Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

9. Sonntag nach Trinitatis, 8. August 2004
Predigt über
Philipper 3, 7-11 , verfaßt von Heinz Behrends
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Welche Befreiung muss das gewesen sein! Hart urteilt der Apostel über die Zeit vor seiner Bekehrung.
„Ich habe es für Schaden, für Dreck erachtet.“ Genauer übersetzt müsste es das Wort sein, das mit Sch beginnt und das wir unseren Kindern verbieten auszusprechen.
Da hat er sich um ein Leben bemüht, den Ansprüchen Gottes gerecht zu werden. Hat die Forderungen Gottes, seinen Willen, zu erfüllen versucht. Er ist gescheitert. Er konnte nur dahinter zurück bleiben. Sein Ärger über das Misslungene ist größer als die Freude am Gelingen.
Ein Mensch lässt sich darauf ein, was von ihm gefordert ist. Aber die geringste Abweichung vom geregelten wirft ihn aus der Bahn. Abweichung wird mit Ächtung durch das System bestraft. Das ganze endet in Selbstverachtung.
Glaube wird anfällig für Neurosen und Depressionen. Er verkehrt sich ins Gegenteil.

Ich kann das gut nachempfinden. Mein persönliches Glaubensleben hat mit diesem Konflikt begonnen. Ohne irgendeinen kirchlichen Bezug bin ich aufgewachsen. Meine Mutter hatte ihren Glauben, zeigte ihn aber nicht. Sie redete davon nicht. Das tat man nicht als bescheidene Bauersfrau in Ostfriesland. Nach einem konservativ geprägten Konfirmandenunterricht packte es mich. Ich meinte, in vielen kleinen Dingen Gottes Willen erfüllen zu müssen. Die Art zu beten, die Auswahl der Texte, die Zeiten. Das kleine Soldatengesangbuch, das mein Bruder abgelegt hatte, war mein Gebetsbuch. Ich betete unter mir selbst aufgezwängten Zeiten, kniend vor meinem Nachttisch. Ich muss da alles tun. Sonst falle ich tot um und werde schuldig. Es führte mich in skurrilste Handlungen. Ich sammelte Strohhalme auf, um sie auf dem Hof vor dem Zertreten zu retten. Ich schäme mich heute noch, es zu erzählen. Mit 17 hatte das etwas gutes. Es führte mich in die Stadtbibliothek, in die Welt der Bücher. Unter vielen entdeckte ich bald ein theologisches Buch, las es, arbeitete es durch, verstand vieles nicht, las es dreimal ganz durch. Es war der kleine Römerbrief-Kommentar von Karl Barth. Die Botschaft von der befreienden Gnade Gottes.
Welche Befreiung muss das für den Apostel gewesen sein, damals nach seiner Bekehrung. Ich bin nicht gerecht vor Gott, indem ich seine Forderungen erfülle. Gott spricht mich frei aus Liebe.
Nur, die Frage des Apostels ist heute nicht mehr die meine. Oder ist sie Ihre Frage?
Wie werde ich gerecht vor Gott?
Wir müssen sie anders formulieren.
Wie steht es um meinen Selbstwert? Wie wird mein Selbstwertgefühl?
Der Mensch hat so seine Strategien.
Ich tue, was andere wollen, ich bin lieb. Mancher hat das früh gelernt: Wenn du das und das tust, dann geschieht dir gutes.
Es allen recht machen wollen. In einer Diskussion zuhören, lauschen, was die andere denken und dann in ihrem Sinne argumentieren.
Ein Mensch tut viel, um angenehm zu sein, sich Anerkennung zu holen und seinen Selbstwert zu pflegen.
Wenn mich jemand bittet, etwas zu tun, es tun, am besten, ehe es ausgesprochen ist. Keinen Widerspruch, anderen günstig und günstlich sein. Idealer Schwiegersohn.

Oder eine Kasperrolle spielen. Der Witzbold sein, der sich in den Vordergrund spielt. Den Humorvollen wird man doch ertragen und ihm nicht die Liebe entziehen.
Oder etwas besonders leisten, an dem andere nicht vorbei sehen können. „Donnerwetter, das hast du geleistet.“ Das verschafft Achtung.

Ein harter Kampf ist das. In unserer Gesellschaft bekommst du immer weniger Vorschuss an Achtung durch deinen Stand, die Verantwortung für den eigenen Wert ist immer mehr in die Hand des Individuums gelegt.
Das kann nur in der Verzweiflung enden.
Entweder bist du nicht mehr erkennbar oder du bist überfordert.

Die Entdeckung des Paulus: Du musst von Gott ausgehen, wenn du zu dir selber kommen willst.
Nicht meine Gerechtigkeit ist wesentlich, sondern die aus dem Glauben kommt, die Gott zurechnet. Die reformatorische Wieder-Entdeckung.

Das ist zunächst nur ein Kopfgedanke. Nur wer sich geliebt weiß. braucht keine Erläuterung. Gott spricht dir Wert zu, ehe du überhaupt eine Voraussetzung erfüllen kannst. Das wesentliche kannst du nicht verdienen.
Warum waren denn gerade die Kranken und Angeschlagenen so hellhörig für die Botschaft Jesu! Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen.

Ich will die Erkenntnis und Erfahrung des Apostels in einen Rat umsetzen.
- Unterwirf dich nicht deinem Selbsturteil! Wir sind sonst wie Jugendliche, die nur ihr eigenes Urteil über sich selbst gelten lasen. Das ist oft ungnädig und vernichtend.
- Mach dich nicht von der Gunst anderer abhängig! Du gibst sonst deine Freiheit auf. Du wirst stromlinienförmig. Wer meint, er würde geliebt, wenn er es allen recht gemacht hat, liegt falsch. Du bist nicht mehr erkennbar. Was soll man an dir lieben?

Das hat nichts mit Protzen zu tun. Christus gewinnen heißt alle Versuche des Selbstdefinierens aufzugeben.
Bonhoeffer hat den Prozess des Apostels bezogen auf seine eigene Erfahrung zusammengefasst: „Später erfuhr ich, dass man erst in der Diesseitigkeit glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet, aus sich selbst etwas zu machen, sei es einen Heiligen, einen bekehrten Sünder, einen Kirchenmann, einen Gerechten oder Ungerechten, Kranken, oder Gesunden – dies nennen ich Diesseitigkeit, in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge, Misserfolge, Erfahrungen leben, dann wirft man sich Gott ganz in die Armen, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, dann nimmt man Gottes Leiden in der Welt ernst.“ Ich denke, das ist Glaube.
Das geht natürlich nur in großem Vertrauen. Das setzt gewiss eine Erfahrung oder eine Erkenntnis voraus: Ich will an einem anderen Leben teilhaben.
Die Frage ist also die von Angst und Vertrauen, nicht die von Sünde, Heiligkeit, Tugend, Laster, Ordnung oder Chaos.
Es ist kein Haben. „Ich jage ihm aber nach“, sagt der Apostel.
Wo finde ich meinen Wert? Er ist mir ins Herz gelegt von Gott, unangreifbar für andere.
Das ist meine Grundlage, mein Fundament.
Der Glaube wird sich nie ganz mit dem zufrieden geben, was ist. Die Schönheit, die Gott für den Menschen vorgesehen hat, ist nur in Andeutungen gefunden. Der Christ kann nie zu Hause sein in den gültigen Denkfiguren, den angebotenen Identitäten.
Er ist subversiv, weil er sich seines Wertes bewusst ist. Das wirkt gegen alle Erstarrung. Er gewinnt die Kraft des Auferstandenen. Du gehst einen Weg, der dem Weg Christi durchs Leiden zum Auferstehen gleichgestaltet ist. Diesen Vergleich wählt der Apostel.

Ich schließe mit einer Geschichte aus der Tradition, die mit Augenzwinkern von der Befreiung von den Fesseln erzählt.
Einmal im Jahr verlässt Benedikt sein Kloster, seine Schwester Scholastika zu besuchen.
Dann reden sie über die Freuden des geistlichen Lebens, sie essen und trinken zusammen. Benedikt achtet als regeltreuer Bruder darauf, dass er am Abend wieder im Kloster zurück ist.
Einmal sitzen sie wieder zusammen, sie loben Gott und sind fröhlich miteinander. Es ist schon spät geworden. Da bittet Scholastika ihren Bruder, die Nacht zu bleiben. „Was forderst du Unmögliches von mir,“ sagt er.
Es ist ein schöner Abend, der Himmel ist heiter. Sie ist getroffen von der Härte ihres Bruders. Sie legt ihren Kopf in die Hände, weint und betet. Als sie den Kopf hebt, blitzt und donnert es. Es fängt draußen an zu gießen, dass Benedikt keinen Fuß mehr vor die Tür tun kann. „Was hast du getan, Schwester,“ fragt er entsetzt. „Ich habe dich gebeten und du hast mich nicht erhört. Ich habe Gott gebeten und er hat mich erhört,“ antwortet sie, „Und jetzt verlass mich doch, wenn du kannst.“ Was er freiwillig nicht tun wollte, tut er nun gezwungermaßen. Er bleibt.
Er will dem Leben dienen mit dem Befolgen der Regel. Herrschaft, Angst, Ordnung, Unfähigkeit zum Leben gehen oft zusammen. Er will das Leben verschieben auf das nächste Jahr. Im nächsten Jahr, so schließt die Geschichte, ist die Schwester tot.
Du kannst das Leben nicht verschieben, nicht aufsparen.
Darum finde ich die Entdeckung des Paulus so umwerfend und befreiend. Geh von Gott aus, wenn du zu dir selber finden und auferstehen willst.


Superintendent Heinz Behrends
Entenmarkt 2
37154 Northeim
Heinz.Behrends@evlka.de


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