Kreisen um mich allein, mein Bauen auf meine Absichten. Wir wüssten nicht, dass es sich darin um unsere Sünde handelt, wenn es uns nicht gesagt wird. Wir wüssten nicht, dass das gar nicht zu uns gehört und dass wir das ablegen müssen, wenn es uns nicht abgenommen und weggenommen wird. Gott nimmt es uns ab und nimmt es uns weg. Er tut es als unsere aller Richter. Er ist der Richter, dem keiner entkommt. Und er ist der Richter, dessen Urteil fair ist. Sein Urteil stell klar, was wir wirklich wert sind. Er sieht, was wir falsch machen und dass wir selbst falsch sind. Er weiss, wieviel anderen wir damit schaden und wie sehr wir uns selbst damit schädigen. Er treibt uns damit an, Buße zu tun.

Doch können wir Buße tun? Können wir es, wenn wir fürchten müssen, vor diesem Richter alles zu verlieren und ganz zu vergehen? Können wir denn das dann tun? Ja, "aber weisst du denn nicht, dass Gottes Güte dich zur Buße leitet?" Der Genfer Reformator Johannes Calvin schrieb: "Gott zeigt uns durch seine Güte, dass wir uns zu ihm kehren müssen, wenn wir es gut haben wollen; und zugleich macht er uns dadurch Mut, auf seine Gnade zu hoffen." Wohl ist er unser Richter, der letzte Richter der ganzen Welt, - das dürfen wir keinen Augenblick vergessen. Aber gerade dieser Richter ist zugleich - nicht zuweilen zur Abwechslung, sondern zugleich! - der gütige Gott. Wer von ihm sein Urteil über ihn empfängt, der wird ihm dankbar sein. Denn wo er ist, da "begegnen einander Gnade und Treue und küssen sich Gerechtigkeit und Friede" (Ps. 85,11). Darum erwarten wir diesen unseren Richter nicht mit gesenktem Kopf, sondern sehen ihm "mit erhobenem Haupt" entgegen, wie es im Heidelberger Katechismus gesagt wird. Und darum ist die Buße im Grunde keine Bitterkeit, sondern echt Anlass, "fröhlich zu sein", wie es von der Umkehr des verlorenen Sohnes im Gleichnis Jesu heisst (Lk. 15,24). Nur wo ein Mensch in der wohltuenden Atmosphäre seines Angenommenseins lebt, wird er frei werden, seine Schuld zu bekennen.

2.
Ist es in dieser Atmosphäre nicht tatsächlich eine Unmöglichkeit, unbußfertig zu sein? Paulus weiss um die Realität dieser Unmöglichkeit und spricht daher von der "Verstocktheit" unter uns Menschen (V. 5), also von unserer Abstumpfung, in der wir nicht mehr wahrnehmen, was doch offensichtlich ist. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn wir Jesu Wort in der Bergpredigt anhören: "Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, des Balkens jedoch in deinem eigenen Auge wirst du nicht gewahr?" (Mt. 7,3). Und Paulus nimmt dasselbe ins Visier, wenn er schreibt: "Du kannst dich nicht entschuldigen, o Mensch, der du richtetst, wer du auch sein magst; denn indem du den andern richtest, verdammst du dich selbst" (V.1). Verstocktheit ist unser Festgelegtsein darauf, was immer wir sehen, jedenfalls das nicht zu sehen: unsere eigenen Fehler, unsere falsche Härte und unsere falsche Weichheit, unseren Hochmut und unsere Faulheit, unser ganzes Absehen von Gott. Haben wir nicht auch mit Bezug darauf zu beten, mit den Worten des einstigen Hallenser Apothekers Christian Friedrich Richter: "Gib gesunde Augen, die was taugen, Herr, rühre meine Augen an. Denn das ist die grösste Plage, wenn am Tage / man das Licht nicht sehen kann" - und in diesem Licht auch das, wie es mit uns selbst steht?!

Doch spitzt Paulus den Gedanken zu, indem er einen jeden und eine jede von uns anspricht als ein Wesen: "o Mensch, der du richtest" (V.1). Eben der Mensch, der seine eigene Sünde nicht sieht, der sieht sie in der Regel umso mehr bei anderen - bei gewissen anderen. Der zeigt wohl mit dem Finger auf sie, schüttelt den Kopf über sie, nein, viel lieber verurteilt er sie und kann zuweilen, nicht ohne heimliche Lust, sich enorm für die Fehltritte anderer interessieren, natürlich so, dass er sie nach aussen anklagt. Aber indem er von deren Vergehen redet, lenkt er ab von seinen eigenen Vergehen. Mehr noch: er braucht die Sünde der Anderen und deren Gebundenheit an sie, um auf diesem dunklen Hintergrund selbst umso strahlender zu erscheinen und um sich selbst eine reine Weste bescheinigen zu können. Gibt es nicht unter uns soviel Religiosität, soviel Frömmigkeit, die nach diesem Muster lebt?! Man hält sich selbst für längst "gerettet" oder doch in Ordnung, während die anderen, immer nur die anderen, noch der Buße und der Bekehrung bedürfen. So war es schon seiner Zeit, als die Frommen jene Ehebrecherin vor Jesus schleppten, unter Berufung auf das alte Gesetz, wonach sie deshalb zu steinigen sei.

Aber da durchbricht Jesus diese moralisch-religiöse Weltordnung von Bösen auf der anderen Seite und Guten auf der eigenen Seite. Er durchbricht sie, indem er aufdeckt: Die so denken, nach dem System solcher Weltordnung, die halten sich selbst nicht nur für gute Menschen. Die erheben sich damit zum Richter der Anderen. Die setzen sich damit - auch wenn sie es nicht so sagen - an die Stelle Gottes, und zwar an die Stelle eines falschen Gottes. Denn der wahre Gott ist kein gnadenloser Richter. Er ist der barmherzige Richter der Menschen. Sie aber sind in ihrer Unbarmherzigkeit falsche Richter, nicht nur der fälschlichen Amtsanmassung, sondern der Amtsverfälschung schuldig. Nach Calvin ist denen, die so denken, ernstlich zu sagen: "Du bist doppelt verdammlich, weil du deine eigenen Fehler bei anderen aufsuchst und anklagst." Wie ja schon Paulus sagt: "Indem du den andern richtest, verdammst du dich selbst" (V. 1). Der frühere deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann hat das anschaulich formuliert, als sich einst Entrüstung gegen rebellische Jugendliche breit machte: Wer jetzt mit seinen Fingern auf diese Leute zeigt, möge bedenken, dass dann drei seiner Finger auf ihn selbst zeigen. So sagte es ja Jesus zu den Guten, die die Ehebrecherin vor ihn gebracht hatten: "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein" (Joh. 8,7) - aber es fand sich niemand, der dazu berechtigt war.

3.
Erst wenn wir einmal das gelernt und beherzigt haben, werden wir begreifen, was Gottes Gnade ist: Gottes grosse Gnade, in der er, unser Richter, uns zusichert, dass wir in seiner guten Hand sind und für immer bleiben dürfen. Dass wir, wenn wir leben, von Gottes Gnade leben, das ist ein Satz, an dem man sich freilich auch reichlich ärgern kann. Wenn wir davon leben, allein und ganz und gar davon: von Gottes Gnade, dann scheint das, was wir tun und vollbringen, völlig gleichgültig zu sein. Dann sieht es so aus, als ob wir tun und lassen können, was wir nur wollen - es komme ja dann doch alles aufs selbe hinaus. So hat man es schon den Reformatoren entgegen gehalten: Das von ihnen verkündigte Evangelium, "die Gnade macht faule Leute." Doch nun enthält unser Bibeltext eine Ueberraschung für die, die derart denken. Es heisst dort von dem gerechten Gericht Gottes vielmehr, dass er "einem jeden vergelten wird nach seinen Werken" (V. 6). Es ist also gar nicht gleich, was wir tun oder zu tun unterlassen. Wir sind verantwortliche Wesen, zu deren Würde es gehört, dass wir zur Rechenschaft gezogen werden können.

Ja, aber wie verhält sich das nun zu der reinen Gnade Gottes? Wenn es durch sie eben nicht gleichgültig wird, was wir tun, was ist denn dann ein gutes Werk? - und was ein Mensch, der nicht "das Böse", sondern "der das Gute vollbringt" (V. 9f.)? Dieser Mensch wird ja vor allem nicht wieder zurückfallen in jene moralisch-religiöse Weltordnung, und das Gute, das er tut, wird also nicht darin bestehen, dass er sich von den anderen fernhält, die er für fragwürdige, ja, ungute und böse Mitmenschen hält. Das Gute, das er tut, wird in der Nachfolge des Jesus bestehen, über den die Anständigen seiner Zeit sich beklagten: "Er ist ein Freund der Zöllner und Sünder" (Mt. 11,19). Das Gute, das seine Nachfolger tun, wird vornehmlich darin bestehen, dass sie gerade nicht so tun, wie es die Saubermänner und Sauberfrauen zu tun pflegen - nämlich so, dass sie auf Distanz gehen oder in Deckung im Verhältnis zu den Gefallenen, den Gestrauchelten, zu den "Erniedrigten und Beleidigten" dieser Erde. Vielmehr werden sie in Solidarität mit ihnen leben, dankbar für Gottes Gnade, von der sie ebenso leben wie diese anderen, und froh darüber, dass Gott "seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte" (Mt. 5, 45).

In solcher Solidarität haben sie aber nun eine Aufgabe an denen, mit denen sie derart solidarisch sind. Sie haben mit ihnen umzugehen in der Gewissheit, dass die Gnade Gottes auch den anderen neben ihnen und um sie herum, auch den Fremden unter ihnen gilt. Dieselbe Gnade, auf die sie selbst angewiesen sind, sie ist das Licht, in dem sie auch diese Anderen zu sehen haben, mit denen sie solidarisch sind. Und da diese Anderen dieses Licht vielleicht noch nicht oder nicht mehr sehen, haben sie ihnen Mitteilung davon zu machen: in Wort und Tat, in Unterstützungen und in Widerständen, aber so, dass diese Mitteilung bei den Anderen ankommt: "Der Morgenstern bescheinet / auch deine Angst und Pein." Die Gnade macht wahrhaftig nicht faule Leute. Sie gibt in der Aufgabe solcher Mitteilung alle Hände voll zu tun. Und diese Aufgabe ist darum höchst dringlich, weil unter Absehung von jenem Morgenstern nur noch das bleibt: "Trübsal und Angst über alle Seelen der Menschen" (V. 9). Davor bewahre uns und alle der liebe Herr und Gott. Er mache uns tüchtig zu dem Guten, unseren Mitmenschen nah und fern ein Bote Gottes und seiner Güte zu sein. "Preis und Ehre Frieden" denen, die dazu bereit sind.

Prof. Dr. Eberhard Busch
ebusch@gwdg.de

 


(zurück zum Seitenanfang)