Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 31. Oktober 2004
Predigt über
Lukas 13,1-9, verfaßt von Eva Tøjner Götke (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Lukas 13,1-9 (dänische Perikopenordnung)

Meint Ihr, daß sie größere Sünder waren als alle anderen - die dem grausamen Blutbad zum Opfer fielen, das Pilatus anrichtete?
Oder meint Ihr, daß sie schuldiger waren als alle anderen - die Opfer, als der Turm in Jerusalem zusammenstürzte?
Jesus wendet sich an das Volk, den gemeinen Mann. Und er bezieht sich auf Unglücke der damaligen Zeit.

Wir können die Fragen leicht nachvollziehen und sie aktualisieren:
Waren das größere Sünder als andere, die Opfer in Bali auf den Philippinen, als die Bombe hochging und hunderte erschlug?
Oder waren die mehr schuldig in New York, die im World Trade Center zu tun hatten und deshalb beim Terroranschlag am 11. September ihr Leben verloren?

Nein, das waren sie nicht, antwortet Jesus. Die Opfer von damals und die Opfer von heute sind nicht mehr schuldig oder größere Sünder als die anderen.
Das konnte jedem passieren.
Das kann jedem passieren.

Es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Leben und dem Glauben eines Menschen, zwischen Schuld und Sünde einerseits und dem Unglück und dem Tod, die uns treffen, andererseits.
Das Evangelium von Jesus Christus ist das, was uns aus diesem Glauben oder dieser Auffassung befreit.

Der Glaube an ihn als den Sohn des barmherzigen Gottes ist das, was und davon befreit, hier einen Zusammenhang finden zu wollen und uns selbst damit zu quälen und andere zu verurteilen.

Das Böse trifft willkürlich.
Krankheit, Unglück und Untergang - sie schlagen zu, wie ein Blitz - und wehe dem, der zufällig dort steht. Am verkehrten Ort zur falschen Zeit.

Wir andere, die es nicht trifft, haben Glück gehabt. Und wir sollen uns preisen, daß wir Glück gehabt haben. Und wir sollen wissen, daß es genauso gut unsere Familie hätte treffen können. Daß es ebensogut unser Ehegatte hätte sein können, dem die Diagnose gestellt wird, die wir alle fürchten, daß es ebenso gut das Flugzeug hätte sein können, in dem wir saßen, das abstürzte, daß wir es hätten sein können in der Metrostation, als die Bombe sprang.

Es gibt keine Botschaften im sinnlosen Tod, in der sinnlosen Gewalt und Brutalität.
Es gibt keinen Gott von oben, der diese Mittel verwendet, um sein Volk zu sich ins Paradies zu führen.

Der Gott, zu dem wir uns durch Jesus Christus bekennen, ist nicht ein Vater, der uns ins Himmelreich hineindroht - sondern ein Gott, der sich über uns erbarmt und Mitleid fühlt mit dem Hochmut der Menschen, wenn wir uns einbilden, daß wir das selber bewältigen können und daß es unsere eigene Schuld ist, wenn wir das nicht können.

Wenn wir das Evangelium von Jesus Christus nicht als Halt hätten, dann würden wir nicht aufhören, uns einzubilden, daß es einen Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe in der Form von Unglück und Tod gibt. Und deshalb sagt Jesus - ganz wie ein neuer Johannes der Täufer aufgebracht und drohend: "Nein, sie waren nicht schuldiger als andere. Aber wenn ihr euch nicht bekehrt, werdet ihr umkommen wie sie".

Denn wenn wir nicht umkehren und Jesus als den Erlöser aus diesem ursächlichen Zusammenhang sehen, dann treffen wir uns selbst mit diesem ungnädigen Urteil, wenn es einmal uns trifft - und das wird es ja eines Tages, früher oder später trifft es auch uns und unsere Familie. Der Tod ist unausweichlich. Aber er ist nicht Strafe Gottes.

Jesus starb, um uns das zu zeigen. Er starb, damit wir nicht gerichtet werden sollen. Denn wir können nicht den Tod Richter über unser Leben sein lassen, das sollen wir Gott im Himmel überlassen - dem barmherzigen und gnädigen Gott, der uns nicht in den Himmel hineindroht, sondern uns seine Hand reicht, um uns aus unserer eigenen verdorbenen und verlorenen Sicht auf unser Leben und das Leben anderer zu befreien.

Das einzige, was wir gegen das Spiel der Zufälle ins Feld führen können hier in unserer Welt, ist unser Glaube an Gott.

So sagen es auch viele Menschen, Menschen, die vielleicht nicht besonders kirchlich, bekennend oder gläubig waren, sie erzählen, wenn man da hinkommt, wo das Leben sich von seinen ungnädigsten und grausamsten Weise zeigt, in der totalen Sinnlosigkeit, da ist die einzige Möglichkeit zu überleben der Glaube an Gott. Dann bleibt nur noch der Glaube an Gott. Der letzte dünne Draht, der ein Netz von Sinn mitten inder Sinnlosigkeit zusammenhält.

In dieser Situation bedeutet der Glaube an Gott, daß es einfach nicht wahr sein kann, daß wir allein dem Zufall des Daseins überlassen sind. Dann gibt es ja überhaupt keine Hoffnung.

Die Hoffnung hält sich daran, daß dennoch das unwahrscheinlich Glückliche geschehen kann, daß der Zufall es wollen kann, daß man als Mensch weiterkommt, durch die Krise, oder wenn es sich um eine Krankheit handelt, gesund wird, oder auch nur noch ein paar Wochen geschenkt bekommt zum Leben - und dann die Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten.

Der Zufall hat also eine doppelte Funktion. Er kann uns treffen und unser Leben zerstören - unbarmherzig und gnadenlos.

Aber der Zufall kann auch eintreffen und alles verändern, so daß das, was eigentlich fallen sollte, sich wieder erhebt und zu neuem Leben aufersteht.

Diese Doppelheit beschreibt unser großer Dichter Søren Ulrik Thomsen in seiner letzten Gedichtsammlung, die gerade unter dem Titel: Das Schlimmste und das Beste erschienen ist. In dem Gedicht wird aufgezählt, was das Schlimmste und das Beste ist - für mich, und es gibt viele Dinge, über die man als Leser lachen und weinen kann.

Aber da ist ein Satz, der in einem doppelten Sinne verwandt wird, ein Satz, der sowohl das Schlimmste als auch das Beste ist - und dieser Satz lautet in all seiner Einfachheit so:

Daß alles noch immer geschehen kann, ist das Schlimmste.
Und auf der nächsten Seite steht:
Daß alles noch immer geschehen kann, ist das Beste.

Das alles noch immer geschehen kann. Die Zufälligkeit des Lebens, die Unvorhersehbarkeit des Lebens, daß alles noch immer geschehen kann, das können wir fürchten in der Form des Unglücks, das uns treffen kann, darüber können wir uns aber auch freuen, in der Form der Barmherzigkeit, die uns aus etwas befreit, das unabwendbar geschehen sollte.

Die Furcht liegt darin, daß alles noch immer geschehen kann - das ist das Schlimmste. Es hätte genauso gut uns treffen können. Die Türme hätten über uns zussamenbrechen können, wenn wir dort gewesen wären.

Die Freude und die Befreiung liegt darin, daß alles noch immer möglich ist - das ist das Beste.

Das ist das Beste am Leben, daß Gott sich noch immer durchsetzt und wir nicht zugrunde gehen. Das Beste ist, daß wir diesen kleinen Draht haben, an dem unser Leben hängt, der Hoffnung heißt. Hoffnung auf Gott, daß er sich gnädig erweist und barmherzig und uns von unseren Schuldgefühlen befreit und von unserer Sünde, die uns bedrückt. Eine Hoffnung, daß das Beste für uns eintreffen kann, daß wir frei werden, und nicht in einem ewigen Gericht über uns selbst und andere leben müssen, frei werden, nicht überall Zusammenhänge finden und in einem zwangsneurotischen Verhältnis zur Welt leben zu müssen, weil wir gnadenlos vom einen aufs andere schließen: "Tue ich dies, geschieht wohl das. Esse ich dies, trifft mich wohl diese Krankheit. Kann ich meinen Kindern nicht diese bestimmte Kindheit garantieren, enden sie sicher als Kleinkrimille und Verwahrloste ...".

Ursache-Wirkung, deterministische Schlußfolgerungen, Muster, die unmöglich zu durchbrechen sind, Prophetien, die sich selbst erfüllen: So war es in meiner Familie, ich gleiche meiner Mutter, sie machte auch immer diesen und jenen Fehler ...

Wir quälen uns selbst in dieser Weise und verschließen die Welt um uns, indem wir uns in diesen Schablonen anbringen, ererbte Schablonen und Wiederholungen. Das ist das Schlimmste.

Im Alten Testament, beim Propheten Hesekiel, kann man dieses Sprichwort finden: "Die Väter haben saure Trauben gegessen, und die Söhne bekommen stumpfe Zähne".

Ein ererbtes Muster von Schuld, das auf uns lastet und dessen wir uns nie entledigen können. Wir kennen es. Aber beim Propheten heißt es:

"So wahr ich lebe, sagt Gott der Herr: Ihr sollt dieses Sprichwort nicht mehr in israel verwenden. Das Leben aller Menschen gehört mir".

Das Phantastische am Leben, das Leben im Lichte des befreienden und erlösendes Wortes des Evangeliums, ist dies, daß wir von Anfang an daran glauben und drauf hoffen dürfen, daß wir alle Gott gehören und daß Gott für uns das Beste will und uns Türen öffnen will, die wir selber nicht finden oder gar öffnen könnten.

Wir dürfen - im Lichte des Evangeliums - daran glauben, daß unser Leben in der Hand Gottes liegt, ob uns nun Unglück, Krankheit, oder Tod treffen oder wir uns selbst in das größte Unglück stürzen, aus dem wir keinen Ausweg sehen und das wir uns stets selbst vorwerfen.

Wir dürfen hier in dieser Welt leben, voll von Freude und Schmerz, und darauf hoffen, daß wir nicht nach unserem Mangel an Glauben gerichtet werden, sondern daß wir gnädig angesehen werden, daß Gott nachsichtig ist gegenüber uns und unserem Eifer, die Welt und das Leben in ein System zu bringen, daß Gott uns immer wieder eine neue Chance gibt, bis wir umkehren und unser Leben in seine Hand legen, und damit alles mit Freude empfangen, jede Stunde, jeden Tag. Amen.

Pastorin Eva Tøjner Götke
Platanvej 10
DK-5230 Odense M
Tel.: ++ 45 - 66 12 56 78
email: etg@km.dk


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