Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

18. Sonntag nach Trinitatis, 10. Oktober 2004
Predigt über
Römer 14,17-19, verfaßt von Reinhold Mokrosch
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17. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in den Heiligen Geist.

18. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet.

19. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.
Röm, 14, 17-19


Liebe Gemeinde, liebe Gottesdienstbesucher und – besucherinnen!

Ich las, wie ich es bei der Predigtvorbereitung oft tue, den ersten Vers unseres Predigttextes einem vertrauten Freund vor und bat ihn um seine Assoziationen: „Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist“. Er reagierte spontan: „Ich halte das für ein typisches Missverständnis von Paulus, zu behaupten, dass es im Reich Gottes nicht um Essen und Trinken, sondern allein um Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist geht. Warum seit ihr Christen immer so asketisch? Jesus war doch auch kein Asket. Er wurde sogar als ‚Fresser und Säufer’ von seinen Gegnern verunglimpft, Mt 11,19. Da ist es doch unsinnig zu behaupten, dass es bei Gott nicht die Freuden des Essens und Trinkens gäbe. Ich stelle mir vor, dass es im Reich Gottes sowohl die Freude des Essens und Trinkens als auch die Freude wahrer Gerechtigkeit und göttlichen Friedens gibt!“ „Du verstehst Paulus völlig falsch“, replizierte ich meinem Freund, der natürlich etwas ärgerlich wurde und meinte, ich solle ihn doch gar nicht erst fragen, wenn er doch alles falsch verstünde. „Nein“, beschwichtigte ich, „du kannst die Situation damals in der römischen Gemeinde ja gar nicht kennen. Es geht hier um etwas ganz anderes als um die Verweigerung von Essen und Trinken im Reich Gottes. Stell dir vor, Paulus hätte gesagt: ‚Man kommt in das Reich Gottes nicht durch Einhaltung bestimmter Speisevorschriften’, dann hast du Paulus richtig verstanden.“ Mein Freund bat mich um genauere Erläuterungen. Und diese möchte ich jetzt auch Ihnen, liebe Predigthörer und –hörerinnen mitteilen, denn ich vermute, dass auch viele von Ihnen diesen Text im Sinne meines Freundes missverstanden haben. – Als ob es um die Aussage geht, dass es im Reich Gottes nicht die Freuden des Essens und Trinkens gäbe. –
Die ersten Christen der römischen Gemeinde, ca. 20 Jahre nach Jesu Tod und Auferstehung, stritten sich über die Einhaltung von Speisevorschriften. Der Streit war rabiat, weil es hier wirklich um das richtige oder falsche Verständnis der Botschaft Jesu ging. Wieso? Einige Gemeindemitglieder enthielten sich skrupellos jeglichem Fleisch- und Alkohol- bzw. Weingenuss. Sie argumentierten folgendermaßen: „Alles Fleisch, was wir hier in Rom an den Marktständen kaufen, stammt aus den Überresten geopferter Tiere in den Tempeln römischer, helenistischer oder ägyptischer Kulte. (So war es auch. Es fanden täglich so viele Opferungen in verschiedenen Tempeln statt, dass alles Fleisch, das zum Verkauf in Rom angeboten wurde, aus solchen Überresten bestand.) Mit solchen ‚Götzenopferfleisch’, so sagten sie, möchten wir nichts zu tun haben. Ihm haftet noch der Glaube an römische, griechische und ägyptische Götter und Geister an. Außerdem, so meinten sie, enthalte dieses Fleisch noch das Blut des geopferten Tieres. Gott aber hat in 3. Mose 17, 10 ff. strengstens untersagt, Blut zu genießen, weil jegliches Blut allein Gott, dem HERRN, nicht aber uns Menschen gehöre. Deshalb enthalten wir uns des Fleischgenusses“.
Ihre Enthaltung vom Alkohol- bzw. Weingenuss begründeten sie anders: „Wir wollen uns von der verfallenen Lebensweise der Römer, die oft betrunken durch die Straßen wanken, unterscheiden; deshalb versagen wir uns den Alkoholgenuss. Wir möchten immer mit klarem Geist und ohne Rauschmittel unseren Mitmenschen und Gott begegnen können.“ Außerdem argumentierten sie, dass auch Jesus das Fasten unterstützt hätte, wie z. B. in der Bergpredigt (Mt 16-18). Er hätte nur dazu aufgefordert, nicht in der Öffentlichkeit mit der Absicht auf öffentliche Anerkennung solcher schmerzhaften Askese wegen, zu fasten; sondern man solle im Verborgenen und in direkter Beziehung zu Gott, dem Vater, fasten. Das wollten sie, so argumentierten diese römische Christen, auch gerne tun. Sie wollten ohne Aufsehen in aller Stille sich des Fleisch- und Weingenusses enthalten.
Dieser grob asketischen – oder soll ich sagen: vegetarischen – Christen stand eine andere Gruppe in der Gemeinde gegenüber. Sie argumentierten folgendermaßen: „Wir wissen doch ganz genau, dass es nur einen Gott und nicht viele Götter gibt. Wir sind doch aufgeklärt und glauben nur an den Vater Jesu Christi. Also wissen wir doch, dass dem in Tempeln geopferten Tierfleisch gar kein Geist von Göttern und Geistern anhängen kann, weil es solche Geister und Götter gar nicht gibt. Ihr Fleischasketen, so beschimpften sie die anderen Mitglieder ihrer Gemeinde, seid doch nur Kleingläubige, wenn nicht gar Ungläubige. – Und das mit dem Blutverzehr gilt doch nur für die altgläubigen Juden, nicht aber für uns, die wir jetzt zum christlichen Glauben übergetreten sind. Wir sollten doch vielmehr dankbar sein, dass uns Gott, unser Schöpfer, Nahrung zum Leben gegeben hat. Also, so warfen sie ihren Mitbrüdern und Mitschwestern vor, seid doch nicht so jüdisch-skrupulös mit solchen kosher-Speisevorschriften.“
Und die Enthaltung vom Weingenuss lehnten sie mit folgenden Argumenten ab: „Alkohol-Askese praktizieren doch auch die Pythagoräer und auch manche helenistische Sekten. Wollt ihr euch mit denen identifizieren. Wir nicht! Wir unterscheiden uns im Glauben, nicht aber durch Speisevorschriften von diesen Andersgläubigen.“
Der Streit eskalierte in Rom ähnlich wie in der korinthischen Gemeinde. Der Gemeinde drohte eine Spaltung. Das wurde noch dadurch forciert, dass die asketische Gruppe behauptete, man könne das Reich Gottes nur erreichen, wenn man solche Speisevorschriften wie Fleisch- und Wein-Enthaltung auch wirklich praktiziere. Dazu kam noch deren Behauptung, Röm. 14, 5, dass man auch den Sabbat und den Sonntag als arbeitsfreien Ruhetag einhalten müsse, um gottwohlgefällig zu leben. Das alles bestritten die ‚Genießer’.

Paulus kannte diesen Streit in Rom, der demjenigen in Korinth (vgl. 1 Kor 8 und 10) ähnelte. Wie in seinem Brief an die Korinther nannte er auch hier im Römerbrief die gesetzlichen Asketen „Schwache im Glauben“ und die anderen „Starke im Glauben“. Und er nimmt eben klipp und klar für letztere Partei, indem er sagt: „Das Reich Gottes besteht nicht aus Speisevorschriften.“ Denn er ist ja der Überzeugung, dass „Christus das Ende des Gesetztes“ sei. (Röm 10, 4). Nichts an der Schöpfung sei unrein an sich selbst“ (Röm 14,4) Wir Menschen bräuchten nicht Bedingungen zu erfüllen, um Gottes Liebe, Frieden und Gerechtigkeit bzw. sein Reich schon mitten im Leben zu erreichen. Gott habe uns das alles durch seinen Sohn Jesus Christus geschenkt.
Soweit steht Paulus also den Starken zur Seite. Aber er geht in anderer Hinsicht mit ihnen scharf ins Gericht: Wir wissen nämlich, dass die „Starken“ in Korinth die „Schwachen“ demonstrativ zu sich nach Hause zum Essen eingeladen hatten, um ihnen Fleisch zum Verzehr zu servieren. Und sie hatten sich offensichtlich lustig gemacht, wenn diese, obwohl sie bettelarm waren und sich fast nichts leisten konnten, diesen Genuss aus religiösen Skrupeln heraus ablehnten. So mag es vielleicht auch in Rom gewesen sein. Und deshalb redet Paulus, den „Starken“ in Rom ins Gewissen: „Bringe nicht durch deine Speisegewohnheit den ins Verderben, für den Christus gestorben ist. Es soll doch nicht verlästert werden, was ihr Gutes habt.“ (Röm 14, 15f) Er mahnt sie, sich nicht arrogant und stolz zu verhalten mit ihrem aufgeklärten Glauben, sondern die anderen Gemeindeglieder in ihrer Skrupelösität genauso zu achten, wie sich selbst, - denn Christus sei sowohl für diese als auch für sie gestorben Intensiv fordert er sie auf, wie unser Predigttext V 19 sagt: „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung (in der Gemeinde) untereinander.“ Entscheidend, so fügt er noch hinzu, sei nicht, was man isst bzw. was man nicht isst und trinkt, sondern dass man ein gemeinsames Tischgebet (Röm 14,6) spricht. Solches Dankgebet vereine die Gegensätze in der Gemeinde.
Anstelle des rabiaten Streiten über Speisevorschriften mutet Paulus beiden Gruppen, denen „Starken“ und den „Schwachen“ nun etwas Ungeheuerliches zu: Sie sollten „geistlich leben“. Wie begründet er das? Er behauptet, dass das Reich Gottes „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ sei. Das war und ist noch immer eine ungeheuerliche Zumutung! Es ist doch viel leichter, irgendwelche Speisevorschriften, Arbeitsvorschriften, Gesundheitsvorschriften usw. zu befolgen, als mit dem Gefühl eines ‚geistlichen Friedens’ und einer ‚geistlichen Gerechtigkeit’ im Herzen und im Gewissen zu leben. Was heißt denn ‚geistlicher Friede’? Ich kann das nur beschreiben als inneren Gewissensfrieden, inneres Getröstetsein, in Dankbarkeit und Übereinstimmung mit mir selbst, mit meinen Mitmenschen, mit der Natur und mit Gott zu leben. ‚Geistlicher Friede’ ist höher als alle Vernunft, wie Paulus immer wieder sagt. Er bedeutet die Einstimmung und Zustimmung, das zu akzeptieren, was ich absolut nicht ändern kann und das zu ändern, was ich ändern kann.
Und was bedeutet ‚geistliche Gerechtigkeit’? Sie bedeutet, dass ich meinen Mitmenschen nicht allein nach seinen Leistungen, Sympathien und Fähigkeiten bemesse, sondern ihn als Mitgeschöpf, das Gottes und meine Liebe verdient, erachte. Ich halte diese Zumutung, geistlich und nicht gesetzlich zu leben, liebe Christen in unserer Gemeinde, für die größte Zumutung, die Paulus uns nahe legt.

Diese Erklärungen gab ich meinem Freund, um sein Missverständnis aufzulösen. Er wurde sehr nachdenklich. Er erinnerte sich an den Martin Luther-Film, den wir kürzlich zusammen gesehen hatten. Er meinte: „Ich muss dir sagen, dass für mich in dem Luther-Film fast die eindrücklichste Szene gewesen ist, als der junge Martin sich in seiner Klosterzelle auf dem Fußboden schreiend wälzt und gequält fragt: ‚Gott, wie kann ich deine Strafe verhindern, wie kann ich im Endgericht vor dir bestehen? Ich habe alle deine Gebote gehalten, den Sonntag geheiligt und oft gefastet, aber ich fühle mich nicht als ein guter, sondern als ein sündiger Mensch.’ Jetzt kann ich diesen mir so eindrücklichen Gewissenskamp besser verstehen. Wahrscheinlich hatte Luther Angst vor Gottes Gericht. Und er tat zur Besänftigung einer Angst das, was alle im Spätmittelalter taten, nämlich Wallfahrten, Weihwasser schlürfen, von Kirche zu Kirche kniend rutschen, unendlich oft die Madonna-Figur küssen und eben fasten und Speisevorschriften einhalten. Und der junge Martin hatte den Eindruck, dass das alles nichts nützt. Hätte er doch bloß schon damals unseren Vers von Paulus gelesen, dass die Einhaltung von Speisevorschriften nicht zu Gott und zu Gottes Reich führen.“ Ich stimmte ihm zu und erinnerte mich, wie eindrucksvoll auch für mich diese Gewissensqual-Szene des jungen Martin Luther im Film gewesen ist.
Wir kamen tiefer ins Gespräch. Leben wir heute nicht auch oft nach Speisevorschriften, um unsere Gesundheit zu bewahren? Ist irgendetwas dagegen einzuwenden? Meiden wir nicht vernünftigerweise manche Speisen und Getränke, um Gesundheitsschädigungen zu vermeiden? Kürzlich hat doch eine Redakteurin bewusst drei Monate sich nur bei Mc Donald ernährt – und schwemmte daraufhin auf, wie ein Hefekuchen mit allen möglichen Organschädigungen. Was ist also gegen vernünftige Speisevorschriften einzuwenden? Ist Fleisch- und Weinenthaltung nicht sehr vernünftig? Ist die Vermeidung von Schweinefleisch auf muslimische und auf jüdischer Seite im Hinblick auf die Gesundheit nicht sehr vernünftig? Sollten wir nicht vielmehr beklagen, dass viel zu wenig Bürger und Bürgrinnen einen vernünftigen Speiseplan machen und viel zu häufig Fast-Food und Gen-Food genießen? Mit bewussterer Ernährung könnten viele harmonischer, zufriedener und glücklicher leben. Was also wenden wir gegen vernünftige Speisevorschriften ein?
Der Unterschied ist, ob man aus säkularen oder aus religiösen Gründen Speisevorschriften befolgt. Die „Schwachen“ in Rom und Korinth und auch der junge Martin Luther haben sie aus religiöse Gründen eingehalten. Sie wollten sich damit bei Gott wohlgefällig machen. Bewusst Gesundheitspraktiker heute haben in der Regel überhaupt keine religiösen Gedanken dabei. Deshalb ist natürlich jedes vernünftige Essen und Trinken nur zu begrüßen! Problematisch wird es aber, wenn die Befolgung solcher Speisevorschriften und der Wert Gesundheit zum einzigen oder zumindest zum Hauptziel des Lebens wird. Wenn man zum ‚Gesundheitsapostel’ changiert und die Einhaltung des Speiseplans Absolutheits- und Unbedingtheits-Charakter erhält. Paul Tillich meint, dass in solchen Situationen das Streben nach Gesundheit einen dämonischen Charakter einnehmen könnte. Wenn die Befolgung von Speisevorschriften wichtiger wird als das Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Nächstenliebe, weil man nur noch sich selbst und seine eigene Leiblichkeit sieht, dann könnte sich dieses an sich vernünftige Bemühen in sein Gegenteil verkehren und sehr unvernünftig werden.
Deshalb kommt es auf die Begründung an, mit welcher wir Speisen und Getränke zu uns nehmen und unseren Nächsten empfehlen. Menschliche Gesundheitsgründe und auch rituelle Formen des gemeinsamen Essens und Trinkens sind für menschliches Leben und Zusammenleben unbedingt notwendig. Aber sie dürfen nicht hypostasiert werden. Dann werden sie zu Götzen.

Aber jetzt muss ich mich wieder an die Mahnung von Paulus im letzten Vers unseres Predigttextes erinnern lassen: „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ Wenn ich auch der Meinung bin, dass manche mit ihrem Gesundheitsprogramm zu ‚Gesundheitsaposteln’ werden und ihre Ernährungsideologie verabsolutieren, so habe ich überhaupt kein Recht, sie deswegen zu verurteilen oder mich selbst deshalb demonstrativ vor ihnen gänzlich anders zu ernähren. Das Gleiche gilt für andere, aber ähnliche Auseinandersetzung in Gemeinden heute: Die einen lehnen einen homosexuell ausgerichteten Pfarrer und erst recht die Möglich einer Eheschließung für homosexuelle aus geradezu religiösen Gründen entschieden ab, während andere das akzeptieren. Oder es herrscht zur Zeit ein Streit in manchen Gemeinden, ob kirchliche Rituale nach einer Ehescheidung angebracht seien oder nicht. Dieser Streit ist wichtig, wenn es um säkulare und rituelle Fragen geht, aber er ist nicht angebracht, wenn er religiös überhöht wird.
In allen Fragen des Streites fordert Paulus aber eindeutig auf, gemeinsam zu beten und dann aus dem Geist einer ‚geistlichen Gerechtigkeit’ und eines ‚geistlichen Friedens’ miteinander zu streiten und zu leben. Wer Gottes Frieden und Gerechtigkeit in sich spürt, der kann nicht andere verurteilen und sich selbst allein rechtgläubig verstehen. Er kann sich selbst zurücknehmen und ggf. Unrecht leiden. Gottes Geist befähigt dich, Frieden zu stiften und Gerechtigkeit auszubreiten, - säkular und geistlich.

Dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre dein Herz und deine Sinne in Christus Jesus, Amen

Prof. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück
rmokrosc@uos.de


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