Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

14. Sonntag nach Trinitatis, 12. September 2004
Predigt über
Römer 8, 12-17, verfaßt von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Geschwister,

Paulus macht sich Sorgen. Anlaß zur Sorge gibt ihm die Lage der jungen christlichen Gemeinde in Rom. Denn dort gibt es zwei Richtungen, und diese zwei Richtungen driften immer weiter auseinander. Sie diskutieren ihre Standpunkte nicht mehr, sondern behaupten sie nur noch. Auch nehmen sie je für sich in Anspruch, die richtige Art des Glaubens zu kennen, zu haben und zu vertreten - was dann zwangsläufig dazu führt, die jeweils andere Meinung als Irrglauben abzutun und zu bekämpfen.

Der einen Gruppe geht es darum, ihre alten Traditionen zu erhalten und zu pflegen, auch in der neuen Zeit das Erbe der Väter zu bewahren. Sie achten streng darauf, daß alle Vorschriften und Regeln eingehalten werden, und zwar von allen. Diese Gruppe besteht aus Juden, die zum Teil schon über Generationen in Rom leben und als kleine fromme Minderheit in heidnischer Umgebung ihre Traditionen besonders heftig pflegt - wie Minderheiten das so machen. In der christlichen Botschaft finden sie die Erfüllung ihrer religiösen Hoffnung, aber der christliche Glaube ist für sie die Fortsetzung ihres alten Glaubens.

Die andere Gruppe besteht aus ehemaligen Heiden: Römer, Griechen, Gallier, vereinzelte Germanen und auch einige Afrikaner. Sie stammen aus verschiedenen Religionen und Weltanschauungen, aus unterschiedlichen Kulturen. Für sie ist der christliche Glaube etwas ganz Neues, und der Eintritt in die christliche Gemeinde bedeutet für sie Abschied von vertrauten Sitten und Gebräuchen. Das ist nicht einfach, und eben deshalb erwarten sie das auch von den anderen, und zwar von allen. Auch von den Juden, deren Vorschriften und Regeln sie eh nicht verstehen.

Paulus macht sich also Sorgen wegen dieser Auseinandersetzung, und manchmal denkt er: Die spinnen, die Römer. Aber das hilft nicht weiter, ihm nicht und der römischen Gemeinde auch nicht. Den gelernten Juden muß er sagen: Seht das doch nicht so eng, seid doch lockerer, denn euer Seelenheil hängt nicht an äußeren Formen. Den gelernten Heiden muß er das Gegenteil klarmachen: Ihr könnt nicht so weiterleben wie bisher. Ohne verbindliche Lebensordnung ist christliches Leben nicht möglich. Und beides soll in einem Brief stehen, damit beide Seiten beides zu hören bekommen: Die Juden, daß sie vom Gesetz befreit sind, daß sie gerecht werden ohne des Gesetzes Werke, allein aus Gnade. Und die Heiden, daß sie von der Sünde befreit sind, vom „Fleisch“, wie Paulus das nennt, und daß das Reich Gottes nicht in Essen und Trinken besteht, sondern in Gerechtigkeit und Friede.

Nun ist Paulus Menschenkenner genug um zu wissen, daß beide Seiten in jedem Menschen stecken: Einerseits treibt der „Bauch“ zu unüberlegten Reaktionen und Taten, und andererseits sitzen zahllose Gebote und noch mehr Verbote im Kopf. Wut im Bauch z. B. will die Faust ballen und zuschlagen, und der Kopf sagt: Das darfst du aber nicht.

Und zwischen Kopf und Bauch sitzt das Herz. Wer mit dem Herzen sieht und hört, wer von Herzen glaubt, der wird gerecht, der reagiert richtig. Wer „Schuldner des Fleisches“ ist, wie Paulus schreibt, wer sich von seinem Bauch regieren läßt, von seiner Triebhaftigkeit, der ist als Mensch ebenso tot wie jemand mit „knechtischem Geist“, der aus Angst vor Regelverletzungen handlungsunfähig ist. Beides, schreibt Paulus nach Rom, ist nicht das Leben der Kinder Gottes: Gottes Kinder sind erlöst vom Diktat der Sünde - und vom Diktat des Gesetzes. Denn beide Diktaturen machen ein Leben in Gemeinschaft unmöglich, verhindern oder zerstören es. Die Kinder der Welt werden vom Geist dieser Diktaturen getrieben, sie sind Kinder der Finsternis und des Todes. Dazu verdammen sie sich gegenseitig, dazu sind sie verdammt.

Gottes Kinder aber werden von seinem Geist getrieben, dem Geist des Friedens und der Gerechtigkeit, dem Geist der Wahrheit und der Freude, dem Geist der Barmherzigkeit und der Liebe; sie sind Kinder des Lichts und des Lebens. Dazu sind sie befreit, und dazu befreien sie einander.

Sie tun das, indem sie aus dem Geist Gottes heraus und in seinem Sinne handeln, denn Glaube ist nicht denken, sondern tun.

Aber was tun? Den beiden Gruppierungen in Rom rät Paulus, einander nicht zu verdammen, sondern nach Verständigung und gegenseitigem Verstehen zu suchen; die Hand nicht zu verweigern und sie nicht abzulehnen. Und er rät, sich um in Not Geratene zu kümmern, Hungernde zu speisen, Dürstende zu tränken, Fremde aufzunehmen, Feinden zu vergeben. So handeln Gottes Kinder und Erben, von seinem Geist getrieben; so ist Gottes Geist in konkretem Handeln zu erfahren. Solches Handeln ist eine Sprache, die jeder versteht. Taten der Barmherzigkeit und der Liebe, der Wahrheit und der Freude, der Gerechtigkeit und des Frieden sprechen für den Geist, der sie bewirkt, sprechen an seiner Stelle und zu seinen Gunsten. Sie sind Früchte des Glaubens, und aus solchen Früchten keimt neuer Glaube.

Liebe Geschwister, machen Sie mit mir einen Sprung vom antiken Rom ins moderne Deutschland: Der Apostel Paulus hätte heute ähnliche Sorgen. Die drei großen Konfessionen z. B. würden ihm diese Sorgen machen. 950 Jahre sind es genau, dass die römische Kirche sich von der orthodoxen getrennt hat; fast 500, dass die Kirchen der Reformation sich von Rom trennen mussten. Auch die EKD würde ihm Sorgen machen. Z. B. weil sie in mehr als einhundertfünfzig Jahren kein klares Ja zur Diakonie gesagt hat. Statt dessen fragt die Kirche immer wieder und laut, was denn diakonisches Handeln mit ihr zu tun habe.

Das Verhältnis evangelischer Kirchen untereinander und mancher Gemeinden zueinander würde ihm Sorgen machen, weil es dort durchaus knechtische Gestalten gibt, geistlos und hartherzig. Gestalten, die wie damals in Rom ihre einseitige Sicht christlichen Glaubens für die einzig richtige halten.

Was Paulus heute schreiben würde, haben wir gehört, nur würde er vermutlich eins wohl noch deutlicher sagen: Der aus dem Elend von Sünde und Gesetz befreite und erlöste Mensch handelt aus Dankbarkeit im Geist des Friedens und der Gerechtigkeit, im Geist der Wahrheit und der Freude, im Geist der Barmherzigkeit und der Liebe als Kind und Erbe Gottes. Amen

Paul Kluge, Pastor em.
Großer Werder 17
39114 Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de

 

 


(zurück zum Seitenanfang)