Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 14. November 2004
Predigt über
Römer 8, 18-25, verfaßt von Friedrich-Otto Scharbau
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Liebe Gemeinde,

worauf warten wir? Die Frage ist doppeldeutig und richtet sich zunächst auf das, worauf wir warten, was uns in Anspruch nimmt, worauf wir uns einstellen. - Worauf warten wir? Das ist aber auch das ungeduldige Signal zum Aufbruch: Was hält uns auf? Wann geht es endlich los?

Das Ende Kirchenjahres mit seiner Erinnerung an Vergänglichkeit, Tod und Gericht lässt uns beides fragen: Worauf warten wir? Und: Was ist unsere zeitliche Perspektive? Anders gesagt: Wie geht es weiter jenseits der Melancholie von Werden und Vergehen? Was ist unsere Zukunft? Ist sie eine Fortschreibung dessen, was heute ist und gestern war? Oder ist unsere Zukunft gerade die Korrektur derartiger Fortschreibungen dadurch, dass wir unser Leben begreifen in der Gegenwart Gottes und es seiner Führung anvertrauen? Dass wir mit neuem Atem, mit neuer Perspektive und mit neuer Leidenschaft uns wiederfinden in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes? Fortschreibung der Gegenwart führt nicht aus der Vergänglichkeit heraus. Die Zukunft erschließt sich dem, der Gottes Verheißung traut.

Paulus beschreibt solche Verheißung: Dass die Herrlichkeit an uns offenbar werden soll. Er sagt nicht, was das ist: Herrlichkeit. Aber soviel ist doch klar: Sie hat etwas zu tun mit der Auferstehung des Gekreuzigten und wir sollen mit hineingenommen werden in diese Auferstehungsherrlichkeit.

Damit niemand ins Träumen kommt: Es ist ein harter Weg dahin und manchem vergeht die Lust an solcher Herrlichkeit. Darum stellt Paulus an den Anfang eine kühne These: dass die Leiden dieser Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der künftigen Herrlichkeit! Aber: Kann es das denn überhaupt geben, eine Herrlichkeit, angesichts derer unser Leid bedeutungslos ist? Nimmt, wer so redet, menschliches Leid eigentlich ernst und relativiert es nicht vielmehr zur Belanglosigkeit?

Dass also all die Lebenslast, an der wir oft so schwer zu tragen haben, nicht der Rede wert ist angesichts einer Herrlichkeit, auf die wir warten.

Wenn eine Ehe kaputtgeht und die junge Frau nun zusehen muss, wie sie klar kommt mit ihrem Leben und mit der Erziehung der Kinder; oder wenn die Persönlichkeit eines Menschen, mit dem ich Jahrzehnte meines Lebens geteilt habe, ganz allmählich verfällt, das Gedächtnis aussetzt, die Orientierung verloren geht; und die eigene Hilflosigkeit dem allen gegenüber – das wiegt doch schwer, das hat doch sein Gewicht jetzt und in diesem Augenblick. Und es lässt uns vielleicht sogar gerade, weil es so zerstörerisch ist, auf Erlösung warten, auf eine bessere Zeit, wenn das alles nicht mehr sein wird: Tränen und Leid und Schmerz. (Offbg 21, 3 f.) Ja, wir tragen in uns diese Hoffnung, dieses Warten auf Erlösung, auf eine Herrlichkeit eben, die keine Last mehr kennt. Aber wenn man mitten drinsteckt in den tausend Ausweglosigkeiten – hat man dann überhaupt ein Auge dafür und liegt anderes da nicht viel näher?

Wer wollte es wagen, den, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, damit zu trösten, dass das gar nicht so schwer wiegt angesichts einer Zukunftsverheißung, die allerdings jenseits unserer Zeit liegt? Menschen, die einen Angehörigen verloren haben bei einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall, bei einem Unglück wie damals bei Eschede, als der Zug mehr als 100 Menschen in den Tod riss, oder beim Untergang der Estonia, als 800 Menschen in der Ostsee ertranken, oder in den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, in den Konzentrationslagern, in Hungersnöten und Flutkatastrophen – soll man denen, die um verlorene Menschen trauern, sagen: Macht nichts, freu du dich der zukünftigen Herrlichkeit?

Paulus hat diese Art Leiden nicht gemeint. Er meinte das, was er erlitt im Dienst des Evangeliums, als Missionar, weil er Christus predigte. Es war sein Bekenntnis zu dem Gekreuzigten, das ihm Anteil gab am Leiden Christi. Und er wusste: Genauso würde er teilhaben an der Auferstehungsherrlichkeit.

Aber was Paulus sagt, gilt weit über seine besondere Leidenserfahrung hinaus: Dass wir überhaupt auf menschliches Leid eingehen und dass wir Menschen in ihrem Leid trösten können, hängt zusammen mit unserer Gewissheit oder jedenfalls der Ahnung, dass diese Zeit und ihr Verhängnis begrenzt sind und dass sie abgelöst werden durch eine neue Wirklichkeit, die in unserer Hoffnung gegenwärtig ist. Paulus nennt das die Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Alles, was ist und was war, wird in den Schatten stellt, in seiner Vorläufigkeit entlarvt, ein Traum womöglich zuerst nur, eine Vision, unbestimmt noch und ohne klare Konturen und Farben, aber trotz allem: Verheißung, Gottes Verheißung, und sie ist verbunden mit dem Namen Jesu Christi, ortsfest gemacht in dieser Welt durch sein Kreuz, verborgene Herrlichkeit, gewiss, aber darum nicht unwirklich, sondern dem Glauben bereits offenbar und darum gegenwärtig. Dass wir trösten können, dass wir Hoffnung wecken können, hängt zusammen damit, dass wir fest darauf vertrauen, dass es außer dieser Erfahrung von Leid und Schmerz und Tod eine andere Wirklichkeit gibt, die uns aufnimmt, in der wir geborgen und aufgehoben sind. Wo wir erkennen, was vorläufig ist und was Bestand hat, und wir warten auf das Beständige.

Wissen, worauf wir warten, das gibt unserem Leben Richtung und Ziel; und es gibt ihm die Kraft, aufzubrechen aus Müdigkeit und Depression und dem Ruf zu folgen, der in dem Geschehen von Kreuz und Auferstehung Jesu an uns ergangen ist. Heraus aus der Beschränkung durch Trauer und Schmerz und den Horizont entdecken, wenn der anbrechende Tag den Himmel freigibt. Loskommen von der Fixierung auf alles Mögliche und das Eine suchen, das unser Herz weit macht: Gottes Liebe, die stärker ist als der Tod. Das, worauf wir warten, ist mehr als das, worunter wir leiden.

Darauf kommt es also an: Hoffnung, die aus dem Glauben lebt, dass Jesus Christus von den Toten auferstanden ist, und im Glauben teilzuhaben an der Kraft, die daraus erwächst. Christen partizipieren im Glauben an der Dynamik der neuen Schöpfung Gottes in Jesus Christus. Nicht der Tod, sondern das Leben ist das Ziel der Wege Gottes, nicht Verfall, sondern ein neuer Leib, nicht Vergänglichkeit, sondern Herrlichkeit, nicht Unterwerfung unter die Eigengesetzlichkeit dieser Welt und ihre Zwänge, sondern die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. Glaube ist wie der Flug des Adlers: er steigt hoch auf und zieht seine Kreise zwischen Himmel und Erde und sein Blick auf die Erde ist der Blick vom Himmel herab. Der Glaube verändert die Blickrichtung, die Perspektive: Er sieht das Leben unter Gottes Verheißung. Also nicht auf gut Glück, sondern mit Gottes Ja: Ich will dich in Ewigkeit. Und darum, nur darum gilt der Satz: Dieser Zeit Leiden sind nichts angesichts der Herrlichkeit, der wir entgegen gehen und die wir im Glauben bereits berührt haben. Was für eine Aussicht für die Mühseligen und Beladenen (Mt 11, 28): Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. (Ps 126, 5)

In diese Bewegung hin zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes nimmt Paulus nun die ganze Schöpfung mit hinein. Ungewöhnlich: Kann denn die Kreatur hoffen und glauben und kann sie begreifen, worauf sie hofft? Aber darauf kommt es wohl gar nicht an. Sie ist, um es in der biblischen Tradition zu sagen, mit uns Menschen und um unseretwillen mit hineingezogen in die Vertreibung aus dem Paradies und hat mitzutragen an den Folgen menschlichen Ungehorsams gegen Gott. Nicht nur, dass wir die Schöpfung, die uns von Gott anvertraut wurde, über ihre Kraft ausbeuten und ihr Gesicht entstellen. Sondern sie ist auch unruhig in sich selbst, zerstörerisch, vernichtend: Die Stürme, die in diesem Jahr in ungeahnter Heftigkeit ganze Regionen verwüstet und viele Menschen das Leben gekostet haben, Erdbeben, die ihnen folgten. Die Schöpfung ächzt und stöhnt; sie seufzt und ängstet sich, wie Paulus sagt.

Und sie ist eingeschlossen in das Warten auf Erlösung. Weil sie mit unterworfen ist der Vergänglichkeit, ist sie auch mit eingeschlossen in das Warten auf Erlösung und sie wartet auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.

Auch das ein kühner Satz, eine Behauptung und ziemlich fremd, wo es doch eigentlich immer nur um das Verhältnis des Menschen zu Gott geht. Paulus sagt: Nehmt die Schöpfung mit, sie gehört zu euch. Wir sagen heute noch gezielter: Ihr seid selbst ein Stück der Schöpfung Gottes und könnt ohne sie nicht vor Gott treten. Weil der Umgang des Menschen mit der übrigen Schöpfung erst dann geheilt werden kann, wenn das Verhältnis des Menschen zu Gott geheilt ist, darum wartet die ganze Schöpfung mit ausgestrecktem Herzen auf die Befreiung der Kinder Gottes von der Knechtschaft der Vergänglichkeit.

Jesaja, der Prophet, beschreibt in einer Vision, in einem Bild, solchen umfassenden Frieden: Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter. (Jes 11, 6 ff.)

Gut, dass es solche Bilder gibt in unseren Herzen und dass sie immer wieder entstehen in unseren Köpfen. Weil sie deutlich machen: Nicht Selbstzerstörung ist das angesagte Ende dieser Welt, der katastrophale Untergang mit Pauken und Trompeten sozusagen. Sondern ihre Vollendung in einem Friedensreich, Rückkehr ins Paradies, wenn man so will, Leben in der Einheit mit Gott durch Christus. Das Land wird voll Erkenntnis des Herrn sein, wie Wasser das Meer bedeckt, sagt Jesaja, und Paulus spricht davon, dass die ganze Schöpfung frei werden wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit und sie wird mit uns die herrliche Freiheit der Kinder Gottes feiern.

Paulus war in seinen Vorstellungen und Erwartungen ganz davon bestimmt, dass die Wiederkunft Christi und damit die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes vor aller Welt unmittelbar bevorstand; wahrscheinlich hat er zu seinen Lebzeiten damit gerechnet. Das hat ihn in seiner Mission genau so geprägt wie in seiner Ethik und in seinen Vorstellungen von der Zukunft der Welt. Auch dass er das Seufzen und Stöhnen der Kreatur vernimmt, gehört dazu: Die Gestalt der Erde soll erneuert werden, (Ps 104, 30) und sie liegt jetzt da wie in Geburtswehen.

Auch Paulus selbst ist ergriffen von diesem Prozess der endzeitlichen Verwandlung. Die Leiden, von denen er spricht, sind Leiden um Christi willen in Erwartung seiner Erscheinung am Ende der Zeit. Das bestimmt seine Leidenschaft, sein Feuer: Der Herr kommt! Und alle Mühsal des Wartens auf ihn wird nebensächlich, weil das Ende absehbar geworden ist.

Und nun hören wir diesen Text ganz ohne Naherwartung; die Zeit steht nicht still, sondern sie scheint sich auszudehnen ins Unendliche, die Schöpfung ächzt und stöhnt wie eh und je und sie bleibt uns unterworfen, ausgebeutet und malträtiert, hier und da ein Reservat für bedrohte Arten, aber das bestätigt nur die beklagenswerte Situation.

Wo sollen wir hin mit unserer Hoffnung, mit unseren Erwartungen, mit unseren Visionen? Ein Nahziel, wie Paulus es vor Augen hatte, kennen wir ja nicht. Wohin sollen wir uns ausstrecken, unser Warten ausdehnen?

Hören wir noch einmal auf Paulus selbst: Er erzählt von seiner Hoffnung und davon, dass seine Hoffnung seinen Umgang mit der Gegenwart bestimmt. Weil er fest auf die Herrlichkeit setzt, die offenbar werden soll, kann er die Bedrängungen der Gegenwart hinter sich lassen, sie sind ohne Bedeutung.

Auf uns bezogen: Was sagen wir den Menschen heute? Stimmen wir ein in das allgemeine Klagen, das sich übrigens erstaunlich und auch erschreckend gleich geblieben ist, wenn man einige Lebensjahrzehnte überblickt – stimmen wir da mit ein wie in einen Abgesang auf eine Welt, in der zu leben sich nicht lohnt: weil die Politiker schlechte Politik machen, weil die Leute rücksichtslos und egoistisch geworden sind, weil mit der Globalisierung gewohnte und übersichtliche Lebensräume weggebrochen sind, weil unsere in Jahrhunderten gewachsene Kultur zerbröselt, weil die Welt und das Leben in ihr ohne Aussicht sind?

Oder haben wir eine Verheißung, eine Hoffnung für diese Welt und tragen sie in sie hinein? Weil nichts so heilsam und zukunftsträchtig ist wie die Hoffnung, die in mir lebendig ist. Es geht gar nicht um den Traum von einer besseren Welt – den wünsche ich manchen Leuten auch – es geht auch nicht um eine Art Selbsterlösung – obwohl ich mich manchmal frage, wo eigentlich wirkliche und ehrliche Anstrengungen wahrzunehmen sind, nicht Schaukämpfe (!), um Wege aus der Misere zu ebnen.

Ich glaube, dass letztlich immer jene Hoffnungen verheißungsvoll sind, die sich nicht in innerweltlichen Prognosen und optimistischem Selbstbewusstsein erschöpfen, sondern die uns zuwachsen aus unserem Glauben an Kreuz und Auferstehung Jesu – nicht einfach Gottvertrauen, sondern Vertrauen, das seinen Grund hat in dem Willen Gottes zum Leben: der Christus vom Tode erweckt und der uns in ihm das Leben versprochen hat. Dass wir nicht verzweifeln an dieser Welt und ihrer Unfähigkeit, ihre Probleme zu lösen. Sondern dass wir festhalten an der Verheißung der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.

Unser Leben steht unter Gottes Verheißung. Das ist entscheidend. Wir sind nicht ausgeliefert an die Zufälligkeiten und Unberechenbarkeiten eines namenlosen Schicksals. Wir haben eine Verheißung, einen Lebenshorizont, dessen Linie Gott gezogen hat Das muss gar nicht glanzvoll sein, ein Hoffnungsschimmer vielleicht am Anfang nur. Aber das ist der Dienst der Christen an der noch nicht erlösten Welt, dass wir in ihr Zeugnis geben von der Gewissheit, die in uns ist, von der Perspektive, der wir folgen. Wir müssen nicht die Augen verschließen vor den Leiden dieser Zeit, müssen sie nicht verdrängen aus unserem Bewusstsein. Aber dass wir auch Halt geben und dass wir sagen, was uns trägt. Wir haben doch diesen Schatz der Hoffnung auf eine neue Welt, wo Gerechtigkeit wohnt. Lasst uns den einsetzen gegen allen Kleinmut und alle Zukunftsangst. Wirklich schlimm ist es bestellt um eine Generation, in der keiner mehr eine Hoffnung beschreibt. Christen wissen in einer Welt voll vergänglicher Herrlichkeiten, die aufstrahlen und wieder verblassen: Die Herrlichkeit Gottes in Jesus Christus hat vielleicht wenig Glanz, aber sie bleibt. Und deshalb ist sie unsere Zukunft.

Amen

Friedrich-Otto Scharbau
F.O.Scharbau@t-online.de


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