Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 14. November 2004
Predigt über
Römer 8, 18-25, verfaßt von Peter Wick
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Römerbrief 8,18-25: In welcher Zeit leben wir und was ist an der Zeit?

Röm 8,18 Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. 19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. 23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. 24 Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 25 Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Liebe Gemeinde,

in welcher Zeit leben wir? Nur selten gelingt es uns, die Zeit genau zu bestimmen, und wenn, dann eher noch in der bösen Zeit. Als vor 60 Jahren in Bochum die Bomben fielen, war dies für alle eine schreckliche Zeit. In welcher Zeit leben wir? Wissen wir Christinnen und Christen unsere Zeit? Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen (Jer 4,6-7). Für unsere Zugvögel wäre es tödlich, die Zeit falsch zu beurteilen. Wie beurteilen wir unsere Zeit? Der Prediger spricht in der Heiligen Schrift:

3:1 Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: 2 geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; 3 töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; 4 weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; 5 Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; 6 suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; 7 zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; 8 lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

Ein jegliches hat seine Zeit. Die unterschiedlichsten Handlungen können richtig und gut sein, wenn sie zur richtigen Zeit getan werden. Die richtige Handlung zur falschen Zeit kann verheerende Folgen haben. Derjenige Mensch ist ein weiser Mensch, der weiß, das richtige zur richtigen Zeit zu tun. Doch so einfach, wie dies klingt, ist es nicht. Wer hat vor 15 Jahren und 3 Monaten in Deutschland und in der westlichen Welt die Zeit richtig beurteilt und verkündet: Jetzt ist die Zeit gekommen, dass die Mauer bald fallen wird? Eine Zeit zum Freuen steht bevor? Kaum jemand konnte damals die Zeit richtig beurteilen.

Beklemmend und unheimlich ist es hingegen, wenn wir in der vergangenen Woche nicht nur 15 sondern auch 66 Jahre zurückgeschaut haben: Die Reichspogromnacht war nicht nur eine Nacht des Terrors und der Brutalität der Nazis gegenüber der jüdischen Bevölkerung, sondern war zugleich Auftakt und schreckliches Zeichen für die bevorstehende Zeit, in der maßloses Elend über Millionen von jüdischen Mitmenschen und nicht viel später über die deutsche Bevölkerung selber gekommen ist. Für uns ist diese Nacht rückblickend als Zeichen eindeutig. Doch damals erkannten wenige, was für eine Zeit mit diesem Zeichen bezeichnet wurde und wenige haben dann das dieser Zeit angemessene getan.

Alles hängt für uns davon ab, unsere Zeit richtig zu beurteilen. Doch es gibt keine Verheißung, dass es dem Menschen immer und automatisch gegeben wäre, seine Zeit zu wissen. Düster predigt der Prediger weiter: 9,12 Auch weiß der Mensch seine Zeit nicht, sondern wie die Fische gefangen werden mit dem verderblichen Netz und wie die Vögel mit dem Garn gefangen werden, so werden auch die Menschen verstrickt zur bösen Zeit, wenn sie plötzlich über sie fällt.

Liebe Gemeinde, im Römerbrief analysiert Paulus theologisch mit der Erkenntnis, die ihm gegeben ist, seine Zeit und damit auch die Zeit der Kirche. Er kommt zur folgenden Überzeugung über die Zeit, die uns Gläubige bestimmt:

Denn ich bin überzeugt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht eine vergleichbare Bedeutung haben zur Herrlichkeit, die daran ist, sich an uns zu offenbaren.

Paulus spricht von der jetzigen Zeit. Dies ist die Zeit, in der wir leben. Ein Kennzeichen dieser Zeit ist das Leiden. Doch Paulus spricht zugleich von einer anderen, zukünftigen Zeit. In dieser wird nur noch Herrlichkeit sein, Glanz, Licht und Schmuck. Diese Zeit findet in einem anderen Raum statt. Für die Gläubigen gibt es nicht nur eine Zeit. Sie glauben nicht, dass es bloß einen Zeitraum gibt für das Leben, sondern einen jetzigen und einen zukünftigen, der sich prinzipiell von jenem unterscheiden wird. In der Offenbarung wird diese kommende Zeit der Herrlichkeit ergreifend beschrieben: 21,3 Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und weiter: 22, 5 Und es wird keine Nacht mehr sein, und sie bedürfen keiner Leuchte und nicht des Lichts der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Für die meisten von uns, ist es wahrscheinlich schwierig, sich Raum und Zeit verdoppelt vorzustellen. Es fällt vielen nicht leicht, dass diese Zeit durch eine ganz andere Zeit abgelöst werden soll, die auch den Raum verändert. Ganz anders ist das bei der jüngeren Generation, die scheint mit solchen Vorstellungen keine Probleme zu kennen. Sie sind geübt darin, in Computerspielen Zeit und Räume virtuell zu wechseln, zu verlassen und zu betreten und haben schon manchen Film gesehen, in denen die Helden Zeitraumdimensionen wechseln.

Doch die Zeitanalyse des Paulus mutet den Christen noch mehr zu. Als Christen leben wir nicht nur in der jetzigen, vom Leiden mitgeprägten Zeit und hoffen auf die neue Zeit, sondern wir werden in der jetzigen Zeit schon von der zukünftigen Heilszeit mitbestimmt. Die Offenbarung der Herrlichkeit jener Zeit hat bereits in dieser Leidenszeit begonnen, und zwar „an uns“ schreibt der Apostel.

In welcher Zeit leben wir? Wir leben in sich überlappenden Zeiten. Leiden kann und muss uns noch prägen, doch die Enthüllung der Herrlichkeit Gottes ist bereits im Gang. So leben gerade die Gläubigen in einer großen Spannung. An ihnen zeichnet sich die neue Zeit Gottes in der alten Zeit des Leidens ab.

Was sich so kompliziert anhört, war eines der Geheimnisse der Ausbreitung des Christentums in der römischen Welt. An vielen Märtyrern haben Schaulustige und Gerichtsvollstrecker nicht nur Leiden gesehen, sondern gerade in deren grausamen Leiden noch etwas anderes, einen Schein von der Herrlichkeit Gottes. Auch viele von uns haben schon die Erfahrung gemacht, wie mitten in Leiden, Verzweiflung und Tod plötzlich Gott und sein Frieden spürbar wurde. Es ist ein besonderes Privileg eines Gemeindepfarrers öfters als andere schauen zu dürfen, wie sich mitten unter verzweifelten Menschen wieder Hoffnung breit macht, wie sich auf das von Krankheit verzehrte Gesicht eines Sterbenden der Friede Gottes legen kann. Wir leben hier auf Erden noch nicht in der neuen Zeit Gottes, sondern noch in der alten Zeit, doch die neue Zeit ist unter uns schon angebrochen. Schon hat Gott uns unsere Sünden durch Kreuz und Auferstehung seines Sohnes Jesus Christus vergeben. Noch sind wir vom Leiden und von unserem leiblichen Sterben nicht erlöst.

Liebe Gemeinde, lasst es uns wagen, uns bewusst in diese spannungsvolle Zeit hineinzustellen, in der wir leben. Es gibt heute viele verführende Angebote, die uns versprechen, spannungsloser in einer einzigen Zeit leben zu können. Die Täuschung hat sich breit gemacht, dass es nur eine Zeit geben soll, um darin zu leben, dass es nur ein Leben gibt, und zwar jetzt. Der postmoderne Mensch ist so gezwungen, alles aus der jetzigen Zeit herauszupumpen, nichts darf er verpassen, keine Erfolgsgelegenheit und keinen Fun. Jeder Tag, der diesem Leben im Alter noch abgerungen werden kann, muss unbedingt erkämpft werden. Viele beurteilen die Zeit so, als ob sie die Unsterblichkeit und Seeligkeit jetzt leben müssten. Unsterblichkeit auf Zeit hat jemand dieses Konzept genannt. Diejenigen, die dieses Ziel vermeintlich erreichen, werden stolz. Denn es ist ein Gott-loses Konzept, ein Zeitkonzept, dass ohne die Zeit Gottes auskommt und die eigene Vergänglichkeit verdrängt. Andere erreichen dieses Ziel nicht: Gegen alle Versprechungen der neuen Ökonomie und trotz ihrer harten Arbeit will sich die wirtschaftliche Heilszeit nicht einstellen. Leiden bleibt. Frustration, Verkrampfung und Resignation machen sich breit. Liebe Gemeinde, wenn wir unsere Zeit richtig kennen, dann werden wir im Leiden nicht resignieren müssen. Wir wissen: Vielleicht hätten wir es besser machen müssen, aber sogar wenn wir es ideal gemacht hätten, wäre uns Leiden nicht erspart geblieben, denn Leiden gehört zu dieser Zeit. Beurteilen wir die Zeit richtig, können wir uns gerade auch dort entkrampfen, wo es nicht gut geht.

Nun wagt Paulus einen kühnen Blick in die Schöpfung. Er wendet sich der ganzen Natur, den Tieren aber auch den Pflanzen zu. Paulus ist davon überzeugt, dass jeder Mensch durch die Betrachtung der Natur nicht nur etwas vom Glanz der Natur in ihrem paradiesischen Zustand ahnen kann, sondern auch in der Schöpfung die Kraft und die Gottheit Gottes erkennen kann. Er schreibt schon viel früher in diesem Brief:

Röm 1,20 Denn Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt, sodass sie keine Entschuldigung haben.

Betrachten wir einen jungen Hund: In seinen erwartungsvollen Augen, bei seiner spielerischen Streitlust, wenn er rennt und nicht müde wird, sich ins Wasser stürzt oder sich heißhungrig auf sein Fressen stürzt, dann sehen wir etwas von dem, was Schöpfung Gottes ist und auch davon, was dieser Gott für ein Wesen hat. Doch auch die Natur lebt nicht nur in der Schöpfungszeit, sondern zugleich in der Zeit der Vergänglichkeit. Wie schrecklich ist der Anblick, wenn die Vergänglichkeit schon nur an Tieren ihr Werk sichtbar tut. Wie unendlich traurig kann ein alter und kranker Hund dreinschauen, und doch ist in diesen Augen nicht nur matte Schicksalsergebenheit zu entdecken, - das wäre ja noch erträglich – sondern noch etwas anderes kann hintergründig scheinen, eine Kraft, die sich nicht einfach abfinden will mit Krankheit und Tod, eine Lebenssehnsucht und – wir wagen es mit Paulus zu ahnen – eine Hoffnung:

Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung erwartet die Offenbarung der Kinder Gottes. Denn die Schöpfung ist unterworfen der Nichtigkeit, nicht freiwillig, sondern durch denjenigen, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin.

So ist die gesamte Natur unter einer riesigen Spannung. Sie ist dem Kreislauf des Werdens und Vergehens unterworfen, aber sie kann doch diesen Kreislauf nicht blind akzeptieren. Sie kann sich diesem Zeitenlauf nicht fügen. Jedes Blatt, das in seiner schwindenden Farbenpracht vom Baum fällt, sagt eben nicht nur, es ist Zeit für mich, sondern lässt von einer Zeit träumen, wo das Leben des Todes nicht mehr zyklisch bedarf. Paulus suggeriert, dies sei eigentlich für alle Menschen erkennbar. Tatsächlich scheint das so zu sein, wie ein Blick auf Religionen lehrt, die an die Wiedergeburt glauben. Sie wollen einen Weg bieten, dieses Rad der Wiedergeburt zu durchbrechen. Der mit unendlichem Leiden verbundene Kreislauf von Leben und Tod darf nicht das letzte Wort haben. So nehmen auch sie das sehnsüchtige Harren der Natur auf etwas anderes wahr, das nicht mehr der Vergänglichkeit unterworfen ist. Die Vorstellung, dass Wiedergeburt etwas erstrebenswertes ist, auf das man hoffen kann, ist ein Produkt der westlichen Wohlstands- und Überflussgesellschaft, die nicht will, dass die jetzige Zeit vergeht, sondern die hofft, dass die jetzige Zeit immer wieder von neuem anfängt, um so alles nochmals und noch besser genießen zu können. Nein, die Schöpfung will nicht zyklisch wiedergeboren werden.

Denn auch die Schöpfung selbst wird befreit werden von der Sklaverei der Vergänglichkeit zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen liegt bis jetzt.

So lebt auch die ganze Schöpfung wie wir in einer vielschichtigen Zeit. Der ihr vom Schöpfer verliehene Glanz, die Lebenskraft und ihre Fruchtbarkeit leuchten immer noch, zugleich dominiert überall Tod und Vergänglichkeit. Eine dritte Kraft wirkt in ihr: Eine Sehnsucht, ein Harren, Geburtswehen und eine Hoffnung auf eine Zeit, in der Tod und Verderben nicht mehr wirken. Diese neue Zeit wird an den Gläubigen, an der Kirche schon jetzt offenbar. Dieses Geheimnis ist groß. Und doch gilt auch für uns:

23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, seufzen in uns selbst und erwarten die (sehnen uns nach der) Sohnschaft, die Erlösung unseres Leibes

In unserem Leib prallen die jetzige Zeit und die Zeit der Herrlichkeit aufeinander und durchdringen sich. Unser Leib ist das Bindeglied, die zentrale Instanz in unserer Zeit, der Zeit zwischen den Zeiten. Hätte Jesus Christus seinen Leib am Kreuz nicht für uns hingegeben, wäre es viel einfacher mit der Analyse unserer Zeit: Wir würden noch in unseren Sünden leben und wären ganz und gar der Vergänglichkeit verfallen. Weil Gottes Sohn von den Toten auferstanden ist, wurde alles noch komplizierter: Sein Heil umfasst auch die Leiblichkeit. Bei ihm wurde das schon an Ostern sichtbar, wir erwarten diese Erlösung noch für unseren vergänglichen Leib, ohne sie an uns zu sehen.

24 Denn wir sind gerettet in Hoffnung, eine Hoffnung aber, die sichtbar ist, ist keine Hoffnung. Denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? 25 Wenn wir aber hoffen auf das, was wir nicht sehen, so erwarten wir es in Geduld.

Liebe Gemeinde, ein jegliches hat seine Zeit! In welcher Zeit leben wir? Für was ist jetzt die Zeit? Es ist Zeit zu glauben, dass Gott uns unsere Schuld vergeben hat und uns als seine Kinder angenommen hat und liebt. Es ist Zeit, zu hoffen, dass Gott für uns nicht ein unfertiges Heil vorgesehen hat sondern, dass der Auferstandene auch unseren Leib vom Tod erlösen und heilen wird. Es ist Zeit, um in Geduld zu warten. Diese Zwischenzeit gibt uns Zeit für die Liebe gegenüber dem Nächsten. Hier gibt es so vieles zur richtigen Zeit zu tun. Amen.

Prof. Dr. Peter Wick, Ruhr Universität Bochum


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