Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach und J. Neukirch

12. Sonntag nach Trinitatis, 29. August 2004
Predigt über Apostelgeschichte 9, 1-20, verfaßt von Hans-Gottlieb Wesenick
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde! 

Neulich geriet ich zufällig mal wieder an Fotos von meiner Taufe. Damals war ich gerade vier Wochen alt. Meine Urgroßmutter hält ein kleines Wesen, das in ein langes Taufkleid gehüllt ist, auf dem Arm. Auf einem anderen Bild sind meine Eltern und Großeltern zu sehen, und auf dem dritten sieht man alle Taufgäste vor ihrer Abreise versammelt. Ich selbst habe natürlich gar keine Erinnerungen daran. Doch meine Eltern haben mir oft davon erzählt. Daß ich getauft wurde, das haben also meine Eltern für mich entschieden, so wie das wohl stets Eltern stellvertretend für ihre Kinder tun. 

Und das heißt: bei der Taufe der meisten von uns ist etwas geschehen, das andere Menschen verantwortet haben. Für uns selbst hat es jedoch nachhaltige Folgen gehabt. Die Taufe, die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche, stand am Anfang. Sie hat unser Leben beeinflußt und uns sicherlich in mancherlei Hinsicht geprägt. Später kamen andere Erfahrungen und Eindrücke hinzu. Vielleicht war es der Kindergottesdienst, vielleicht waren es biblische Geschichten, die uns da erzählt wurden oder die wir aus Bilderbüchern kennenlernten. Vielleicht gehörten dazu die täglichen Morgen- und Abendandachten in der Familie, der Religionsunterricht in der Schule oder der Konfirmandenunterricht. Vielleicht besuchten wir gern eine Jugendgruppe, oder es beeindruckten uns Gottesdienste, Abend­mahlsfeiern, Weihnachtsfeste, auch Lieder und bestimmte biblische Texte, die Gebote - kurz: unsere Vorstellungen vom Leben sind mehr oder wenig nachhaltig bewußt und unbewußt mitgeprägt worden von den Inhalten und Ausformungen unseres christlichen Glaubens und von christlich-kirchlicher Sitte, wie wir sie so oder so erlebt haben. 

Dem Apostel Paulus ist es ganz anders ergangen. Er ist aufgewachsen in den Traditionen des jüdischen Volkes, seines vom Alten Testament her geprägten Glaubens an den einen Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt. Und Paulus hat sich leidenschaftlich für diesen Glauben eingesetzt bis dahin, daß er die Anhänger des neuen Weges(1), nämlich des Glaubens an den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, unerbittlich und hart verfolgte. Doch eines Tages geschah ihm etwas, was sein Leben völlig veränderte. Sie kennen sicherlich die Geschichte von seinem Damaskuserlebnis. Lukas berichtet sie uns in seiner Apostelgeschichte gleich dreimal(2), weil sie für ihn und seine Kirche ganz besonders wichtig war. Diese Geschichte ist heute Predigttext. Ich lese den Abschnitt Apg. 9, 1-22, den Lukas selber erzählt. Später wiederholt er die Geschichte noch zweimal, legt sie nun aber dem Apostel Paulus in den Mund. 

Lesung von Apg. 9,1-20 

Liebe Gemeinde, das war also gewissermaßen das Ende einer Dienstreise - und der Anfang einer neuen, nämlich die Berufung zum Apostel und Missionar: "Dieser ist mein auserwähltes Werkzeug, daß er meinen Namen trage vor Heiden und vor Könige und vor das Volk Israel." Eine schöne Geschichte ist das, von Lukas lebendig erzählt. Wir können uns gut hineindenken und uns alles lebhaft vorstellen, auch wenn uns im einzelnen wiederum vieles unbegreiflich erscheint. 

Paulus selbst redet in seinen eigenen Schriften von diesem für ihn umstürzenden Ereignis sehr viel zurückhaltender. Darum bleibt manches ungeklärt, aber das soll uns jetzt nicht beschweren. Denn das Ergebnis ist klar: Paulus ließ sich taufen auf den Namen des Herrn Jesus Christus, dessen Anhänger er bis dahin unerbittlich verfolgt hatte. 

Übrigens nennt er selbst sich in seinen Briefen stets "Paulus"; das ist sein Name als römischer Staatsbürger, und er hat wohl nie einen anderen Namen getragen. Allein in der Apostelgeschichte des Lukas wird sein hebräischer Name "Saulus" gebraucht, und daraus ist dann die Rede geworden, "Saulus" habe sich zum "Paulus" bekehrt. Was er jedoch erlebte, war vor allem sein Ostererlebnis: ihm ist der gekreuzigte und auferstandene Christus erschienen und hat ihn für sich in Dienst genommen, in seinen Dienst berufen und damit seinem Leben von Grund auf eine Wende gegeben. 

In zwei Schritten vollzog sich diese Abkehr von seinem bisherigen Leben und Glauben. Das Ereignis vor Damaskus zwang ihn zunächst einmal zum Anhalten, zur völligen Neuorientierung. "Er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht," heißt es da. Umwerfend in jeder Hinsicht muß dies Ereignis für ihn gewesen sein. Drei Tage und Nächte hat er mit sich selber und seiner Vergangenheit gekämpft; dann war ihm klar, wer er in Wirklichkeit ist: "Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur, ein neuer Mensch; das Alte ist vergangen; siehe, Neues ist geworden."(3)

Der zweite Schritt, den er danach tat, wurde bewirkt durch Hananias, einen Christen in Damaskus, der ihm von Gott gesandt wurde. Trotz aller nur zu verständlichen Vorbehalte und Ängste wagte sich dieser Mann zu ihm und redete ihn an: "Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, ... daß du wieder sehend und mit dem heiligen Geist erfüllt werdest."(4) Da kam also einer aus der christlichen Gemeinde zu ihm und sprach ihn als "Bruder" an, obwohl er doch allen Grund hatte, diesem gefährlichen Mann mit tiefstem Mißtrauen aus dem Wege zu bleiben. Doch wo Gott seine Hand im Spiel hat, da spielen Vorbehalte keine Rolle mehr. Menschen können sich da grundlegend ändern. Und wenn dabei dann andere diesem Menschen etwas zutrauen, dann kann die christliche Gemeinde ganz neue und wichtige Erfahrungen vermitteln. Paulus jedenfalls trennte sich vollends von seinem alten Weg nach dieser unerwarteten Erfahrung, auch als zweifelhafte Person brüderlich angenommen worden zu sein. Entschlossen beschritt er den neuen Weg und ließ sich taufen. 

Daß Paulus sich taufen ließ, ist gewiß keine selbstverständliche Folge seines Erlebnisses. Er wurzelte bisher ja ganz und gar im Judentum, und deshalb war es für ihn bis dahin undenkbar, Jesus Christus als den Sohn Gottes, den Messias anzuerkennen und seinem Evangelium zu glauben. Aber nach jener umstürzenden Erfahrung konnte er nicht mehr anders: Gott selbst hatte ihm die Augen geöffnet. Jetzt mußte er das alles mit anderen Augen sehen, und jetzt waren auch die Konsequenzen für ihn unausweichlich. Dabei verstand er sich weiterhin ganz und gar als Jude und hielt fest an den Glaubenstraditionen seines Volkes. Doch verstand er sie nun ganz und gar im Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Herrn Christus, den Sohn Gottes. 

Soll man diesen Mann beneiden um seine Erfahrung? Gewiß, solche eindeutige Klarheit ist beneidenswert, aber sein daraus folgender Lebensweg ist alles andere als das. Sicher ist freilich: die Entscheidung, die ihm abgerungen wurde, ist ihm immer bewußt geblieben, lebenslang. Schon um seiner Glaubwürdigkeit willen mußte er oft davon erzählen. Und ich denke, daß es ihm in den schweren Zeiten seines Lebens, im Gefängnis oder bei einer öffentlichen Bestrafung oder auf seinen gefährlichen Reisen, geholfen hat, daß er sich an diese Entscheidung in Damaskus erinnern konnte. In allen Zweifeln war ihm bewußt: Gott hat mich berufen als sein auserwähltes Werkzeug. Er mußte seinen Weg darum so gehen. Sein Ja zu diesem Dienst am Worte Gottes war unlösbar verbunden mit der unauslöschlichen Erinnerung an das, was ihm widerfahren war. 

Meistens ganz anders als bei Paulus, liebe Gemeinde, ist unser Weg zum Christ-Sein verlaufen. Wir haben den Zugang dazu gleichsam nur im Nachgang gefunden, ganz abgesehen davon, daß die meisten von uns ja auch gar keine persönlichen Erinnerungen an ihre Taufe haben. Wie ein fertiges Haus sind christlicher Glaube und christliches Leben schon vor uns dagewesen, sind uns überliefert von Eltern, Großeltern, Paten, von Lehrern, von Pastoren und so in mancherlei Gestalt und Form von uns aufgenommen worden in unserer vom Christentum geprägten Welt. Wir haben es oft nicht leicht, uns in diesem Haus einzurichten und wirklich darin zu Hause zu sein. Andere haben es gebaut, und oft ist es so weiträumig und vielgestaltig, daß vieles darin uns fremd bleibt. Klarheit müssen wir selbst uns erarbeiten und erbitten, müssen die vielseitige "Hausordnung" verstehen lernen, um zu erfahren: welche Rolle kann ich denn nun in diesem "Haus der Glaubens" übernehmen und ausfüllen? 

Klarheit darüber wird uns zuteil, wenn wir uns gemeinsam mit den anderen "Hausbewohnern", aber auch allein um die "Ordnung" mühen, die Gottes Wort in diesem "Haus" geschaffen hat. Solche Suche nach Klarheit, nach Deutlichkeit und Orientierung ist nun aber wirklich nicht nur Sache jedes einzelnen, sondern viele andere suchen auch. In der "Weiträumigkeit" der Kirche leben viele Menschen, die andere Erfahrungen machen als ich, die mir aber nützlich sind. Und es sind Menschen da, denen meine Erfahrungen hilfreich sein können. Deshalb hilft es zur Klarheit, wenn wir miteinander reden, uns austauschen und uns auch immer wieder gemeinsam am Tisch des Hausherrn einfinden. 

Die Vielfalt der kirchlichen Traditionen, auch der außer-evangelischen, mag manchem verwirrend erscheinen. Oft genug haben wir Mühe, sie zu verstehen, und noch mehr Mühe, in dieser Vielfalt einen eigenen Standpunkt zu finden und zu erkennen, was wirklich wichtig ist, wo letztlich christlich-evangelische Wahrheit auf dem Spiel steht. 

Aber diese Vielfalt stellt doch auch einen Reichtum dar. Den "anderen Hausgenossen" gegenüber muß man sich nicht profilieren und abgrenzen, indem man sich betont und ängstlich an den eigenen Erfahrungen und Traditionen festklammert. Gewiß, um die eigene Identität zu wissen und zu schätzen, was man damit hat, das ist hilfreich und wichtig. Aber bleibend am Leben ist doch letztlich der Teil, den ich dazu beitragen kann, daß Gottes Herrschaft weitergeht, daß das "Haus des Glaubens" bewohnbar bleibt, einladend wird und stets offene Türen hat und so auch wächst und erweitert wird. Die Taufe hat jeden von uns aus einem Fremdling zum "Hausgenossen" gemacht. Aber daß ich in diesem Hause nun nicht isoliert für mich allein bleibe, das liegt zum großen Teil in meiner eigenen Verantwortung. 

Der Apostel Paulus hat eine eindeutige Erfahrung gemacht. Gott ist ihm begegnet, und von da an ist ihm der Weg klar geworden, den er zu gehen hatte. Wir haben solche Erfahrungen für gewöhnlich nicht. Doch uns steht ein anderer Weg offen, uns dessen zu vergewissern, daß wir, um dem Epheserbrief(5) zu sagen, "nicht mehr Gäste und Fremdlinge sind, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen": In seinem Wort ist Gott uns nahe, wo immer wir darauf hören. Da werden wir erinnert. Da wird uns Mut gemacht. Auch wir sind berufen zum Dienst der Versöhnung in der Welt und in der Umgebung, in der wir leben und arbeiten. Denn seit unserer Taufe tragen wir ja den Namen Jesu Christi. Amen. 

Apg. 9, 2
Apg. 9, 1-22; 22, 3-16; 26, 9-18
2. Kor. 5, 17
Apg. 9, 20
Eph. 2, 19 

Hans-Gottlieb Wesenick, Pastor i. R. 
Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen 
Tel. 0551/2099705 
Email: H.-G.Wesenick@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)