Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 26. September 2004
Predigt über
2. Timotheus 1, 7-10, verfaßt von Johann-Stephan Lorenz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Agende
Orgelvorspiel
Confiteor
Im Psalm 68 heißt es: „Wundersam ist Gott in seinem Heiligtum. ER wird seinen Menschen Macht und Kraft verleihen.“
Wir hören diese Worte, aber glauben wir sie?
Erwarten wir von Gott, dass er uns Macht und Kraft gebe?
Ich fürchte viel zu oft, nein! Deshalb gehen wir Christen in den Gottesdienst, um Worte, die uns an unsere Sehnsucht und Hoffnung auf Gott erinnern, immer wieder zu hören und mit IHM in unsren Gebeten und Lieder zu sprechen. Wir geben damit zu: wir Menschen machen bei dem Versuch unsere Macht und Kraft woanders zu suchen unser eigenes und das Leben vieler anderer Menschen oft noch mehr zur Hölle. Deshalb beten wir am Anfang:
Allmächtiger Gott, erbarme dich unser, vergib uns unsere Schuld und führe uns zum ewigen Leben. Lasst uns diesen Gottesdienst mit einem unbeschwerten Herzen und fröhlichen Lippen feiern durch Christum, unseren Herrn.
Und wir erhalten gleich zu Beginn die Antwort, die sich durch diesen ganzen Gottesdienst bestätigen möge:
Gott hat sich schon lange unserer erbarmt, er hat seinen Sohn für uns in den Tod gegeben, er hat uns vergeben und alle, die das glauben können, befähigt, Gottes Kinder zu sein. Und sein Heiliger Geist wir mit ihnen sein. Wer das glauben kann, der wird auch selig werden. Das verleihe Gott uns allen. Amen.

Psalmlied nach Psalm 68 ( z.B. Handbuch der Psalmlieder Christlicher Liederverlag Giesela Hoppe, Emden 1985,) Steh auf in deiner Macht o Gott ( Mel: Es sind doch alle selig die)
Gloria patri - Kyrie - Gloria in excelsis - Kollektengebet
Alttestamentliche Lesung: Klagelieder 3, 22-32
EG 364, 1-4 „Was mein Gott will gescheh allzeit“
Evangelium: Johannes 11 - Credo
EG 113, 1. 5.6.8 „O Tod, wo ist dein Stachel nun“
Predigt 2. Tim 1, 7-10
EG 346, 1-3 „Such wer da will, ein ander Ziel“
Abkündigungen
EG 316, 1-5 „Lobe den Herren, den mächtigen König“
Fürbitte - Vater unser - Entlassung - Segen
Orgelnachspiel

Predigt

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen

Liebe Gemeinde,

Bill Gates, der Besitzer des Windows-Konzerns soll einmal gesagt haben: „Wer die Bilder beherrscht, beherrscht die Köpfe der Menschen.“

Ich glaube das wäre ein trefflicher Hinweis auf die Lebensfrage, um die sich alle heutigen Texte und Lieder, die wir gehört und gesungen haben, drehen. Ich würde sie etwa so formulieren:

Haben wir Christen der Angst, der Scham, dem Vernichtungsgefühl, die uns ständig, mehr oder weniger drängend begleiten, etwas entgegenzusetzen?

Das Thema, die Frage klingt schon im 68. Psalm, den wir gesungen haben, an. Da werden Bilder benutzt von Einsamen, die in einem Haus beieinander wohnen, von Gefangenen, die ins Glück hinaus geführt werden, von Begleitung durch die Wüstenstrecken des Lebens und der Rückkehr in die Heimat, aus den tiefen Abgründen des Unglücks, das uns ersäufen will.

Verstärkt wird es durch die alttestamentliche Lesung aus den Klageliedern. Dort tauchen Bilder von Menschen auf, die ihr Joch tragen müssen, das so schlimm ist, dass sie es nur noch einsam und schweigend ertragen können, da ist von Menschen die Rede, die mit ihrem Gesicht „im Dreck liegen“, weil sie der Gewalt willkürlich beschämend ausgesetzt sind.

So haben Menschen schon zu biblischen Zeiten die Welt und ihr Leben erfahren müssen. Diese Erfahrungen sind nicht weit von denen entfernt, die auch wir heute machen.

Für uns kommen dann die Bilder wieder, die die Folterung Gefangener in irakischen Gefängnissen zeigen; der Videoclip der Kinder und Lehrer in Beslan im Kaukasus, als ihre Schule von Terroristen gestürmt wurde; da kommen Bilder von Hubschraubern der sudanesichen Armee, die Frauen und Kinder vor sich her in die Flüsse treiben, wo sie dann ertrinken. Da kommen die Bilder wieder, die den Angriff auf das Worldtrade Center in New York zeigen. Wir, liebe Gemeinde, könnten die Aufzählung fortsetzen – sie würde uns am Ende die Kehle zuschnüren.

Aber nicht nur wenn wir in die große Welt schauen, auch ganz nahe bei uns sehen wir Menschen, die „Gras fressen“ müssen, deren Joch so schwer ist, dass sie es nur noch einsam und schweigend ertragen können, sind mit Menschen zusammen, die der Angst und Scham durch Willkür ausgesetzt sind. Manchmal sind wir es sogar selber, die solches und noch viel mehr erlitten haben oder erleiden müssen. Wir alle könnten, denke ich eine solche Dramaturgie des Todes in unserem Leben beschreiben.

Haben wir Christen der Angst, der Scham, dem Vernichtungsgefühl, die uns ständig, mehr oder weniger drängend begleiten, etwas entgegenzusetzen?

Bill Gates hat darauf hingewiesen, dass die Bilder, die wir in unseren Köpfen haben darüber entscheiden, was wir dem entgegenzusetzen haben. Ich gehe im Oktober nach Omsk in Sibirien, um dort die Leitung des Christuskirchenzentrums zu übernehmen. Da ist es nicht fern, dass mir F. M. Dostojewski einfällt. In seinen „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“ beschreibt er die ersten Tage seiner Gefangenschaft in Sibirien, die er in Omsk verbringen musste, bevor er an seinen endgültigen Verbannungsort geschickt wurde.
Lesen sie sie nicht am Abend, sonst können sie die Nacht nicht ruhig schlafen!

Gibt es Bilder, die unser ganzes Leben prägen können und die am Ende darüber entscheiden, wieviel Vertrauen wir gegen die Angst, die Scham und das Vernichtungsgefühl setzen können?

F.M. Dostojewski berichtet in seinem Tagebuch eines Schriftstellers an ein solches inneres Bild. Es war während seiner Verbannung in Sibirien im Alter von 29 Jahren, der zweite Ostertag, ein arbeitsfreier Tag und alle anderen verbrachten diesen Tag mit Trinken und Spielen, um ihre unglückliche Lage vergessen zu machen. Dostojewski liegt auf seiner Pritsche und ihm fällt eine Begebenheit ein, als er im Alter von neun Jahren in seiner Heimat am Rande eines Waldes spielte. Plötzlich ruft jemand: „ Ein Wolf kommt!“ Das Kind Dostojewski erschrickt zu Tode und läuft in seiner Angst zu einem Bauern, der in der Nähe unter Mühen sein Feld pflügt. Atemlos keucht er: „Ein Wolf kommt!“ Der Bauer streicht ihm über die Haare und sagt: „Na sieh mal, du hast dich aber erschreckt! Lass man gut sein Jungchen…Christus ist mit dir!“

„Ich erinnerte mich an das zärtliche mütterliche Lächeln des armen leibeigenen Bauern, an das Bekreuzen seiner Hand…und wie er vor Verwunderung den Kopf wiegte: „Sieh mal an, Du hast dich aber erschreckt, Jungchen!“ Und besonders an seinen dicken erdbeschmutzten Finger erinnerte ich mich, mit dem er leise, wie mit schüchterner Zärtlichkeit, meine zuckenden Lippen berührte. Natürlich hätte auch jeder andere ein erschrecktes Kind beruhigt, aber hier bei dieser einsamen Begegnung geschah gleichsam noch etwas ganz Anderes….die Begegnung geschah in der Einsamkeit, auf freiem Felde, und nur Gott allein hat vielleicht von oben zugesehen, mit wie tiefem und allwissendem Menschengefühl, mit wie spürsinniger, nahezu weiblicher Zärtlichkeit des Herz manch eines tierisch unwissenden leibeigenen russischen Bauern erfüllt sein kann.“

Ich lese diesen Bericht wie einen Kommentar zu unseren heutigen Texten, besonders dem Evangelium, der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus.

„Als ich…von der Pritsche aufstand und um mich schaute, fühlte ich plötzlich, ich weiß es noch, dass ich diese Unglücklichen mit ganz anderem Blick betrachten konnte, und dass auf einmal wie durch ein Wunder jeder Hass und jede Wut aus meinem Herzen verschwunden waren. Ich ging und beobachtete aufmerksam die Gesichter, denen ich begegnete. Dieser Kerl mit dem rasierten Schädel und dem gebranntmarkten Gesicht, der betrunken mit heiserer Stimme sein Lied gröhlt, kann doch vielleicht auch so ein Bauer sein…“

Die Bilder, die wir im Kopf haben, weiß Bill Gates sehr richtig, bestimmen wie wir uns inmitten dieser Welt fühlen und was wir schon jetzt der Angst, der Scham und dem Vernichtungsgefühl entgegensetzen können.

Jesus sagt in unserem heutigen Evangelium:
„Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder der lebt, und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“

Und ich glaube, Jesus meint damit auch eine Auferstehung aus dem Reich der Verbannung und des Todes in dieses unser irdisches Leben schon jetzt hinein. So wie sie Dostojekwski in seinem Erlebnis vom 2.Ostertag geschildert hat. Eine Auferstehung, die schon jetzt stattfinden kann.

Und dann erfahren wir: der Tod ist nicht mehr und alles was der Tod an Macht hat, die würgende Angst, die drückende Schuld, die unendlich scheinende Trauer über das, was unser Leben und das Leben der anderen Menschen zur Hölle macht, kann überwunden werden in der Gewissheit des Vertrauens, dass Jesus Christus das Leben ist, wie es von Gott seit Urzeiten gewollt war.

Diese überschreitende Erfahrung der letzten Grenze, die sich inmitten unseres Lebens zieht und immer wieder das Ende zu markieren scheint, beschreibt Paulus in dem Brief an seinen Freund und Mitarbeiter Timotheus.
Es scheint mir wie ein paulinischer Kommentar zur Geschichte der Auferweckung des Lazarus:
Denn der Heilige Geist, den Gott uns geschenkt hat, ist nicht ängstlich, sondern kräftig, voll Liebe und Klugheit. Deshalb kannst du dich ohne Angst und Scheu zu dem bekennen, was unser Herr durch sein Wort verkündet und durch seinen Weg bezeugt hat. Du brauchst dich auch meiner nicht zu schämen, der ich um seinetwillen in Gefangenschaft bin. Sondern, wenn das Evangelium leidet, dann leide mutig mit! Gott wird dir die Kraft dazu geben. Er hat uns von allem, was Angst macht befreit und uns berufen, so dass wir nicht mehr wie die anderen sind, sondern heilig, weil wir Gott gehören, und geadelt durch Gottes Gnade. Denn was wir sind, verdanken wir nicht dem eigenen Handeln, sondern Gott. Er hat uns ganz persönlich gewollt, und seine Absicht war es schon vor ewigen Zeiten, uns ganz eng an Jesus Christus zu binden. Diese Gnade Gottes ist erst jetzt sichtbar geworden, da Jesus, der Messias, unser Befreier, erschienen ist. Er hat den Tod besiegt und uns Menschen durch das Evangelium mit dem Licht und der Klarheit erfüllt, die Leben, unzerstörbares Leben bedeutet. (Übersetzung K. Berger)

Paulus beschreibt die Macht und Kraft des Bildes von der Auferstehung in das Leben hinein, das die Dramaturgie des Todes in unserem Leben endgültig beendet. Dieses Bild kann uns von aller Angst befreien, ja es macht uns heilig, zu Gott selbst gehörig. Wir fangen an, die Welt, wie grausam sie auch sein mag aus der Perspektive Gottes, mit den Augen der vergebenden Liebe zu sehen. Denn wir merken: dieser Gott hat uns ganz persönlich gewollt.

Dieses Bild in unseren Köpfen verändert tatsächlich alles, wenn es zu wirken beginnt: denn nun spüren wir, dass wir durch Christus das ewige Leben schon jetzt in uns haben, und tun können, was Jesus getan hat und noch viel mehr! Deshalb zeichnet dieses Bild das Leben, das unzerstörbare Leben ab.

Jetzt kann es dann auch seine Macht und Wirkung in unserem Leben entfalten. Nicht nur sehen wir die Dinge nun in einem anderen Licht, sondern wir werden auch anders handeln können. Warum denn erregen uns die Bilder der Folteropfer in den Gefängnissen, die Bilder der Todesangst der Kinder von Beslan und das Schreien der Mütter und Kinder im Sudan? Warum empören wir uns und verlangen nach Abhilfe und schließen uns zusammen, um zu helfen?

Vielleicht, weil wir dieses Bild des unzerstörbaren, auferstandenen Lebens in uns tragen, das Jesus uns in seinen Tagen vorgelebt hat; vielleicht, weil wir seinen Geist spüren, der uns kräftig macht, klug und ganz liebend. Und weil wir uns nicht mehr schämen dieser grausamen Welt eine andere Welt entgegenzuhoffen. Vielleicht weil wir nun wissen:

Gott hat uns ganz persönlich gewollt, und seine Absicht war es schon vor ewigen Zeiten, uns ganz eng an Jesus Christus zu binden. Diese Gnade Gottes ist jetzt sichtbar geworden, da Jesus, der Messias, unser Befreier, erschienen ist. Er hat den Tod besiegt und uns Menschen durch das Evangelium mit dem Licht und der Klarheit erfüllt, die Leben, unzerstörbares Leben bedeutet

Dostojekwski hat auf seinem Sterbebett seinen Kindern solches gesagt: „Habt unbedingtes Vertrauen auf Gott und verzweifelt niemals an seiner Verzeihung. Ich liebe euch sehr, aber meine Liebe ist nichts neben der unendlichen Liebe Gottes für alle Menschen, die er geschaffen hat.“

Das Bild der Liebe möge in unseren Köpfen und Herzen seine Macht und Kraft entfalten, dadurch haben wir schon jetzt Teil an der Auferstehung des Lebens – unseres Lebens! -, und von nun an können wir unsere Welt ganz und gar – liebevoll – verändern.

Gottes Heiliger Geist befestige diese Wort in euren Herzen, damit ihr das nicht nur gehört, sondern auch im Alltag erfahrt, auf daß euer Glaube zunehme und ihr endlich selig werdet, durch Jesum Christum unseren Herrn. Amen

Johann-Stephan Lorenz
Pastroalpsychologischer Dienst
im Sprengel Calenberg Hoya
Mindener Str 24
31737 Rinteln
05751-918450
johannstephanlorenz@t-online.de


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