Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7. November 2004
Predigt über
Römer 14,7-9, verfaßt von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

(1) Seit einiger Zeit hat in der Philosophie das Thema „Lebenskunst“ Konjunktur. Der Philosoph Wilhelm Schmid hat den Begriff Ende der 90er Jahre populär gemacht und auf 566 Seiten ausgebreitet, wie er sich eine Philosophie der Lebenskunst, der „ars vivendi“ vorstellt. Und weil Schmid Anhänger einer praktischen Philosophie ist, gibt seine Philosophie konkrete Ratschläge zum richtigen Leben. Auch den Fernsehmoderator Ulrich Wickert kann man zu den philosophischen Lebenskünstlern zählen. Immerhin hat er sich auf fast 800 Seiten über die Tugenden verbreitet. Auch Wickerts Tugendlehre ist ein Versuch, den Weg zum richtigen Leben zu zeigen.

Überhaupt sind Ratschläge jedweder Form derzeit sehr gefragt. Als Eltern wälzt man Erziehungsratgeber und fragt sich sorgenvoll, ob das Kind zur rechten Zeit den nächsten Entwicklungsschritt macht. Denn Erziehung ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr, Kindererziehung ist zum Projekt geworden, das der ständigen Optimierung und Beratung bedarf. Und ganz ähnlich verhält es sich mit dem Kranksein. Als moderner Patient wird man heute von Apotheken und von Ärzten mit ausführlicher Beratungsliteratur ausgestattet. Bei der Lektüre entdeckt man dann, was einem noch alles fehlt und welche Mittel gegen die verschiedenen Zipperlein helfen können. Zur modernen Lebenskunst gehört es auch, in angemessener Weise Patient zu sein und die eigenen Leiden aufmerksam wahrzunehmen und zu pflegen.

Dem Leben in unserer modernen Gesellschaft ist die Selbstverständlichkeit abhanden gekommen. Es stehen uns in unserem Alltag so viele Wahlmöglichkeiten und Optionen zur Verfügung, dass wir ständig Beratungsbedarf empfinden. Die Stiftung Warentest und eine breite Palette an Spezialzeitschriften bieten uns Hilfe in allen Lebenslagen an. Ob Autokauf oder Lebensversicherung, ob Ernährung oder Geldanlage – Hauptsache gut beraten! Das Leben verbringt man nicht mehr irgendwie. Das Leben muss heute gestaltet werden. Es stellt eine Aufgabe dar. Und die richtige Bewältigung dieser Aufgabe ist eine Kunst, die Lebenskunst.

(2) Das Thema „Lebenskunst“ hatte einst auch in der Antike Konjunktur. Die Dialoge Platons stecken voller Anweisungen zum richtigen Leben. Sie sind in bestem Sinne Beiträge zur Lebenskunst. Auch im Alten Testament finden sich Hinweise zur Lebenskunst. Die Sprüche Salomos und andere weisheitliche Bücher der Bibel geben Auskunft darüber, was zu jener Zeit als Anweisung zum richtigen Leben überzeugt hat. Im Sprüchebuch liest man zum Beispiel: „Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh an ihr Tun und lerne von ihr!“ (Sprüche 6,6) – Mussten Sie sich als Kind diesen Spruch gelegentlich auch anhören? – Im Neuen Testament hat sich neben Jesus vor allem der Apostel Paulus zum richtigen Leben Gedanken gemacht. Unser heutiger Predigttext aus dem Römerbrief ist solch ein apostolischer Beitrag zu einer Philosophie der Lebenskunst. Ich lese aus Römer 14 die Verse 7-9:

„Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

(3) Die Kunst zu leben und die Kunst zu sterben – für den Apostel hängt beides offenbar zusammen. Auch unser Psalm, den wir gemeinsam gebetet haben, stellt diese Verbindung her: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Psalm 90,12). Der Blick auf den eigenen Tod verleiht der Lebenskunst erst die angemessene Tiefe. Die Wahrnehmung der menschlichen Endlichkeit macht uns sensibel dafür, wie kostbar jede Minute unseres Lebens ist. Das Bewusstsein unserer Sterblichkeit führt uns vor Augen, wie begrenzt letztlich unsere Wahlmöglichkeiten sind. Der Tod als Grenze unseres Daseins gibt uns das Gefühl für die Bedeutsamkeit des Augenblicks. Unsere Lebenszeit ist das kostbarste Gut, das wir haben. Wie nachlässig gehen wir oft damit um? Wie viel Zeit verplempern wir mit sinnlosen Beschäftigungen? Der biblische Hinweis auf unsere Sterblichkeit kann uns lehren, die Prioritäten richtig zu setzen, damit wir uns nicht in der Zerstreuung und im täglichen Einerlei verlieren. Zur christlichen Lebenskunst gehört mithin, dass wir uns unserer Endlichkeit und Sterblichkeit, der Begrenztheit unserer Lebenszeit und unserer Lebensmöglichkeiten bewusst sind.

Doch nicht immer zeitigt der Gedanke an die eigene Endlichkeit sinnvolle Ergebnisse. Das Wissen um das Sterbenmüssen kann auch einen exzessiven Hunger nach Leben und nach möglichst intensiven Erlebnissen auslösen. Man eilt von Event zu Event, von Highlight zu Highlight, gejagt von der Angst, irgendwo irgendetwas Wichtiges zu verpassen. Der Soziologe Gerhard Schulze hat unsere Gesellschaft sehr treffend als eine „Erlebnisgesellschaft“ charakterisiert. Zur Erlebnisgesellschaft passt auch unsere ständige Erreichbarkeit. Das Handy in der Tasche gibt einem das Gefühl, immer am Leben dran zu sein. Nichts Wichtiges wird mir entgehen. Ich lebe in der ständigen Gegenwart, das ist aufregend und beruhigend zugleich. Und immer wieder fragt man sich, wie man eigentlich vor fünf Jahren ohne Handy gelebt hat?

(4) Stellen wir unserer modernen Lebenskunstphilosophie und unserer modernen Erlebniskultur nun die apostolische Anweisung zur Lebenskunst gegenüber: „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“

Sehr knapp ist diese Lehre des Apostels. Das fällt als erstes auf. Paulus benötigt nicht viele hundert Seiten, sondern drei Sätze um alles ihm Wesentliche zu sagen. Als zweites fällt auf, dass für Paulus der entscheidende Bezugspunkt des Lebens eines Christen außerhalb seiner selbst liegt. Das ganze Leben ist auf Christus als den Herrn des Lebens bezogen.

Das hört sich erst einmal ungewohnt an. Nicht dass alle in der modernen Gesellschaft selbstbezogene Egoisten wären. Aber es fällt uns jedenfalls in Deutschland schwer, uns als Teil von etwas Größerem und Umfassenderen zu beschreiben. Schon der Gedanke der Nation ist den Deutschen fremd geworden. Zu viel Schindluder haben die Nationalsozialisten damit getrieben. Wie viel schwerer fällt es da, sich bewusst als Teil der weltweiten Christenheit, der „civitas christiana“ zu begreifen. Dass manche Menschen wegen der Kirchensteuer aus der Kirche austreten, liegt ja in vielen Fällen nicht am Geiz, sondern an der Schwierigkeit von modernen Menschen, sich als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen, für die jeder seinen gerecht bemessenen Beitrag entrichtet. Als Bezahlung für die individuellen Dienstleistungen der Kirche ist die Kirchensteuer in ihrer derzeitigen Form kaum zu rechtfertigen. Sie ist nur dann sinnvoll und gerecht, wenn man sich als Christin oder Christ als Teil der weltumspannenden Christenheit versteht und für diese Christenheit den Beitrag leistet, der im Blick auf die eigene Leistungsfähigkeit gerecht ist.

Das ganze Leben und auch das Sterben eines Christen soll auf Christus bezogen sein. Nicht in mir selbst, sondern in Christus finde ich als Christin oder Christ meinen ruhenden Pol. Wenn man sich einmal über das Ungewohnte dieses Gedankens hinweggesetzt hat, dann wird deutlich, welch befreiende Kraft darin steckt. Denn das eigene „Ich“ oder „Selbst“ und die Innerlichkeit, auf die sich sonst viele meinen verlassen zu können, sind doch höchst labile Konstruktionen. Was ist schon das „Ich“, das ich bin, und das manchmal größenwahnsinnig stolz und manchmal grässlich verzagt ist, manchmal sicher und fest und dann wieder empfindsam und verletzlich wie eine Blüte im Frost. Mit meinem „Ich“ muss und will ich zwar leben, ich sollte mit ihm sogar befreundet sein, wie uns die Lebenskunstphilosophie nahe legt. Aber darauf mich gründen, darauf mich verlassen, gar an mich selbst zu glauben, wie manche Lebenstrainer heute empfehlen – das wäre doch reichlich vermessen und ziemlich töricht.

(5) Wie aber kann das aussehen, dem Herrn zu leben und zu sterben statt sich selbst? Das Leben für den Herrn hat zunächst einen ethischen Aspekt. Ein Leben in diesem Sinne ist ein Leben, in dem die Nächstenliebe Raum hat. Es ist ein bewusstes Leben in Beziehung, bei dem man bereit ist, den anderen wahrzunehmen in seinen Bedürfnissen und Nöten, in seiner Freude und seinem Glück. Leben für den Herrn ist ein solidarisches Leben mit den Mitmenschen. Es ist aber auch ein solidarisches Leben mit der natürlichen Umwelt. Albert Schweizer hat das so formuliert: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Ein Leben für den Herrn heißt sensibel zu sein für das Lebensrecht anderer Menschen und anderer Kreaturen. Das schließt auch das Lebensrecht der schwachen und kranken Menschen ein. Krankheit, Leid und Sterben gehören zum Leben dazu. Ein leidender Mensch verliert nicht seine Würde. Ihm beizustehen und nahe zu sein ist eine Form des Lebens für den Herrn.

Zu diesem ethischen Aspekt kommt nun aber noch ein spezifisch religiöser Aspekt hinzu. Das Leben für den Herrn ist auch ein bewusstes Leben in Bezug auf Gott. Wer Gott ist, das erkennen wir nach der christlichen Lehre an Jesus. Das Leben und die Worte Jesu sind für uns Christinnen und Christen die entscheidende Auskunft über Gott. Dass Gott Liebe ist und aus dieser Liebe die Welt und alles Leben, auch das unsere, geschaffen hat, dafür steht Jesus ein mit seinen Heilungen und Worten, mit seinen Gastmählern und Verheißungen.

Ich verdanke mein Leben und alles, was ich kann und habe, nicht mir selbst, sondern der göttlichen Liebe. Aus Gottes Liebe bin ich geboren. Mein Leben ist das große Geschenk Gottes an mich. Ich lebe dieses Leben in Verantwortung vor Gott und in der Gemeinschaft meiner Mitmenschen und Mitgeschöpfe. Und am Ende lege ich mein Leben zurück in Gottes Hand. Auch im Sterben bleibe ich in Gottes Liebe geborgen. Mein Leben bleibt ein Teil des göttlichen Lebens. Ich gehe nicht verloren, sondern bin aufgehoben bei Gott. – „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“

(6) Wie aber können wir diese Erkenntnis festhalten und für unser Leben und unsere Lebenskunst fruchtbar machen? Auch wir sind ja instabile Menschen, die gute Vorsätze und Gedanken allzu leicht wieder aufgeben und verlieren. Das Leben für den Herrn, die christliche Lebenskunst bedarf wie jede andere Lebenskunst auch der ständigen Erinnerung und Vergewisserung. Dazu ist zum einen der Gottesdienst gut, der uns an Jesus, an Gottes Liebe und unseren Auftrag erinnert. Genauso wichtig ist aber das Gebet. Es lohnt sich, mitten in der Unruhe unseres Lebens eine sichere Zeit der Besinnung zu suchen, morgens vor dem Aufstehen oder abends beim Zubettgehen oder wo auch immer es günstig ist. In dieser Zeit der Besinnung, im Gebet erinnern wir uns an Gott, dem wir unser Leben verdanken. Wir nehmen wahr, was wir an Liebe und Zuwendung erfahren. Wir klagen Gott, was uns schwer fällt und belastet. Beim Beten werden wir aufmerksam auf unsere Nächsten, auf ihre Sorgen und ihr Glück. Das tägliche Beten, die tägliche Zeit der Besinnung hilft uns, dass wir nicht im Einerlei und in der Hektik des modernen Alltags nur untergehen. Wir nehmen unser Leben in all seinen Bezügen, in seiner Endlichkeit und in seiner Schönheit bewusst wahr. In der Besinnung des Betens werden wir sensibel für unsere Mitmenschen, wir werden sensibel für die Liebe Gottes, die unser ganzes Leben vom Anfang bis zum Ende umfängt. Das Beten ist die tägliche Einübung in die christliche Lebenskunst. Im Gebet eignen wir uns an, was der Apostel lehrt: „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ – Amen.

PD Dr. Christoph Dinkel
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de


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