Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 3. Oktober 2004
Predigt über
Markus 2,14-22, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
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Will man ganz kurz sagen, was das christliche Evangelium ist, dann müßte man wohl etwa so sagen: Das Evangelium ist die Verkündigung der Liebe Gottes für Sünder. Oder direkt an den einzelnen: Du bist schuldig und dir ist vergeben. Deine Sünden sind dir vergeben, und so wirst du wieder zum Leben erweckt.

Das ist Jahrhunderte lang, seit Jesus hier unter Zöllnern und Sündern ging, die überwältigende und freimachende Botschaft gewesen, die den Menschen das Leben zurückgab, das sie ansonsten verloren und verwirkt hatten.

Aber wenn wir die Worte heute hören, dann fällt es uns oft schwer, die Befreiung und die Kraft zu spüren, die früher in ihnen lag.

Das Evangelium als Vergebung Gottes, die Liebe Gottes für Sünder. Der moderne Mensch denkt nicht: Das ist ja unglaublich, daß es Vergebung für mich gibt. Der moderne Mensch wird eher fragen: Was soll das nun wieder? Was habe ich falsch gemacht, daß mir vergeben werden muß? Ich habe vielleicht manchmal Fehler gemacht, ok, aber Vergebung brauche ich eigentlich nicht. Wir haben heute weitgehend den Sinn für Sünde und Schuld als Realität in unserem Leben verloren.

Warum haben wir das? Dafür gibt es natürlich mehrere Gründe. Ich möchte zwei nennen.
Der eine Grund ist der, daß wir im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr fähig wurden, hinter die Beweggründe des einzelnen Menschen zu schauen. Wir wissen sehr viel, wie soziale und psychische Gegebenheiten aus der Kindheit und später uns beeinflussen und zu dem machen, was wir sind. Und damit liegt es auch oft nahe, unser Verhalten und unser Tun wegzuerklären oder zu entschuldigen. Er kann nichts dafür, sagen wir, bei der Kindheit und all dem, was er durchgemacht hat. Und es ist natürlich auch gut, daß wir Verständnis dafür haben, daß die Umwelt uns prägt, und daß wir deshalb einen Menschen nicht ohne Weiteres verurteilen, sondern ihn verteidigen.

Das Problem ist: Wenn wir nicht von der Verantwortung und Schuld des einzelnen reden, dann verliert der einzelne seine Würde. Dann sind wir eigentlich nicht mehr richtige Menschen, die sich für oder gegen etwas entscheiden können und Verantwortung übernehmen für die Entscheidungen, die wir treffen. Dann sind wir Opfer der Verhältnisse und keine freien Menschen mit Willen, Gewissen, Schuld und einem Bewußtsein davon, daß es etwas gibt, das wir sollen. Schuld und menschliche Würde gehören also zusammen.

Ein sehr deutliches Beispiel dafür kann man in dem norwegischen Buch von Paul Leer-Salvesen sehen. "Nach dem Mord" heißt das Buch und es enthält eine Reihe von Interviews mit Gefangenen, die einen Mord begangen haben. Fast alle Gefangenen sind unter schrecklichen Verhältnissen aufgewachsen, Verhältnissen, die in einem gewissen Maße ihre Untaten erklären könnten. Aber keiner von ihnen will das eingestehen. Sie halten vielmehr an ihrer Verantwortung, ihrer Schuld fest. Das ist nicht zu entschuldigen, sagen sie, und das Schlimmste, was sie sich vorstellen können, ist, daß ihnen in einer Untersuchung ihres Geisteszustandes die Verantwortung für das genommen wird, was sie getan haben. Und das gibt zu denken: Selbst mit einer noch so schrecklichen Vergangenheit wie der, die diese Gefangenen gehabt haben, ist es doch so, daß sie trotz allem ihre Würde in der Verantwortung, in der Schuld haben. Nimmt man die Schuld von ihnen, sind sie nichts mehr.

Ein Gefangener drückt sich so aus: "Es war nicht die Schuld meines Vaters oder meiner Mutter, daß es passierte. Ich habe mich betrunken, ich habe das Messer in die Tasche gesteckt. Und wenn mein Sohn groß genug ist, werde ich ihm erzählen, was ich getan habe, und von dem Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin, und daß das alles sehr schlimm war. Ihm soll es ganz anders ergehen, mit festen Rahmen und Normen. Und mit viel Liebe."

Es ist die Schulderkenntnis, die einen solchen Menschen weiterbringt in seinem Leben, nicht indem er sich aus der Verantwortung stiehlt - auch wenn man wirklich meinen könnte, daß es dafür gute Gründe gegeben hätte. Die Schuld, die Verantwortung, ist für ihn ein Zeichen dafür, daß er trotz allem ein Mensch ist und nichts weniger als das.

Dennoch gibt es heute viele Menschen, die lieber anderen die Schuld geben, der Gesellschaft, der Schule, den Krankenhäusern und den Ärzten, ihren Eltern, die ihnen nicht die Kindheit gegeben haben, von der sie geträumt hatten - lieber das als schuldig selbst das Leben anzunehmen, das sie faktisch gelebt haben.

Das letztere hängt für mich mit einem anderen wichtigen Grund dafür zusammen, daß wir nicht mehr von Sünde und Schuld in unserem Leben reden wollen. Dieser andere Grund ist der, daß wir nicht mehr uns selbst in erster Linie als Bürger in einer Gesellschaft sehen, mit Aufgaben und Pflichten, die wir zu übernehmen haben, sondern als Verbraucher mit Rechten und Ansprüchen.

Ich glaube in der Tat, daß sich in den letzten 40 Jahren eine bemerkenswerte Veränderung in unserer Selbstwahrnehmung vollzogen hat. Aus Bürgern sind Verbraucher geworden. Das macht einen entscheidenden Unterschied.

Der Bürger sieht sich selbst als Teil eines größeren Zusammenhanges, dem er sich verpflichtet fühlt. Der Bürger weiß deshalb auch, daß es etwas gibt, das er der Gesellschaft schuldig ist. Wenn es not tut, muß er der Gesellschaft einen Dienst tun. Er ist den Alten in der Familie verpflichtet, für all das, was sie ihm gegeben haben. Er schuldet ihnen deshalb ein würdiges und gutes Alter. Seinen Kindern schuldet er eine gute Kindheit, die ein Gefühl vermittelt für das, was wahres Leben und wahre Gemeinschaft ist, damit die Kinder gute und verantwortungsvolle Bürger sein können. Er ist verpflichtet, anderen Menschen Respekt entgegenzubringen, und er weiß, daß er die Aufgabe hat, wie auch immer denen zu helfen, die seine Hilfe brauchen.

Der Bürger ist nicht selbst Mittelpunkt seines Daseins, er versteht sich als Teil eines großen und sinnvollen Ganzen, dem er viel verdankt und dem er sich verpflichtet fühlt. Ganz anders verhält es sich mit dem Verbraucher. Er fühlt keine Verpflichtung, sondern hat eine Welt, die offen vor ihm liegt, eine Welt, die er kaufen oder gewinnen kann, erleben oder verbrauchen. Ja, das Dasein ist in Wirklichkeit für ihn wie ein großer Supermarkt, wo es nur darum geht, das zu wählen, wozu man Lust hat, was meistens alles bedeutet. Natürlich möchte er fast alle Waren ausprobieren, die auf den Regalen des Daseins ausliegen. Und wenn da etwas ist, was er nicht kaufen oder bekommen kann, dann weiß der Verbraucher sehr wohl, daß der Kunde im Zentrum stehen soll, und dann hat man immer die Möglichkeit, sich zu beschweren oder auf seinem Recht zu bestehen.

Natürlich muß der Verbraucher auch etwas beitragen. Er muß arbeiten und Geld verdienen, viel Geld, um sich all das leisten zu können, was er gerne erleben, kaufen und sehen will. Das Ziel aber ist stets sein eigenes Leben. Es geht darum, optimale Möglichkeiten für Lebensentfaltung und Lebensgenuß herzustellen. Unausdenklich, wenn da etwas wäre, das einem entgangen ist. Eine gewisse Ungeduld, ein gewisser Verzicht oder auch nur ein bißchen Demut - das ist nicht Sache des Verbrauchers. Er soll ja einen größtmöglichen Teil der Glückseligkeit des Daseins erobern.

Da liegen, könnt ihr hören, Welten zwischen dem Bürger und dem Verbraucher - auch wenn natürlich niemand von uns der souveräne gänzlich unverpflichteter Verbraucher ist, den ich hier geschildert habe. Wir sind ja alle Bürger und Verbraucher. Aber es hat sich etwas verändert. Wir fühlen uns nicht mehr wie früher einem gesellschaftlichen oder familiären Ganzen verpflich­tet. Es geht um mein Leben und meine Möglichkeiten und nicht um das, was ich soll. Ich habe Ansprüche und Rechte, auf denen ich bestehen kann. Aber wir haben weitgehend den Sinn dafür verloren, daß wir mit Engagement und persönlichem Einsatz verpflichtet sind, einer größeren Sache zu dienen, einem größeren Ganzen als uns selbst. Und damit haben wir auch den Sinn dafür verloren, daß wir verantwortlich sind, Schuldner, Sünder, die an sich selbst denken, statt dort zu sein, wo sie gebraucht werden.

Warum bin ich schuldig, warum bin ich ein Sünder, fragen wir, und was soll ich dann eigentlich mit der Vergebung, von der das christliche Evangelium spricht?

Ich glaube, mann sollte es ganz konkret sehen. Das Bewußtsein, schuldig zu sein, ein Sünder zu sein, ist ja kein Gefühl, in dem wir schwelgen sollen auf Kosten einer natürlichen Freude über uns selbst und unser Leben. Wir kennen von früher die Form von Christentum, in dem man in einer aus meiner Sicht ganz abartigen und krankhaften Weise auf seine eigenen Schwächen oder Sünden fixiert ist. Nein: Wenn wir sagen, wir sind Schuldner, Sünder, dann ist das eine ganz realistische Beschreibung dessen, was wir sind. Wir sind Schuldner in bezug auf vieles, wir sind immer schon verpflichtet - und wir sind dennoch meist mit uns selbst beschäftigt. Wir sind nicht vollkommen, wir vergeuden Lebensmöglichkeiten, wir entscheiden uns für das eine und nicht das andere, wir lassen Menschen im Stich und können das nicht wieder gut machen. Als Sünder, als Schuldner stehen wir dazu, daß wir die unvolkommenen Menschen sind, die wir nun einmal sind.

Und ebenso sollen wir die Vergebung und die Liebe Gottes nicht als etwas allzu Luftiges und Gefühlsmäßiges auffassen, in dem wir schwelgen können. Im Gegenteil, die Liebe Gottes zu Sündern zeigt sich in den Evangelien in etwas ganz Konkretem. Es handelt sich nicht bloß um einen himmlischen Freibrief: Du bist trotz allem ok, oder wie man es nun ausdrücken will. Nein Jesus sitzt zu Tische und ißt mit Zöllnern und Sündern, die ja in der damaligen Gesellschaft ausgestoßen waren nicht nur aus der gutes Gesellschaft, sondern aus jedem verantwortlichen Lebenszusammenhang. Man rechnete nicht mit ihnen. Jesus aber bezog sie in eine Gemeinschaft ein, er gab ihnen eine Aufgabe. Deine Sünden sind dir vergeben, sagt er, gehe hin und sündige nicht mehr. Kehre zurück in den Zusammenhang, aus dem du kommst, dort sollst du leben, deinen Beitrag leisten, dich selbst geben.

Dasselbe sagt der Engel zu den Frauen am Grabe: Ihr sollt nicht trauern, nicht hier am Grab verweilen, sondern zurück nach Galiläa gehen. Dort findet ihr den Sinn, dort begegnet ihr eurem Herrn.

Oder auch Jesus sagt, wie heute zum Zöllner Levi: Folge mir nach! Wir sollen nicht immer da bleiben, wo wir sind, manchmal müssen wir aufbrechen, uns bewegen, um Sinn und Zusammenhang in unserem Leben zu finden.

Das Entscheidende ist, daß Jesus Menschen mit in einen Lebenszusammenhang, eine Gemeinschaft hineinnimmt, aus der sie verstoßen waren. Dort sollt ihr sein, zeigt er, als die Menschen, die Sünder, die ihr seid. "Ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder", sagt Jesus auch. Die Gerechten sind die, die sich selbst genug sind und die sich nicht bewußt sind, jemandem etwas schuldig zu sein. Ein Sünder weiß, daß er in vieler Hinsicht den Sinn verfehlt hat, aber daß es entscheidend ist, daß es einen Sinn gibt, einen Zusammenhang, der noch immer etwas von ihm will.

So ruft Jesus Sünder zurück ins Leben, in die Freuden und Schwierigkeiten, die Aufgaben und Pflichten, die uns dort erwarten. So konkret ist das.

Sünde kann uns trennen vom Sinn des Lebens, des Lebens, das uns Gott gegeben hat. Aber in der Vergebung schlägt Gott eine Brücke über diese Kluft der Trennung, damit wir wieder in das Land des Lebens gehen können. Vergebung ist also nicht nur eine luftige Glückseligkeit. Das bedeutet: Es gibt Wichtigeres als deine Sünde. Es gibt etwas, was du sollst. Eine Liebe, die dich fordert, ein Leben, an dem du teilhaben sollst.

So ruft Gott uns Tag für Tag. Wir vergeuden zwar gute Möglichkeiten für Leben, wir sind so mit uns selbst beschäftigt und dem, was uns gehört, daß wir uns von dem Zusammenhang isolieren, in den wir gehören. Aber jeden Tag, an dem wir aufstehen, hat Gott die Brücke zum Leben geschlagen, damit wir wieder ins Festland des Lebens gehen und einander begegnen können, uns auf all das werfen können, was da nun einmal zu tun ist. Aber das erfordert natürlich, daß wir den Weg auch be­schreiten, die Vergebung Gottes annehmen und damit das Leben auf uns nehmen, das wir so gut, wie wir es können, leben sollen.

Wir werden also zum Leben berufen. Ich denke daran, daß der Ausdruck Berufung ja ein alter bürgerlicher Ausdruck ist, den wir kaum noch verwenden. Heute haben wir eine Arbeit, weil wir sie mögen oder weil wir gerne Geld verdienen möchten. Aber wir sehen sie nicht als Berufung. Früher war eine Berufung nicht nur mit der Arbeit des Pfarrers, Lehrers, der Krankenschwester verbunden, es war überhaupt eine Berufung in den Dingen, mit denen wir zu tun hatten. Ein Wissen darum daß hier etwas da war, dessen ich mich annehmen mußte. Und es war nicht so, daß das eine Werk mehr zählte als das andere, es ging nicht darum, große und augenfällige Projekte in Angriff zu nehmen. Sondern es ging darum, ernst und mit der eigenen Person das zu tun, was gerade erforderlich war.

So ruft Gott uns ins Leben, als die unvollkommenen Sünder, die wir sind. Wir sind keine ganzen Menschen, wenn wir uns selbst bloß als Verbraucher sehen, die an den Genüssen und Gütern des Daseins teilhaben sollen. Aber Gott ruft uns zu einem Leben in Liebe, Pflicht, Verantwortung, Schuld - und darin liegt seine Vergebung: Daß wir das stets und trotz unserer selbst dürfen. Amen.

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e-mail: erha@km.dk

 


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