Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

13. Sonntag nach Trinitatis, 5. September 2004
Predigt über
1. Johannes 4,7-12, verfaßt von Peter Weigandt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


7 Geliebte, laßt uns einander lieben,
weil die Liebe aus Gott ist,
und jeder,
der liebt,
ist aus Gott gezeugt
und erkennt Gott.
8 Wer nicht liebt,
hat Gott nicht erkannt,
weil Gott Liebe ist.
9 Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen:
daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat,
damit wir durch ihn leben.
10 Darin besteht die Liebe,
nicht daß wir Gott geliebt haben,
sondern daß er uns liebte
und seinen Sohn sandte als Sühne für unsere Sünden.
11 Geliebte,
wenn Gott uns so geliebt hat,
müssen wir auch einander lieben.
12 Niemand hat Gott je geschaut.
Wenn wir einander lieben,
bleibt Gott in uns
und seine Liebe ist in uns vollendet.
(Übersetzung nach Hans-Josef Klauck, EKK XXIII/1)

Hier wird ganz dick aufgetragen, nicht mit einem Pinsel, sondern sozusagen mit dem Quast: achtmal lieben, fünfmal Liebe, zweimal Geliebte - und das in nur sechs Versen. Da gibt es keinen Zweifel, worum es geht. Da merkt selbst der Begriffstutzigste: Hier ist von der Liebe die Rede oder einfach von Liebe. Und was wird da alles von der Liebe gesagt! Daß sie aus Gott ist (7), daß Gott Liebe ist (8), daß die Liebe darin besteht, daß Gott uns geliebt hat (10.11), ja daß Gottes Liebe in uns vollendet ist (12).

Wenn aber wir als Menschen lieben, dann - so sagt Johannes - geht es immer darum, daß wir einander lieben (7.11.12), jedoch nicht darum, daß wir Gott lieben. Denn die Liebe ist immer eine Vorgabe, ein Geschenk Gottes (7.9.10.11). Wenn unsere Liebe also den Weg zu Gott findet, dann kann sie es nur darüber, daß wir einander lieben. Und auf diesem Weg kommen wir nicht daran vorbei, daß uns Gottes Liebe darin erschienen ist, daß er seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat (9).

Jetzt müssen wir nur noch klären, was das griechische Wort agápe bedeutet, das Johannes hier gebraucht und das mit „Liebe“ übersetzt ist. Es ist - so definieren die Altphilologen trocken - „die freundliche Hinwendung zu jemandem um dessen selbst willen“, es räumt ihm eine „Vorzugsstellung im Rahmen einer festen Bindung“ ein. Eigentlich ist damit alles klar, und mit diesem Wissen im Kopf und natürlich auch im Herzen kann, nein, darf nichts mehr mißlingen.

Doch warum wird so viel Liebe auf der Erde enttäuscht? Warum nutzt sich Liebe unter uns Menschen so ab? Warum haben wir soviel Angst, uns zu binden? Warum ist es immer wieder so, wie in Erich Kästners Gedicht „Sachliche Romanze“ (E. K.: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte. München 1998. S. 65)?

Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,
versuchten Küsse, als ob nichts sei,
und sahen sich an und wußten nicht weiter.
Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.
Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier
und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.
Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort
und rührten in ihren Tassen.
Am Abend saßen sie immer noch dort.
Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort
und konnten es einfach nicht fassen.

Warum ist das so? Liegt es daran, daß wir das Gute wollen, es aber am Ende doch nicht schaffen - der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach (Mk 14,38)? Ich vermute eher, daß wir öfter Liebe - und Liebe kann wie ein gut geschliffener Diamant sehr viele Facetten haben -, daß wir öfter Liebe mit Verliebtsein oder mit Zuneigung verwechseln. Und dafür gibt es durchaus einleuchtende Gründe.

Schon die Sprache verrät uns, daß wir, neigen wir uns jemandem zu, bei uns selber bleiben. Dann suchen wir im Gegenüber das eigene Spiegelbild und in der scheinbaren Verschmelzung auch wieder nur unser Ich. Wir wollen erlöst werden aus unserer Einsamkeit, wollen unsere sicher berechtigten Bedürfnisse befriedigen, möchten uns selbst bestätigt sehen. Dabei ist es ganz gleichgültig, um welche Art Liebe es geht, ob um die zwischen Frau und Mann, zwischen Mutter oder Vater und Kind, zwischen Großvater und Enkel oder Urgroßmutter und Urenkelin, zwischen Freunden oder an wen wir sonst denken mögen - Hauptsache, es geht uns gut.

Das Du im anderen suchen wir freilich nicht wirklich. Denn dann müßten wir uns selber verlieren können, müßten selbst-los werden, müßten uns hingeben mit allem, was wir sind und haben, ohne Wenn und Aber. Weil wir uns jedoch nicht wirklich hingeben - und das ist etwas anderes, als sich jemandem zuneigen, wie uns schon die Sprache belehrt - weil wir uns jedoch nicht wirklich hingeben, wir uns also nicht verlieren möchten oder wollen oder können, geht statt dessen die Liebe verloren. Sie wird zur Sache, kommt abhanden - wie ein Stock oder Hut. Am Ende bleibt nur noch Beziehungslosigkeit: „Sie rührten in ihren Tassen ... und sie sprachen kein Wort und konnten es einfach nicht fassen.“

Liebe läßt sich nicht verkleinern, nicht verniedlichen, nicht verharmlosen. Es gibt nicht ein bißchen Liebe. Sondern Liebe ist - wo sie ist - ganz, total. Gott ist Liebe, und nicht ein bißchen Liebe. Gott ist Liebe - das ist mehr und auch noch anderes, als daß Gott liebt und uns zuerst geliebt hat. In diesem Satz verbirgt sich, was unsere menschliche Liebe umfaßt und sie groß macht.

Doch was ist unsere menschliche Liebe eigentlich, und wie können wir angemessen von ihr reden?

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Schreibt Erich Fried (E. F.: Es ist was es ist. Liebesgedichte. Angstgedichte. Zorngedichte. Berlin 1983. S. 43). „Es ist was es ist“. Es ist nicht erklärbar und nicht mit den Maßstäben unserer Logik zu messen. Liebe sprengt alle Prinzipien, nach denen wir unsere Welt geordnet haben, nach denen wir das, was auf ihr vorkommt, säuberlich in Schubladen einsortieren. Sie verändert unsere Wahrnehmung und - wo sie sich ereignet und uns packt - verändert sie uns selbst, unsere Person.

Liebe schafft es, daß wir uns selbst verlieren, uns hingeben können an und für einen geliebten Menschen. Liebe ist Selbst-Losigkeit im ursprünglichen Sinn des Wortes, weil wir uns los-lassen können. Wir wenden uns ganz dem geliebten Du zu und gewinnen uns aus diesem Du neu. So entsteht daraus, daß wir uns von uns selbst entfernen, eine neue und größere Nähe zu uns, wie wir sie zuvor nie kannten - eine Nähe, die uns geschenkt ist durch das Du, zu dem der geliebte Mensch uns geworden ist. Nun sind wir beides, Liebende und Geliebte oder Liebender und Geliebter. Wir verlieren uns, wir haben uns nicht mehr selbst, sondern finden uns im Du wieder, so wie es Alfred Brendel beschreibt (FAZ. 12.8.2004. S. 33):

Plötzlich ist es einfach geworden
in der Liebe
sich zu verlieren
Eines Tages
sucht man sich
und findet nichts
jedenfalls nicht dort
wo man sich vermuten würde
bei sich selbst nämlich
also muß man wohl
außer sich geraten sein
aber nicht rasend
sondern leicht und heiter
einer neuen
paradoxen Schwerkraft untertan
die
in die Luft gravitierend
den Astronauten des Gefühls
Herz über Kopf
zu sich hinanzieht

Aber: Können wir, ja dürfen wir Gott mit etwas so Menschlichem wie unserer Liebe in Verbindung bringen? Wir müßten doch mindestens eine besondere, christliche Form oder Gestalt der Liebe sicherstellen, vielleicht das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe, von dem wir im Evangelium gehört haben. Auffällig ist nur, daß Johannes in seinem Brief solche Sorgen überhaupt nicht hat. Der Satz „Gott ist Liebe“ erscheint ihm nicht nur als erlaubte Folgerung, sondern als die allein mögliche Folgerung aus dem Bekenntnis, daß Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben.

Daraus ist zu schließen, daß wir Gott nur entdecken, wenn wir ganz tief in unser Menschsein eindringen. Also kann es nicht um eine moralisch oder religiös überhöhte Liebe gehen, sondern nur um die ganz alltägliche, wie sie jeder und jedem von uns begegnen kann oder hoffentlich schon begegnet ist - und die doch nie „alltäglich“ ist und sich vielleicht so oder ähnlich äußert, wie ich neulich gelesen habe (Ich will bei dir sein. GTB 810. S. 32):

(Es ist) ein gewöhnlicher Vormittag. „Ein Anruf für Sie“, sagt die Kollegin fassungslos zu mir herüber, „wenn ich recht verstanden habe, aus dem Paradies.“ - „Hörst du mich“, tönt es leise aus der Muschel, „hast Du mich noch lieb?“ „Und ob“, sage ich, „sehr! Gib acht auf Deine Flügel!“ Die Kollegin schaut entgeistert. „Es war mein Engel“, sage ich.

Weil Gott Liebe und die Liebe aus Gott ist, begegnet Gott uns weltlich, ganz alltäglich, in den Menschen, mit denen wir es Tag für Tag zu tun haben, in der Familie, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Schule und wo es sonst sein mag. Doch gerade darin öffnet er uns unseren Alltag, unsere Welt für eine neue Zukunft, auf das Paradies, auf die Herrschaft Gottes hin. Zwar verlassen wir auch als Glaubende unseren Alltag nicht - wie könnten wir das auch -, aber unser Alltag ist nicht mehr ausschließlich durch Alltäglichkeiten bestimmt, sondern dadurch, daß Gott sich uns um unseretwillen nicht nur freundlich zuwendet, sondern uns liebt..

Das beflügelt unsere Kraft und unsere Fantasie, einander zu lieben, einander eine Vorzugsstellung einzuräumen und vor allem der Lieblosigkeit Widerstand zu leisten, die immer mehr um sich greift - Widerstand aus Liebe, nicht aus Trotz oder Rechthaberei, denn: Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, weil Gott Liebe ist. Und Liebe erkennen kann nur, wer liebt.

Psalm: Psalm 63 (729)

Evangelium: Lukas 10,25-37

Lieder: EG 136,1; 452,1-2.4 (od. 449,1-4); 398 (od. 409,1-3[8?]); 610 (od. 401,1-4.7); 421 (od. 171)

Kyrie : Herr, unser Gott, wir nehmen deine Gaben in Empfang, sind aber nur selten bereit, sie mit anderen zu teilen. Im Umgang miteinander bringen wir die Geduld nicht auf, die du immer wieder mit uns hast. Wir geben die Liebe nicht weiter, die du uns zuwendest. Wir bitten um dein Erbarmen:

Gloria : Gott gibt uns nicht auf. Er wendet zum Guten, was wir versäumt haben. Seine Liebe ist größer als unsere Schuld. Darum können wir uns freuen und singen:

Tagesgebet : Herr, unser Gott, dein Wort weist uns die Richtung, damit wir nicht herumirren und ohne Orientierung sind. Sammle jetzt unsere Gedanken zu dir hin, daß wir Ruhe finden heraus aus der Unruhe unseres Alltags. Dann wird deine Liebe uns verändern durch Jesus Christus, deinen Sohn ...

Gebet : Herr, unser Gott, wir danken dir für die Zeichen deiner Liebe und Freundlichkeit in unserem Leben. Wir alle sind beschenkte und begabte Menschen und haben Grund genug, dir zu danken. Wecke unsere Sinne auf, daß
wir uns auch über die kleinen und unscheinbaren Dinge freuen können: über ein freundliches Wort, das uns Mut macht; über die Liebe und Zuwendung, die wir von anderen erfahren; über die Schönheiten dieser Erde.
Du bist ein großzügiger Gott und schickst niemand, der zu dir kommt, mit leeren Händen fort. Fülle auch uns die Hände, damit wir denen helfen, die hilflos sind; die an- sprechen, die einsam sind und denen keiner zuhört; (die trösten, die jetzt wie die Angehörigen und Freunde von ... voller Trauer sind;) denen vertrauen, die nur noch Mißtrauen erfahren; denen zu ihrem Recht verhelfen, die rechtlos und verachtet sind; die versöhnen, die sich auseinandergelebt haben; auf die zugehen, die meinen, sie könnten auf dieser Welt nur gegen andere aber nicht mit anderen leben - so daß alle sehen, wie freundlich du bist und daß du uns liebst.

(Quellen: Liturgieentwürfe für das Kirchenjahr. 2. Aufl. Frankfurt/M. 1985, z. 13. S. n. Trin.; Agende der EKKW. Bd. I/1. Kassel 1996, z. 13. S. n. Trin.)

Dr. Peter Weigandt
o.cello@t-online.de


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