Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7. November 2004
Predigt über
Römer 14,7-9, verfaßt von Hans-Georg Babke
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Liebe Gemeinde!

Gott – das ist die alles bestimmende Wirklichkeit.
So lautet die allgemein anerkannte Definition dieses Begriffs.
Gott – die alles bestimmende Wirklichkeit.

Das ist auch die zentrale Botschaft des Apostels Paulus in den Versen des Römerbriefes, in denen es heißt (Röm. 14,7-9):
„Denn keiner von uns lebt für sich selbst, und keiner stirbt für sich selbst. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: ob wir leben oder sterben, gehören wir dem Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Gott – die alles bestimmende Wirklichkeit. Kein Lebensbereich, kein Bereich der Welt, in dem Gott nicht wirksam wäre. Kein Bereich, auf den er nicht Anspruch erheben würde, in dem seine Maßstäbe und Regeln nicht anzuwenden wären. Nicht einmal der Tod ist seinem Machtbereich entzogen. So lautet die Botschaft des Paulus. Aber nicht in theoretischer Absicht, nicht weil er eine Definition des Begriffs „Gott“ abliefern wollte. Sondern in praktischer Absicht. Einmal, um zu trösten. Nicht umsonst werden diese Worte häufig am Grab gesprochen. Weil sie die Trauernden gewiss machen wollen: Mit dem Tod ist eben nicht alles aus. Die Verstorbenen verschwinden nicht einfach ins Nichts. Vielmehr gibt es die Hoffnung auf eine lebendige Zukunft auch jenseits der Todesgrenze. Eine lebendige Zukunft in der Nähe und im Schutz Gottes. Trost, dass Christi Schicksal, seine Wiederbelebung aus dem Tod, auch das Schicksal der Verstorbenen, auch unser Schicksal ist, wenn wir einmal sterben müssen.

Aber nicht nur zu trösten ist die Absicht des Paulus. Er will auch ermahnen. Die Worte enthalten einen Anspruch an die Leser und Hörer, eine Aufforderung. Sie stehen auch inmitten von Aufforderungen an die Christen in Rom. Lasst euer ganzes Leben von Gott bestimmt sein! Tut alles, was ihr tut, im Bewusstsein, dass Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist. Da gibt es keinen Lebensbereich in eurer Lebenswelt, der nicht von Gott bestimmt sein will. Die Lebensregeln Gottes, die Gebote, gelten nicht nur in eurem Privatleben, in den privaten zwischenmenschlichen Beziehungen, sie beanspruchen Geltung auch im öffentlichen Leben, in der Wirtschaft und in eurem Berufsleben. Gott ist die alles bestimmende Wirklichkeit. Es gibt in der Welt keinen Bereich, in dem eigene Gesetze und andere Regeln gelten. Wie gesagt: Auch Staat, Politik und Wirtschaft sind keine eigengesetzlichen, gottfreien Räume. Auch hier will Gott seine Herrschaft zur Geltung bringen. Staat, Wirtschaft und Politik sind etwas Vorletztes und stehen im Dienst der letzten Wirklichkeit, eben der alles bestimmenden Wirklichkeit Gottes. Sie haben die Funktion, dem Menschen zu dienen, seinem Wohlergehen, dem Schutz seines Lebens und seiner Würde.

So gilt denn auch heute – angesichts des eigengesetzlichen, scheinbar die ganze Wirklichkeit bestimmenden Charakters der globalisierten Wirtschaft – was im Barmer Bekenntnis von 1934 gegen eine eigengesetzliche totalitäre Politik von Christen der Bekennenden Kirche formuliert wurde: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als gäbe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären.“

Gott allein ist es, die alles bestimmende Wirklichkeit, der zu Recht Anspruch erhebt auf unser ganzes Leben und auf alle Bereiche der Wirklichkeit.

Aber ist uns diese Auffassung nicht suspekt geworden? Zeichnet solch ein Absolutheits- und Totalitätsanspruch nicht gerade jenes Phänomen aus, das wir „Fundamentalismus“ nennen, der in letzter Zeit wieder erstarkt ist. Einen Fundamentalismus, der ohne Rücksicht auf Verluste versucht, Gottesrecht in staatliches Recht zu gießen. Ja, noch mehr, wo Terrorakte ebenso wie Kriegshandlungen mit dem Gottesrecht begründet werden? Damit Gott die alles bestimmende Wirklichkeit wird?

Hier müssen wir nun zwischen zwei Perspektiven unterscheiden, die beide ihr Recht haben und von denen keine auf die jeweils andere zurückgeführt werden kann. Es sind die Binnen- und die Außenperspektive.

Wenn Paulus in seinem Brief Menschen dazu auffordert, ihr gesamtes Lebens, das private wie das öffentliche, von Gott durchdrungen sein zu lassen, die gesamte Lebensführung nach Gottes Regeln zu gestalten, dann handelt es sich bei den Angesprochenen um Christen, um Menschen, die an die Existenz Gottes glauben. Mehr noch: an Menschen, die an den Gott glauben, der sich in Jesus von Nazareth gezeigt hat, der in ihm seine menschenfreundliche Natur geoffenbart hat. Paulus schreibt seinen Brief an Menschen, die für wahr halten, dass es einen Gott gibt, der das ganze Universum in seiner Hand hält und es zu einem guten Ausgang führen will. Ein Brief von Christ zu Christ. Aus der binnenchristlichen Perspektive.

Daneben aber gibt es eine Außenperspektive. Die Perspektive derer, die nicht an Gott glauben oder an andere Götter und an andere Regeln. Aus der Binnenperspektive werden die Existenz Gottes und dessen Totalitätsanspruch als wahr und universal gültig angesehen und die Geltung seiner Gebote als absolut verbindlich vorausgesetzt. Von der Außenperspektive her jedoch handelt es sich bei den christlichen Glaubensüberzeugungen lediglich um einen partikularen Wahrheitsanspruch einer Gruppe von Menschen. Um einen Wahrheitsanspruch, der momentan nicht eingelöst werden kann, weil sich Gott nicht eindeutig als die alles bestimmende Wirklichkeit zeigt. Um einen Wahrheitsanspruch, der mit anderen Wahrheitsansprüchen konkurriert. Die in der Binnenperspektive zu Recht behauptete universale Herrschaft Gottes über alle Lebensbereiche erscheint in der Außenperspektive als ein bloß auf eine Menschengruppe begrenzter partikularer Glaube.

Die Fähigkeit, zwischen den beiden Perspektiven unterscheiden zu können, steht zwischen aufgeklärten Gläubigen und Fundamentalisten. Letztere ignorieren die Außenperspektive und ziehen sie in die Innenperspektive ein. Auf diese Weise wird der eigene Wahrheitsanspruch als die für alle gültige Wahrheit ausgegeben.

Um den Perspektivenunterschied wussten die Christen der Bekennenden Kirche, die im Barmer Bekenntnis die falsche Lehre verworfen haben, nach der es Bereiche unseres Lebens gibt, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären. Sie erklärten nämlich auch: „Nun ist uns sehr wohl bekannt, dass solche Erkenntnis und solcher Glaube nur der christlichen Kirche gegeben ist, und also auch nur von ihr und ihren Gliedern, vor allem von ihren Dienern verlangt werden kann. Darum würden wir auch in einem anderen Ton sprechen müssen, wenn wir zu der Welt sprächen, die keinen Wert darauf legt, Kirche zu sein. Wir sprechen aber zu der Welt, die den Anspruch erhebt, Kirche zu sein, und den Christen, die sich dieser Welt verbündet haben.“ (Hans Asmussen) Und - so könnte man fortfahren - aus der Binnenperspektive sagen wir, dass es keinen Bereich gibt, auch nicht die Politik, über den Gott nicht der Herr ist.

Wie aber sollen wir umgehen mit der unauflösbaren Spannung zwischen dem für uns absolut gültigen Glauben an die universale Herrschaft Gottes über alle Lebensbereiche einerseits und dem Wissen um die Relativität dieses Glaubens aus der Außenperspektive?

Nun, genau so, wie Paulus es beschreibt:
Führt euer Leben nach euren Überzeugungen. Lebt so, als wäre wahr, was ihr glaubt, in der vertrauten Gemeinschaft ebenso wie im öffentlichen und beruflichen Leben. Lebt nach den Regeln des Gottes, der in Jesus von Nazareth seine wahre Natur gezeigt hat: solidarisch mit den Schwachen. Nehmt selbst Rücksicht auf sie, und ergreift für sie Partei, wenn ihre Würde und ihre Rechte verletzt werden. Widersetzt euch denen, die Menschen nur als heuer- und feuerbare Mittel für höchste wirtschaftliche Endzwecke betrachten und behandeln. Verbündet euch nicht mit der Welt und erklärt nicht, dass es irgendwo anders zugehen müsse als nach den guten Regeln eures Gottes. Bleibt in Übereinstimmung mit euren Überzeugungen. Überall, wo ihr seid. Und haltet fest an der Hoffnung, dass das, was ihr für richtig und wahr haltet, einmal für alle eindeutig sichtbar als die alles bestimmende Wirklichkeit in Erscheinung treten wird. Bis dahin aber macht Werbung. Überzeugende Werbung mit eurem Leben. Werbung für den menschenfreundlichen Gott, der nicht die Schwachen und auch nicht die Toten preisgibt, sondern als die alles bestimmende Wirklichkeit am gelingenden Leben aller interessiert ist.

Amen

Dr. Hans-Georg Babke
Arbeitsbereich Religionspädagogik und Medienpädagogik Wolfenbüttel
Hans-Georg.Babke@t-online.de


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