Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

5. September 2004
Eine Meditation aus bedrückendem Anlaß
, verfaßt von Klaus Schwarzwäller
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322 Tote (bisher)...
Eine Meditation aus bedrückendem Anlaß

Die vorgestern (3. 9. 2004) blutig beendete Geiselnahme in Beslan hat wohl von Anfang an niemanden unberührt gelassen; der Ausgang jedoch läßt Entsetzen, Trauer, ohnmächtige Wut und auch viele Fragen wach werden. Unter diesen Fragen quält auch die nach Gott und seinem von Theologie und Kirche seit je behaupteten Weltregiment: Gott – wo war er?

Wir fühlen uns in einer Zwickmühle: War er nicht da, dann – nun, dann ist das Christentum ein Seelenverkäufer, den man besser verließe. War er jedoch da, dann – erscheint es als schlechterdings unvorstellbar, daß er sehenden Auges diese Verbrechen habe geschehen lassen. Doch wenn er’s tat, dann scheint dem Glauben erst recht der Boden entzogen zu sein.

Bereits diese Alternative als solche scheint nur den Schluß zuzulassen, daß der Glaube an Gott zwar schön und kulturell folgenreich sei, doch eine bloße Illusion.

Nach aller Erfahrung steht freilich zu vermuten oder vielmehr zu befürchten, daß hier und da Theologen aufstehen werden, die uns exakt erklären, daß alles Gnade war oder aber, wenn nicht, warum genau Gott dies zuließ und daß, recht und bei Licht betrachtet, er auch gerade darin sich als unser allmächtiger himmlischer Vater erweise – o.ä. Wäre es nicht bis zur Trostlosigkeit ernst, man überließe sie und sich selbst dem schallenden Gelächter – Nun aber kann derartige (Pardon!) Klugscheißerei nur noch bis zum lodernden Zorn erbittern. Not und Unglück vertragen kein Pfaffengeplapper.

Einst düpierte der Prophet Amos seine Hörer aus dem Gottesvolk mit der rhetorischen Frage:

Ist etwa ein Unglück in der Stadt,
das der Herr nicht tut?

(Amos 3, 6b)

Ich habe oft auf diesem Vers gekaut – als Student nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ernstes und der Glut von Ernst Käsemann, der Gott gerade im Niederreißen, im Zerstören, im Zertrümmern am Werke sah und uns vor diesem Hintergrund lehrte, an den Vater Jesu Christi zu glauben. Ich habe auf diesem Vers gekaut, als ich später bei Luther von dem in seiner Majestät verborgenen Gott las, mit gesträubten Haaren und trockenem Mund las: Denn wenn, wenn auch das Gott, auch das unser Gott und der Vater Jesu Christi wäre, dann müßten wir (so schien mir) im Unabsehbaren versinken. Und ich habe auf dem Vers gekaut und kaue immer noch auf ihm beim Rückblick auf mein Leben und insbesondere bei der Vergegenwärtigung der Bilder – nie werde ich sie vergessen können! – der Buchenwald-Häftlinge, die zu Kriegsende in unserer Straße Aufräumarbeiten zu leisten hatten. Wir hungerten; nichts irgendwie Eßbares kam bei uns um. Und diese Menschen durchstöberten in ihren kurzen Pausen unsere Mülltonnen und aßen aus ihnen... Nach einem Bombenangriff lagen viele von ihnen zerfetzt auf der Straße –

Ich bin gelehrt worden und habe Anschauungsunterricht bekommen davon, daß unter Gottes Walten nicht nur Leben geschenkt, sondern auch genommen, nicht nur aufgebaut, sondern auch zerstört, nicht nur geholfen, sondern auch geschlagen, nicht nur Menschlichkeit bewahrt, sondern auch brutal verleugnet wird. Darüber ist mir die Theodizeefrage unerheblich geworden – der Philosoph Hermann Lübbe hatte recht, als er sagte, sie sei nur etwas fürs philosophische Proseminar. Zwar, sie stellt sich nicht nur, sie drängt sich uns auf: Wo war Gott? Wo ist seine Gerechtigkeit, wo seine Liebe, wo seine Macht? Wir wissen und erfahren jedoch Mal um Mal aufs neue: Diese Fragen, in dieser Grundsätzlichkeit gestellt, verhallen im Leeren. Antwort, authentische Antwort, sie erhalten wir allenfalls wie Hiob – und diese Antwort geht an unseren Fragen vorbei. So unser Wissen und unsere Erfahrung spätestens seit Hiob. Vor allem aber: Keine Theodizee kann aus der Welt schaffen: Gott handelt auch entsetzlich.

Damit mache ich nicht einfach Gott für jene Schwerverbrecher und ihr ruchloses Tun verantwortlich, die Hunderte von Kindern zu Geiseln nahmen und wie Gegenstände behandelten – hierfür so wenig wie für den entsetzlichen Nährboden, aus dem diese und andere Untaten erwachsen; ich stimme mit dem Rundfunkkommentator überein, der jedes Verständnis für dieserart Täter und Taten rundheraus verweigerte. Hier kann es nur mehr Entsetzen über das Geschehene, Anklage wider diese Mörder und Schreien zu Gott um Erbarmen geben und mit alledem den Willen, wo immer wir auf einschlägige Spuren stoßen, nicht still zu halten, sondern laut zu werden und zu handeln.

Das alles jedoch – Wenn es in einem diesseitigen Raum ohne Gott verbliebe: Ja, es wäre uneingeschränkt aller Ehren wert und auf der ganzen Linie zu unterstützen. Doch angesichts des Feixens derer, die die Machtmittel in ihren Klauen haben und keine Skrupel kennen, wissen wir zugleich, daß wenig Grund zu Hoffnung besteht. Seit Kain und Abel geht Gewalt noch allemal vor Recht.

Wenn es jedoch selbst unter den entsetzlichen Vorzeichen dieser heute (am Nachmittag des 4. September) bisher 322 Toten in einem Raum geschieht, den Gott in seinen Händen hält, in dem er nicht abwesend ist, dann – ja, was dann? Ich stoße vor allem auf dreierlei:

Dann hat unser Beten und Flehen und Schreien und Drängen und Fluchen und Seufzen zu Gott Sinn, weil einen Adressaten und ein Echo – und dann frage ich mich zugleich und nicht ohne Besorgnis und Selbstkritik, wo dieses Flehen der Christenheit bei uns und zumal in unseren regelmäßigen Gottesdiensten bleibe? Das Gleichnis vom ungerechten Richter (Lukas 18, 1-8) will mir dabei nicht aus dem Sinn gehen.

Dann haben wir – einmal mehr – zu lernen, daß unsere und Gottes Gedanken zweierlei sind und Gottes Handeln an uns allen weit über unsere Horizonte hinausreicht. Wir könnten das wissen, zumal es bekannt ist, doch wir haben Schwierigkeiten, es zu realisieren: daß nämlich er, Gott selbst, in Jesus Christus in Leiden, Folter, und Tod ging, was seither – Paulus sah völlig klar – für alle Denkenden und Empfindenden eine einzige, in ihr selber absurde Herausforderung ist. Und ich frage abermals besorgt und selbstkritisch, ob wir nicht immer schon dabei ist, uns das „Jesulein“ oder den „Bruder Jesus“ und mit ihm auch Gott nach unserem eigenen Bilde zu modeln, so selbstverständlich, daß es, wer weiß, immer wieder der Härte des Leidens bedarf – Ernst Käsemanns Einsicht – , um uns auf den wahren Gott aufmerksam werden zu lassen.

Dann sind wir versichert, daß weder wir noch unsere Lieben noch sonst ein Mensch Gottes Hand und seinem Wirken entrissen wird noch entrissen werden kann, wenn Verbrecher auftreten und ihre brutale Skrupellosigkeit ausleben – so wenig wie der Gottes Hand entrissen war, der in letzter Verzweiflung schrie: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wir verbleiben in ihr, so wahr er in der Taufe einen Bund mit uns schloß und im Herrenmahl sich uns selber gibt.

Nein, eine Lösung oder auch nur Linderung des Grauenhaftes haben wir nicht. Wohl aber haben wir angesichts dessen allen Grund, uns darauf zu besinnen, es zu meditieren, ihm nachzugehen, ihm zu folgen und es regelmäßig geltend zu machen – auch gegen uns selbst:

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
und was der Herr von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott.

(Micha 6, 8. Die letzte Zeile ist von Luther frei, doch insgesamt zutreffend übertragen)

Beslan aber dürfte uns eingebrannt haben: Hier geht es um die Wirklichkeit. Und die ist zu ernst, zu bedrückend ernst, als daß wir es uns selbst oder anderen durchgehen lassen dürfen, daß diese klaren Sätze an frommen Stammtischen und im theologischen Feuilleton zerredet werden. Es geht um unser Tun und Leben – beginnend schon mit dem ersten Halbsatz. Es möchte sein, daß wir selber eher Trost finden und anderen zu spenden vermögen, indem wir einfach und einfältig hiermit anfangen und dazu stehen und dabei dann auch uns das schwere Wörtlein „Demut“ zu Herzen nehmen.

Gott gebe uns allen die Gnade dazu.

Kyrieleison!

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
hweissenfeldt@foni.net

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