Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reformationsfest, 31. Oktober 2004
Predigt über
Römer 3, 21-28, verfaßt von Reinhard Weber
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Ein alter Text, ein bekannter, ein berühmter, ein schwieriger, ein umkämpfter und umstrittener, ein unzählige Mal gepredigter, kommentierter, ausgelegter Text.

Soll man sich mit ihm noch beschäftigen, soll man ihn ein weiteres Mal traktieren und die Gemeinde damit quälen? Ist er nicht ausgepredigt, verbraucht? Als eminent anspruchsvoll, als hochtheologisch gilt er, als äußerst komplex, und wer kann heute mit der hohen Theologie schon noch etwas anfangen, wer interessiert sich noch für sie, wen kümmern noch ihre feinziselierten Distinktionen, wer versteht sie, was gehen sie die Gemeinde an, und wer ist letztere noch? Selbst Theologiestudenten tun sich da bekanntlich schwer und machen leicht gelangweilte, verständnislose Gesichter. Geht dieser Text nicht über die Köpfe hinweg?! Muß man sich damit heute noch befassen, was soll das bringen? Ist diese ganze Rede von Gesetz und Gerechtigkeit, von Sünde und Gnade, von Sühne und Erlösung, von Blut und Vergebung, von Glaube und Werke, gar von Rechtfertigung des Gottlosen ohne des Gesetzes Werke mit all den feinen Subtilitäten der Theologen, mit ihrem Gezänk um die angemessene, richtige Interpretation, ist das alles nicht längst obsolet und zu einer Beschäftigung von ein paar Unentwegten geworden, einer verschwindenden Minderheit, die keiner mehr ernst nimmt, ja mehr noch: auf die kaum noch einer hört, die im Stimmengewirr der Gegenwart gar nicht mehr zur Kenntnis genommen wird, so daß selbst die mit allem Gepränge erst vor wenigen Jahren nach langer, ermüdender Vorbereitungszeit und vielen Abschwächungen und Kompromißformeln gefeierte und als Jahrhundertwerk gepriesene Einigung von Katholiken und Lutheranern in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, mit welcher nicht nur die gegenseitigen Verdammungsurteile des 16. Jh.s außer Kraft gesetzt, sondern auch ein Konsens in der Sache erreicht werden sollte, nur sehr kurzfristig noch ein paar kleinere mediale Wellen schlagen konnten, die dann schnell verebbt sind und man heute fragen könnte: war was, was war da eigentlich? Nicht einmal in den kirchlichen Milieus hat das noch eine weitergehende Bedeutung, nimmt man noch Notiz davon. Verraucht, verrauscht, wie alles, was heute im medialen Zirkus so geschieht, in der Informationsflut, in der Schnellebigkeit der Epoche, wo jeder froh ist, wenn er nicht belästigt und behelligt wird, sondern man ihn in Ruhe läßt.

Und unser Predigttext mit all den oben genannten schwergewichtigen Begriffen, die in ihm auftauchen und sehr voraussetzungsvoll und hintergründig behandelt werden, ist er nicht geradezu das Musterbeispiel für einen heute anachronistisch wirkenden Sprachstil und Gestus, und vor allem: für einen nicht mehr verstehbaren Inhalt, über den Jugendliche zumal nur noch den Kopf schütteln. So heißt es doch, oder mindestens könnte man als Reaktion vermuten, wenn diese ntl. Zeilen vorgelesen werden: „Das kann doch heute niemand mehr verstehen. Was meint der Paulus denn?“ Mehr noch, man kann auch unter den entsprechenden Kreisen oft die Parole hören: „Laßt uns das auf den Schutthaufen der Theologiegeschichte werfen, wo es hingehört, mit Sühneopfer und Gesetzeswerken, mit blutigem Opfertod des Erlösers, der Menschen und Gott damit versöhnen soll, da können, nein, da wollen wir nichts mehr mit anfangen; das ist ja gräßlich und archaisch, blutrünstig und abstoßend, das ist nicht modern und schon gar nicht politisch und theologisch korrekt“, so schallt es nicht nur aus einer bestimmten Ecke, die sich im Verächtlichmachen des Unangepaßten groß tut. Viele Theologen/Innen und große Teile des „aufgeklärten“ Publikums sind derzeit ja dabei, den Sühnetod Jesu und die Rede von ihm aus der kirchlich korrekten und zugelassenen Sprache zu eskamotieren, zu verbannen, ein Verdikt darüber zu erteilen, mindestens eine massive Umdeutung und Transformation vorzunehmen und zumal das paulinische Evangelium von Kreuz und Auferstehung an den Zeitbedarf und Zeitgeschmack und Zeitgeist anzupassen. Wie soll man da mit diesem Predigttext umgehen, wenn nicht wie befohlen kritisch-destruktiv? Wäre es dann nicht sogar besser, ihn ganz von der Perikopenordnung zu streichen, um sich dieser unangenehmen Last zu entledigen und der Skandalvermeidung zu dienen und niemanden weh zu tun? Schuld und Sühne, Kreuz und Vergebung, wie unangenehm, wie peinlich, igittigit.

Nun, es ist nicht von ungefähr, daß es eben derselbe Paulus war, der die Auffassung vertreten hat, dieser Skandal sei nötig, ja das Evangelium sei ipso facto ein solcher Skandal, Torheit und Ärgernis (1. Kor 1, 18-25). Skandal also muß man als Christ und Prediger wohl machen, heute zumal, man soll, man darf sich davor nicht scheuen! Schließlich war Jesus selbst ein einziger Skandal, in vielerlei Hinsicht. Und Paulus mit seiner Christusbotschaft nicht minder. Daß nämlich die Gerechtigkeit Gottes, also das, was vor Gott als dem Grund und Horizont von Sein und Leben Geltung hat, unabhängig und jenseits vom Gesetz erschienen sei, also jenseits alles dessen, was die Welt zusammenhält, was unser Dasein und Leben ausmacht, wonach wir uns richten und einrichten, worauf wir bauen und was den Kern unserer irdischen Existenz ausmacht, ja, das ist wahrhaft für den Menschen ein Skandal, eine Ungeheuerlichkeit, weil es unserer ganzen Wesensrichtung wiederspricht; und daß dies auch noch an einem gescheiterten und gekreuzigten einfachen galiläischen Mann zu erkennen und an und in ihm realisiert sei, und daß man, indem man dies glaube, gerecht sei, das bringt das Faß zum Überlaufen, denn dann gilt nichts mehr, was in unserem Leben sonst so Geltung hat, wonach es tickt, was ihm schlicht eine Selbstverständlichkeit ist, dann ist ein schlechthin neues Paradigma aufgerichtet. Dann schnurren alle die schönen und die häßlichen Unterschiede zwischen uns, um deren Installierung und Bestand es uns doch so innig zu tun ist, für die wir uns so abgearbeitet und gemüht, für die wir so viel investiert haben, auf die wir so viel Wert legen, bis zum Nullpunkt zusammen, sie werden geradezu nichtig, alle diese Unterscheidungszeichen von Gehalt und Gestalt, von Stellung und Ansehen, von Armut und Reichtum, von Mercedes und VW, von Chef und Bedienstetem, dann wird all das, vom dem diese Gesellschaft so zentral und fundamental lebt, mit einem mal zunichte. Dann kann man auch nicht so weiterleben, wie es alle Welt tut. Das möchte man sich nicht gern sagen lassen, daß man gemeinsam mit dem Penner in der Gosse liegt. An den Unterschieden liegt einem doch alles, man möchte nicht verwechselt werden; Gleichheit in der Sünde, wie pfui.

Ja, in der Tat, hier geht es ums Prinzip. Entweder es gilt der Satz des Aristoteles, den das Individuum als Ich-AG so prima verinnerlicht hat und der ihm beinahe pausenlos und multimedial eingetrichtert wird, der da lautet: die das Gerechte tun, sind gerecht, oder es gilt der Satz des Evangeliums: wer an Jesus als den gekreuzigten Christus ohne eigenes Zutun als den Herrn über sein Leben glaubt, der ist gerecht. Das ist wahrhaft eine echte Alternative, denn die Behauptung des Evangeliums lautet, eine menschliche Gerechtigkeit gibt es nicht, weil: alle haben gesündigt und ermangeln des eigenen Ruhmes! Darum erlangen sie Gerechtigkeit nur geschenkweise durch die Gnade kraft der Erlösung in Christus Jesus. Also, ihr lieben Mitmenschen, ihr könnt euch noch so mühen, ihr werdet es nicht erreichen, auch wenn ihr euch von Goethes Faust noch so lange ins Ohr flüstern laßt: „wer ewig strebend sich bemüht, den können wir erlösen“. Mitnichten, auch Geistesriesen können irren. Das ist in den Hochzeiten eines irrlichternden Kapitalismus und seines verfeinerten Warensystems ein Sakrileg, das geht nicht an, das kann man nicht stehen lassen, nicht annehmen.

Und doch, schon Wilhelm Raabe wußte es besser als Goethe:

„Auf alle Höhen, da wollt ich steigen,
zu allen Tiefen mich niederneigen.
Das Nah und Ferne wollt ich erkünden,
geheimste Wunder wollt ich ergründen.
Gewaltig Sehnen, unendlich Schweifen,
im ewigen Streben ein Nieergreifen-
das war mein Leben.“

Und Paulus spricht hier deutlich von einem Kollektivschicksal, es geht um den Menschen schlechthin und als solchen, um das Genus, und damit liegt er natürlich weit ab von der modernen Individualisierung und Egoität des Durchschnittsbewußtseins des gegenwärtigen Westeuropäers und Amerikaners zumal. Und ebensoweit mit seiner Rede von Schuld und Sünde von der aktuellen Blauäugigkeit der Gutmenschen und Moralapostel, der Erziehungs- und Fortschrittsideologen, und gleiches gilt auch für den Hinweis auf Leiden und Kreuz als Merkmale des Christus wie des Christenlebens im Blick auf die gegenwärtige Kultur der Analgetica, des permanenten Wohlbefindens und der luxurierenden Fun-Industrie, der ständigen Suche nach Spaß. Blut und Tränen stehen den Harmlosigkeiten eines saturierten, angepaßten, liberalistischen Mittelstandschristentums mit Wohlstandsbauch und Lebensversicherung, mit prangendem Gehaltszettel, möglichst doppelt, nicht gerade attraktiv gegenüber, in der Tat. Und schließlich muß auch der Gedanke der Stellvertretung gegen die allfällige Ichsucht der Selbstverwirklichung wie ein Dinosaurier aus vorgeschichtlichen Zeiten wirken. Alles abgehalfterte Theologoumena einer unsichtig gewordenen Vorzeit.

Darum ist es sehr naheliegend und erklärlich, warum wir das nicht mehr hören wollen, warum das paulinische Evangelium uns so fremd geworden ist. Unser Leben ist ein Skandal vom Evangelium her, und darum ist uns dieses ein solcher, wenn wir es denn ernst nehmen. Wir leben ja nach der aristotelischen Gerechtigkeit und wollen uns an ihrer Geltung nichts abmarkten lassen. Wir würden unser gutes Gewissen verlieren, das sanfte Ruhekissen. Wir haben uns längst eine eigene Auffassung vom Leben und vom Guten und von Gott zurechtgezimmert, die wir nicht in Frage stellen lassen möchten, da kann die Bibel sagen was sie will. Wir kriegen es schon so hin, wie wir es brauchen. Wir meinen ja zu wissen, wie es geht und wie Gott über uns zu denken, wie er für uns zu sein hat. Da lassen wir uns nicht reinreden, auch von ihm nicht, wenn er uns sagt, du bist ein verlorener Sünder, Mensch, ein Heuchler, du kannst dich nicht rechtfertigen, du kriegst dich nicht hin, du brauchst die Vergebung, du brauchst das Versöhnungs-Blut Jesu, ohne dies ist es nichts mit dir, bist du ein Nichts. Das geht dem Menschen schwer ein, er will nicht nichts sein, vielmehr etwas und mehr als etwas, nämlich alles, er will ja sein Leben in die Hand bekommen, sich in die Hand nehmen und die Zukunft, die Welt, die Andern. Dahin geht die natürliche Tendenz des Menschen. Und heute will er vor allem Spaß haben und sich selbst verwirklichen, das sind ja die großen Schlagwort von Moderne und Postmoderne. Und nun sagt ihm das paulinische Evangelium, was du da verwirklichst, ist nichts anderes als der Tod, dein Versuch hat tödliche Konsequenzen, denn der ist das, was zutiefst in dir ist und dich ausmacht, dich bestimmt, denn du bist weniger als ein Nichts, du bist ein Sünder, und als ein solcher bist du es wert, hingerichtet zu werden. Das ist dein Recht, das ist deine Rechtfertigung, der Tod, die Hinrichtung, so steht es mit dir, das ist die Konsequenz deines Lebens, denn gerechtfertigt werden heißt auch nach Luther, zu Tode gebracht werden. Das menschliche Leben hat eo ipso diesen Tod in sich, es lebt ihn beständig, es brütet ihn aus, es exerziert ihn in tausend Formen, und es kann gar nicht anders, und so vollzieht es in seiner permanenten Anwesenheit das Gericht über sich, was von Gott her über sein Leben verhängt ist, denn dieses Leben ist als ein sündverhaftetes dem Tod als der gerichtlichen Konsequenz verfallen. Dieses Leben harrt der Erlösung, der Erlösung von sich, es ist ein durch und durch erlösungsbedürftiges. Und durch den Tod wird ihm diese zuteil. Nun aber nicht durch seinen eigenen, wie man glauben könnte, sondern durch den Tod des Sohnes, des Gottessohnes, des Christus. Er ist der Tod des Menschen, an welchem sich dessen tödliches Leben auswirkt und zuendebringt. Und in dem Akt der Taufe wird der Glaubende in diesen Tod, der doch im Grunde als die Konsequenz seines Lebens sein eigener ist, hineingetauft, wird sein verfehltes Leben getötet, damit sein wahres erscheinen kann. Der Mensch als Mensch jedoch, also als ein auf Werke angewiesener und gestellter, der dem Gesetz des Weltwirkens gehorcht, kann nur Tod hervorbringen. Mit ihm ist es nichts, er muß ad nihilum zusammenschmelzen. Anders kann er nicht zum Glauben finden. Der Glaube steht also auf nichts, er hat sein Sach auf nichts gestellt, auf nichts, was er sich zurechnen kann. Und siehe da, Leben, unvermuteterweise, unvorausgesehenerweise, ungeschuldet, unverdient. Die Botschaft, daß da Leben ist, statt Tod, das ist das Evangelium, das Paulus im Römerbrief statuiert. Und daß dies nur gilt, weil da dieser Christus Jesus ist als der Stellvertreter von Tod und Leben, als der auferstandene und gerechtfertigte Gerichtete, der die Macht der Sünde überwunden hat durch seinen Kreuzestod. Wo sich der Mensch aus diesem Zusammenhang entfernt bzw. nicht in ihn eintritt ist er rettungslos dem Tode verfallen und muß ihn bei allem Bemühen immer erneut vollziehen. Und so werden die tödlichen Konsequenzen der Ablehnung dieser Einsicht und ihres Nichtwahrhabenwollens und der Vergleichgültigung dieser Sühnebotschaft in unserer Gesellschaft immer schneller und brutaler vollzogen. Ihr Weg verliert sich wie der der Gottlosen von Psalm 1. Billiger ist es nicht zu haben, denn die Gnade ist teuer erkauft, weil es mit dem Bösen so teuflisch, so gnadenlos ernst ist. Aber wo ein Mensch sich im Zusammenhang dieses Jesusgeschehens verortet, da ist er ein Glaubender, und im Raum des Glaubens ist er als begnadigter Sünder lebendig, von der tödlichen Macht der Sünde befreit, eben ein neuer, ein anderer Mensch. Es ist deutlich, daß Paulus meint, es sei dies Hervortreten Jesu die Wende der Welt, die Mitte der Geschichte, die Selbstoffenbarung Gottes an die Menschheit als die Offenbarung seiner Gerechtigkeit, die unüberholbare, irreversible Gültigkeit besitzt, welche auch die irdischen Unterschiede zwischen den Menschen zunichte macht, sie entwertet, vergleichgültigt. Denn von Gott her ist ein Urteil ergangen: „Der Mensch wird durch den Glauben gerecht, ohne Gesetzeswerke.“ Diesseits dieses Urteils ist er Sünder und nichts sonst, todverfallen, nichtig, ruhmlos. Das aber hat ungeheure Folgen, kein Stein kann dann auf dem anderen bleiben, nichts ist dann mehr so wie vorher, eine völlige Umwertung aller Werte beginnt dann, die Lebensrichtung hat sich verändert, alle Dinge des Lebens sehen sich nun anders an, und wo dieses nicht irdisch-weltlich wirksam wird, da ist auch kein Glaube, da ist auch kein wahres Leben aus der Gnade, da ist noch die Knechtschaft unter der Sünde.

Kann der hiesige Mensch der Gegenwart dies noch hören, kann sich an ihm und in ihm dies noch ereignen? Hat er noch die Kraft, aus diesem Glauben zu leben? Oft scheint es so, als ob er die alte lutherische Frage nach dem gnädigen Gott und damit das Bewußtsein der Schuld des Menschseins nicht mehr versteht, sie auch nicht mehr hören und annehmen will, weil er sich nicht mehr im Kosmos metaphysischer Verantwortung verankert weiß, die Idee eines Rechenschaft fordernden Gottes ihm dunkel und schwach geworden ist, er auch das Gespür für Selbsttranszendenz verloren hat und sein aufgeklärter Stolz ihm die Annahme der menschlichen Gleichheit in der Sünde verbietet.

So irrt er ortlos und obdachlos geworden unter einem leeren Himmel und in einer sinnlosen, entseelten Welt dahin, hingegeben an die Erfordernisse der Materie und ihrer permanenten Umbildung und Beherrschung, Vernutzung und Ausbeutung, schwankend von Begierde zu Genuß, von Genuß zu Begierde, wie in einem rauschhaften Drogendelirium in seinem ameisenartigen, bankrotteurhaften Aktivismus befangen, der doch nur in all seinen vermeintlichen Fortschritten und Errungenschaften den Verlust an gewachsener, bodenständiger Erdnähe und das Verschwinden überweltlicher Heimat signalisiert. Irgendwann wird er sich selbst in seiner durchgestylten Warenwelt, umstellt von den künstlichen Paradiesen der animierten Träume und dem Elend der Ausgeschlossenen, Heruntergekommenen, Abgehalfterten, die es nicht geschafft haben, der so lästigen wie gefährlichen Versager und Verlierer, eine Last sein, so wie einst den Ägyptern ihr Licht zur Finsternis wurde und sie sich in dieser selber zur Last (Sap 17,20).

Wäre es so, müßte das Evangelium an der morbiden Ichgewißheit der Epoche gleichsam abprallen, wirkungslos verpuffen. Daran aber zeigte sich auch, wie es um den gegenwärtigen Menschen und seine Welt bestellt ist: „Da sie sich weise dünkten, sind sie zu Narren geworden“ (Röm 1,22). Über solche Narrheit, die sich in ihrer Verkehrung der Wahrheit in Lüge und der Lüge in Wahrheit klug dünkt, ergeht der Zorn Gottes vom Himmel herunter (Röm 1,18), der sich darin auswirkt, daß sie an die Folgen ihrer Ungerechtigkeit, ihrer Sinnesverkehrung, an die Begierden ihres Herzens preisgegeben werden (Röm 1,24), und folglich besteht das göttliche Zornesgericht in nichts anderem, als daß sie die Konsequenzen ihres eigenen verfehlten Tuns zu tragen haben durch den Verfall an dessen Sinnlosigkeit und durch die Verfinsterung ihrer Herzen (Röm 1,21). Die Bande der menschlichen Sozialität lösen sich in maßlosem Individualismus und Subjektivismus, in narzißtischem Egoismus auf, und der Tod als der große Verhältnislose hält ins Leben Einzug. Vieles scheint in unserer heutigen westlichen Lebenswelt darauf hinzudeuten.

Oder könnte es sein, daß dann das alte Evangelium eine neue Wirksamkeit gewinnt, wenn das Salz bis dahin nicht ganz dumm geworden ist. Vielleicht sind wir nur noch nicht soweit und es herrscht bei vielen noch die Not der Notlosigkeit. Wie dem auch sei, in dieser wie in jeder Situation schulden die Kirche, der Christ, der Prediger dem in die Nacht des Selbsthasses und des Lebensüberdrusses abdriftenden Volk, was sich und seine vorgeblichen Errungenschaften offensichtlich noch so naiv zu feiern scheint, die Botschaft von Gericht und Gnade, von Recht und Rechtfertigung, von Schuld und Vergebung, sprich von der in Christus Jesus offenbarten Gerechtigkeit Gottes, von seinem stellvertretenden Tod und errungenen Leben.

Ob sie noch einmal zu den Ohren und zu den Herzen zu sprechen vermag, wird die Zukunft weisen. Das steht letztlich in Gottes und nicht in des Christen und auch nicht des Predigers Hand.

Amen!

PD Dr. Reinhard Weber
Stud.-Pfr. in der ESG Marburg
weber@esg-marburg.de


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