Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 5. September 2004
Predigt über
1. Johannes 4,7-12, verfaßt von Hinrich Buß
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Liebe Gemeinde,

Liebe bewirkt viel, sie führt sogar zu mehr Erkenntnis."Wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott", heißt es gleich im 1. Vers des Predigtabschnitts. Gotteserkenntnis und Menschenkenntnis werden gefördert. Ich habe vor Jahren einen Vortrag des Göttinger Neurologen Gerald Hüther gehört mit den Titel "Die Bedeutung der Liebe für die Evolution des Gehirns." Da meint man nun, die Entwicklung des Gehirns sei ein ablaufender biologischer Prozeß, und nun dies: Das Gehirn ist ein soziales Organ, am allermeisten auf Liebe angewiesen. "Um ein Kind vernünftig aufzuziehen, braucht man ein ganzes Dorf", lautet ein afrikanisches Sprichwort, wie ich in demselben Vortrag gehört habe. Ohne Liebe läuft nichts, auch nicht die Erkenntnis. Sie, die Liebe, ist eben nicht nur ein Gefühl, sie wirkt Erkenntnis fördernd und leitend.

Dieser Urimpuls, so der 1. Johannesbrief, Kapitel.4, Vers 7 ist aus Gott gekommen, ist aus ihm geradezu heraus gebrochen, so als habe er nicht mehr an sich halten können. Liebe ist ein Himmelsmacht, wie Brautpaare sehr wohl wissen. Sie überkommt einen, man und frau können sich gar nicht dagegen wehren. Ein junges Paar sitzt beim Pastor auf dem Trausofa. Der Ablauf der Trauung wird besprochen, die Worte des Versprechens werden vorgelesen: "Willst du diese Frau, die Gott dir anvertraut, als deine Ehefrau lieben und ehren.." - da rutscht die Hand des jungen Mannes zu seiner Braut hinüber, er tastet nach ihrer Hand, sucht sie und faßt sie behutsam an, so als wollte er fragen: Du, es stimmt doch, wir beide lieben uns und wir wollen zusammen halten und zusammen bleiben, nicht wahr? Und sie, sie nimmt seine Hand fest in die ihre, und man sieht, was sie ihm ohne Worte sagt: Ja, wir gehören zusammen. Ein schöner Augenblick der Liebe, nicht ohne Angst und doch sicher, es läuft ein Schauer über den Rücken und das Herz ist voller Glück. Hier ist die Aufforderung aus dem Johannesbrief nicht nötig, hier geschieht von selbst, was gefordert wird. Ja, die Liebe ist eine Himmelsmacht.

Sie wird empfunden vor allem in "guten Tagen". Doch was geschieht in den "bösen Tagen"? Manche laufen auseinander, sie können nicht durchstehen, daß einem das Leben böse mitspielt. Dabei lohnt es gerade Durststrecken gemeinsam durchzustehen, die Verbindung wird dadurch nicht schwächer, sondern fester.
Was für Menschen gilt, das in viel stärkerem Maße noch für die Liebe Gottes. Sie ist geradezu unglaublich stark. "Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, daß Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen." Die Sendung Jesu ist der handfeste Erweis der Liebe Gottes. Sie tritt eben nicht als abstraktes Prinzip in die Welt, sondern als gelebte Liebe. Die weltsgeschichtliche Bedeutung Jesu ist darin sichtbar und glaubhaft geworden, daß die Botschaft von der Liebe Gottes mit seinem Namen untrennbar verbunden ist und verbunden bleibt. Er ist es, der das Reich Gottes in Wort und Tat verkündet hat. Er ist es, der sich Menschen zugewandt hat wie keiner vor ihm. Er ist es, der die Sünden der Menschen sich hat aufladen lassen. Weil in ihm sich Gott und Mensch so nahe gekommen sind, ist die Liebe das Göttlichste an Gott und das Menschlichste am Menschen.

Es ist deutlich: Nur die Liebe zählt. Sie ist das Größte. "All you need ist love", haben die Beatles seinerzeit gesungen, und viele trälern es ihnen bis heute nach - "Alles, was du braucht, ist Liebe." Zustimmung von allen Seiten. Wenn Sie es nicht glauben wollen, nehmen Sie vorlieb mit folgendem Gegenbeispiel: Ein Mädchen hat Geburtstag, es hat die Freundinnen eingeladen oder wen sie dafür hielt, ihre ganze Klasse dazu, das 3. Schuljahr. Die Mutter hat gekocht und gebacken, der Vater ist sogar zu Hause geblieben, der Tisch ist festlich gedeckt - es kann nun losgehen. Das Mädchen wartet auf das Läuten der Türklingel, aber es rührt sich nichts. Kein Pieps, kein einziger Gast kommt. Das Geburtstagskind bleibt allein mit dem Kuchen und dem Kakao und den traurigen Eltern. Sie müssen allein feiern und essen, doch es schmeckt ihnen nicht. Das Mädchen fängt an zu heulen und mag nun überhaupt nicht mehr zur Schule gehen. Ohne Gäste zu sein am Geburtstag, ohne Freundinnen, ohne ein Zeichen von Zuneigung, das ist, als sei man Luft, ein Niemand, tot. Manche sind es auch bereits oder kommen sich so vor, überdecken es mit Kosmetik oder Kleidung oder lauten Worten.

Es stimmt: Liebe ist das Größte. Warum? Weil sie eine ganz einfache Botschaft hat: "Gut, daß du da bist." Wenn ich dies gesagt bekomme, schlägt mein Herz höher, vielleicht werde ich sogar rot und schäme mich zugleich dafür, aber sei's drum - wenn mich einer so anspricht oder ansieht und ich spüre, der mag mich, dann geht es mir durch und durch, ich kann 8 Jahre alt sein oder 18 oder 8o. Da ist jemand, der sich freut, daß ich auf der Welt bin. Er (oder sie) zeigt es mir, indem er mir auf die Schulter tippt oder auf die Füße tritt oder mich einlädt oder einen Kuß gibt auf die junge Backe oder auf die alte. Herrlich. Liebe oder auch nur ein Anflug davon ist das Größte.
Im Zug von Hannover nach Bremen habe ich einmal mit erlebt, wie sich zwei gut fanden. Sie redeten miteinander und schwiegen, blickten sich an und blickten weg, rückten sich näher und wieder ferner, wurden heftig und wurden verlegen, bis - viel zu schnell - der Zug in den Bahnhof in Bremen einfuhr und sie aussteigen mußte, zur Weiterfahrt nach Bremerhaven. Er blieb sitzen, wie angewurzelt, im Zug in andere Richtung. Doch es arbeitete in ihm, fieberhaft. Bis er plötzlich seine Tasche packte, aus dem Zug sprang und in den anderen einstieg, den in Richtung Bremerhaven. Er brauchte ihr nichts zu erklären, sie wußte Bescheid. Er war buchstäblich aus der Bahn geworfen, es zog ihn in eine andere Richtung. - Liebe kann viel, wenn sie einen packt, sie tut alles oder mit Paulus gesprochen: "sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, die duldet alles" (1, Kor.13,7). Sie ist das Größte, sie kennt keine Grenzen.

Doch spätestens bei dieser Formulierung meldet sich Widerspruch: Alles dulden? Muß man Menschen nicht davor bewahren, daß sie alles aushalten, muß man sie nicht davor schützen, daß sie alles auf sich nehmen? Es gibt Paare, die sich erst lieben und dann schlagen. Es gibt Frauen, die mit tiefen Augenringen herum laufen und nichts sehnlicher wünschen, als von diesem schrecklichen Mann an ihrer Seite getrennt zu werden, den sie einst geliebt haben. Der vielleicht nicht einmal gewalttätig ist, sondern nur langweilig und ihr auf den Wecker geht und sie zermürbt mit seinem immer gleichen Gerede. Menschen laufen auseinander, weil sie sich nicht mehr ertragen können. Liebe - das Größte? Sie kann auch der größte Betrug sein.
Zerbrochene Liebe hinterläßt eine Trümmerlandschaft. Lauter Stücke liegen umher, die man oder frau nicht mehr zusammen fügen kann. Die Trümmerlandschaft ist nicht nur äußerlich, sie findet ihr Gegenbild im Inneren. Einzelstücke, die wie Splitter in Körper und Seele stecken. Es braucht eine lange Aufräumarbeit.

Also Hände weg von der Liebe? Es ist gut, oft genug, auf Distanz zu gehen. Bei Paaren für begrenzte Zeit, um sich voneinander zu erholen. In anderen Beziehungen erst recht. Ich kann ohnehin nicht allen Menschen um den Hals fallen. Bei Arbeiskollegen und -kolleginnen empfiehlt sich das nicht, bei Nachbarn auch nicht ohne weiteres. Ein geordnetes Nebeneinander mit höflicher Distanz ist besser als ein dauerhaft gespanntes Gegeneinander. Distanz schafft Luft, gibt Raum zum eigenen Leben und zur Wiederannäherung.
Aber wenn es nun darum geht, die umher liegenden Beziehungstrümmer zusammen zu bringen, wer soll es dann richten? Es ist seltsam: Frauen wie Männer können schlechte Erfahrungen gemacht haben - trotzdem können und wollen sie von der Liebe nicht lassen. Sie ist halt mehr als die eigene Erfahrung, sie dringt von außen tief ins Innere, ohne daß man es hindern könnte, sie ist ein unvergleichliches Erlebnis und hat viele Facetten.

Es ist nötig, sie noch einmal und genauer in den Blick zu nehmen und so Spielarten zu unterscheiden. Es gibt die Liebe, die begehrt und besitzen möchte, die leidenschaftlich ist und zugreift, womöglich auch zuschlägt, Eros genannt - und man spürt bei diesem Wort das erotisch Prickelnde und Gefährliche. Es gibt die andere Spielart, die still genießt und sich freut an schönen Dingen des Lebens und sich diese gönnt, Philia genannt; man erkennt sie wieder in Philosophie oder Philharmonie, hat Freude an genauem Denken oder an der Kunst, speziell an Musik. Die dritte Spielart schließlich ist jene, in der Liebende sich selbst vergessen und für andere da sind, Agape genannt, von der Art Mutter Theresas oder jedes Menschen, der in dem anderen den Nächsten sieht. Sie kommt absichtslos daher und hilft mit Absicht. Sie ist grundlos in ihrem Handeln und gibt Grund unter die Füße. Sie sieht das Zerbrochene und findet das Heilende. Sie bringt sogar in eine eingetrocknete Beziehung neues Leben. Sie ist eine Himmelsmacht und darum für die Erde so nötig. Sie durchdringt alle anderen Arten der Liebe, adelt sie und gibt ihnen die Richtung vor. Sie ist schöpferisch und kann Liebenswürdigkeit herstellen.
Es ist offensichtlich diese Art der Liebe, die Johannes in seinem Brief in den höchsten Tönen preist. Im 12. Vers heißt es: "Niemand hat Gott jemals gesehen." Nein, wir wissen nicht, wie er aussieht. Wie auch sollte dies möglich sein? Wir würden als Erdenbewohner vermutlich von seiner Gegenwart versengt werden. Doch wir können wissen, was seine Art ist: "Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen." Die Liebe ist das Höchste und Beste, weil sie teil hat an seiner Art.

Ich komme zum Schluß. In keinem Lexikon könner wir nachlesen, was wir waren, bevor wir geboren wurden; in keinem Sachbuch können wir finden, was wir sein werden, wenn wir gestorben sind. Doch es könnte sein, daß wir, wenn wir sterben müssen, uns also auf die letzte Reise begeben, Reisefieber bekommen, aus Sehnsucht nach Liebe in Vollkommenheit. Weil wir dann endlich wissen, wie der siebte Himmel ist oder auch der erste, den wir erträumt haben und der nun Wirklichkeit wird. Wenn die Zukunft denn so rosig ist, allen Schlägen und Rückschlägen zum Trotz, wenn die Liebe nicht tot zu kriegen ist, weil von Gott herkommend und zu ihm führend, wie sollten wir ihr heute nicht bereits alles zutrauen und alles auf ihre Karte setzen?

Amen

Landessuperintendent i.R. Dr. Hinrich Buß
Göttingen, Ludwig-Beck-Str. 4, Tel. 0551-5316683

 

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