Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 22. August 2004
Predigt über
Lukas 7, 36-50, verfaßt von Kirsten Jørgensen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wie hält man sich am besten das Leben vom Leibe?

Für eine Predigt ein wahnwitziger Anfang, könnte man meinen. Denn wer will sich denn das Leben vom Leibe halten? Wir wollen es doch gerne haben, so viel wie möglich von ihm, vom Leben! Haben wir uns nicht vielleicht am Leben übergegessen? Kann man zu viel von ihm haben?

Die Antwort ist wohl einfach die, daß wir gerne so viel davon haben möchten wie möglich, so lange es alles nur lauter Honig ist. Aber wenn es schwer und schwierig wird, sind wir natürlich nicht so begeistert. Wir können schnell vom Leben zuviel kriegen, wenn es weh tut. Was tun wir also? Wir versuchen natürlich, uns dagegen zu sichern, daß das Leben weh tut.

Aber kann man das?
Ja, das kann man in der Tat sehr wohl in einem gewissen Maße. man kann sich gegen das Leben sichern in verschiedener Weise. Aber das hat seinen Preis.

Davon möchte ich gerne eine Geschichte erzählen.
Sie spielt sich ab in einer Zeit außerhalb der Zeiten, in einer mythischen Zeit, ehe wir in Dänemark Christen wurden. Und sie lautet so:

Am Beginn der Zeiten, als die Götter Midgård gegründet hatten, wo die Menschen wohnten, und sich selbst in Asgård niedergelassen hatten, kam eines Tages ein Mann und sagte, er sei Baumeister. Er bot an, eine Mauer um Asgård zu errichten, die die bösen Riesen fernhalten sollten, damit die Götter von ihnen in ihrem guten Leben nicht gestört wurden. Er sagte, er könnte dies in nur einem Winter vollbringen und würde am ersten Tag des Sommers fertig sein. Aber er forderte natürlich seinen Preis. Er wollte Freja, die Göttin der Liebe, und die Sonne und den Mond. Die Götter waren so bedrängt von den ewigen bösen Angriffen der Riesen auf ihr Leben, daß sie auf die Bedingungen des Baumeisters eingingen. Bald stand eine mächtige hohe und starke Mauer um Asgård.

Aber kurz bevor die Mauer ganz fertig war, kamen den Göttern Bedenken.

Sie fingen an, miteinander darüber zu reden, wie sie doch auf die Idee kommen konnten, die Göttin der Liebe und dazu die Sonne und den Mond zu verkaufen. Das wäre ja dasselbe wie die ganze Welt zu verschleudern und das Leben zu zerstören. Im letzten Augenblick gelang es zu verhindern, daß die Mauer fertig wurde, und der Baumeister erhielt deshalb nicht, was er verlangt hatte. Die Götter behielten Freja und damit die Liebe, und sie behielten auch die Sonne und den Mond. Dafür aber mußten sie weiter mit einem Leben leben, das verwundbar war und bedroht von bösen Mächten.

Diese alte Geschichte handelt davon, wie man selbst das Leben weggeben kann in den Bemühungen, die bösen Mächte und Bedrohungen wegzuhalten. Sie erzählt uns: Wenn wir uns zu sehr sichern wollen, wenn wir Mauern um uns bauen, um das schwere Leben wegzuhalten, dann verkaufen wir schließlich das Leben selbst. Wenn wir zu viel Sicherheit im Leben haben wollen, haben wir schließlich überhaupt kein Leben mehr.

Man kann versuchen, sich in vieler Weise gegen das Leben zu sichern.

Eine Art und Weise ist, eine Menge von Regeln zu machen für das, was man kann und nicht kann und besonders was die anderen können und nicht können. Dann hat man das Leben in ein System gebracht, eine feste Mauer um sich errichtet, so daß man sicher ist, daß einen niemals etwas überrascht und schon gar nicht das Leben selbst.

Von einem solchen Ordner des Lebens hören wir im heutigen Evangelium. Er heißt Simon und hat alles im Griff. Er ist gemäßigt - lau, um es etwas häßlicher auszudrücken. Er wird nie zu warm oder zu kalt, sondern behält den kühlen Überblick und eine passende Distanz zum verworrenen Leben anderer. Er hat Regeln und Ordnungen für alles, und erwartet von anderen, daß auch sie sich unter diese Regeln einordnen. Er hat Jesus zu einem Essen eingeladen, denn der Mann gilt ja als Prophet, und mit so feinen Leuten muß man ja Beziehungen knüpfen. Aber er kommt in Zweifel, inwieweit Jesus nun auch der ist, als der er sich ausgibt, als eine Prostituierte in das Haus eindringt und weinend die Füße Jesu mit ihren Tränen wäscht und sie mit kostbarem Öl salbt. Denn wenn Jesus ein richtiger Prophet wäre, wäre er sich zu schade, sich von einer solchen Frau pflegen zu lassen. Das fällt außerhalb der Regeln von Simon. Aber er wird natürlich von Jesus zurechtgewiesen - natürlich weil um Jesus stets mehr Leben ist als Regeln. Da sind faktisch keine Regeln. Außer der einen, der wichtigsten und notwendigsten Regel: Du sollst sehen und voraussetzen, daß dein Nächster Liebe hat. Du sollst sehen können und voraussetzen, daß dein Nächster Liebe hat.

Wir haben uns so sehr angewöhnt zu sagen, das erste und größte Gebot im Christentum sei, daß du deinen Nächsten lieben sollst wie dich selbst. Aber dieselbe Regel läßt sich anders formulieren, nämlich daß du glauben sollst, daß dein Nächster Liebe hat. Größere Liebe hat faktisch niemand als der, der an die Liebe des anderen glaubt.

Eben dies tut Jesus, als er der Hure im Hause des Simon begegnet. Er glaubt an ihre Liebe. Er schiebt keine Regeln vor, wie man sich zu betragen hat, zwischen sich selbst und ihr, baut keine Mauern zwischen ihnen auf. Verhält sich nicht zu ihrer zweifelhaften Profession. Er glaubt nur an das, was sie tut. Er sieht nämlich, daß sie ein lebendiger Mensch ist. Und wie sieht er das? Erstens an ihren Tränen. Sie kommt weinend ins Haus, hört nicht auf zu weinen und hat Tränen genug, um die Füße Jesu mit ihnen zu waschen.

Der weinende Mensch.

Der weinende Mensch ist ein Zeichen für den lebendigen Menschen. Der weinende Mensch ist der Mensch, der keine Mauern um sich selbst errichtet hat, um den Schmerz und das Schwere fernzuhalten. Der die Liebe nicht verkauft hat und alles Verwundbare, um Sicherheit und Vorhersehbarkeit zu erhalten. Der sich nicht verschanzt hat hinter Regeln und Ordnungen, um zu verhindern, daß das Leben etwas kostet. Der weinende Mensch ist der Mensch, der es noch wagt, Mitgefühl zu haben und zu zeigen, und der nicht im Voraus regeln dafür gemacht hat, was man für wen empfinden soll. Der weinende Mensch ist der bedrohte und verwundbare Mensch und deshalb der lebendige Mensch.

Die lebendige und weinende Frau, die damals in Simons Haus kam, wußte, daß ihr Leben ausgesetzt und verwundbar war, aber sie tat, was das Leben ihr gebot. Sie ging dorthin, wo sie wußte, daß ihr einziger Schutz im Leben war. Bei Jesus.

Der Schutz, den wir bei Gott finden, ist kein Schutz gegen das Leben, sondern ein Schutz im Leben. Getauft sein heißt nicht, daß man vor allem Bösen geschützt ist, sondern daß man gewiß sein darf, daß es Hilfe gibt in allem Leben. Gott ist die unsichtbare Mauer, die das Böse nicht fernhält, sondern zusammen mit uns dagegen kämpft, mit den unsichtbaren Waffen, die die stärksten sind, die wir haben: Glaube, Hoffnung und Liebe.

Es ist leicht, sich das Leben vom Leibe zu halten. Man muß nur dafür sorgen, genug Regeln zu machen, und man darf sich nicht zu sehr und zu sehr mit anderen Menschen einlassen. Man muß sich nur für sich halten. Dann hat man eine starke und sichere Mauer gebaut. Aber man hat auch die Leibe verkauft, die Überraschungen, die Schönheit, die Herausforderungen -ja, man hat das Leben selbst verkauft.

Vielleicht sollten wir deshalb das Leben etwas mehr wagen, das Leben der Sicherheit vorziehen und mit den Tränen leben, die es dann gibt. Ist es nicht besser, lebendig zu weinen als im Tode zu versteinern? Amen.

Pfarrerin Kirsten Jørgensen
Præstegade 2
DK-5300 Kerteminde
Tel.: ++ 45 - 65 32 13 20
e-mail: kjoe@km.dk

 


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