Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2004
Predigt über Lukas 15, 11-32, verfaßt von Erik Høegh-Andersen
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(dänische Perikopenordnung)

Das Gleichnis, das wir gehört haben, ist ja eine der bekanntesten und besten Geschichten aus der Bibel. Eine Geschichte, die klar und anschaulich ist - und dennoch, wenn man sie hört, so geschieht es immer wieder, daß sich neue Perspektiven öffnen, daß man neue Dinge hört und sieht.
Deshalb hat die Geschichte auch verschiedene Namen.

Die meisten werden wohl sagen, ja, das war doch das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das wir gehört haben. Denn das handelt von einem Sohn, der von zu Hause wegging, der sein Vermögen vergeudete und drauf und dran war, zugrunde zu gehen, der aber schließlich in sich ging und sich entschloß, heimzukehren, um doch wenigstens Tagelöhner am Hofe seines Vaters zu werden. Und dann geschah, was wir gehört haben, daß der Vater ihm entgegenlief, ihm um den Hals fiel aus reiner Freude, daß er seinen Sohn wieder hat. Er war verloren, konnte keine Ansprüche stellen, aber der Vater nimmt ihn auf, gibt ihm Festkleidung und hält ein Fest für seinen heimgekehrten Sohn.
Der verlorene Sohn - unter diesem Namen haben die meisten diese Geschichte kennengelernt. Aber dann nannte ein Professor einmal in einer Predigt die Erzählung "Die verlorenen Söhne" - weil der Bruder, der gerechte, der zu Hause blieb und immer tat, was er sollte, weil der ja in seinem Beleidigtsein und seiner Selbstgerechtigkeit mindestens genauso verloren war wir der, der das Land verließ und alles verspielte.

Später gab es Leute, die die Geschichte "die Erzählung vom barmherzigen Vater" nannten. Man sieht da den Vater stehen, immer mit offenen und empfangenden Armen, was seine Söhne auch anstellen mögen. Das ist eine Auslegung des Gleichnisses, die das Gewicht auf die grenzenlose Vergebung und Liebe des Vaters legt.

So habe ich wohl auch selbst über die Erzählung gepredigt. Aber ich habe allmählich das Gefühl, daß dies dennoch ein vereinfachtes und etwas zu zahmes Bild des Vaters im Gleichnis ist. Denn bei all seiner Großzügigkeit, seinem Großmut, seiner Nachsicht, bedeutete das überhaupt etwas für ihn mit den Söhnen? Ja, was war das eigentlich für ein Vater, der nicht zornig werden konnte und verzweifelt über seine Kinder, die je in ihrer Weise ihn verließen und ihm den Rücken kehrten?

Vor einigen Jahren las ich deshalb eine Predigt, in der alles auf den Kopf gestellt wurde. Ja, in Wirklichkeit ist auch der Vater verloren, sagte der Pfarrer. In Wirklichkeit könnte man das Gleichnis auch die "Erzählung vom verlorenen Vater" nennen.

Das eröffnete mir eine weitere Perspektive: Der verlorene Vater. Und seit dem habe ich, immer wenn ich mir das Gleichnis vornahm, was, so zentral und anschaulich es ist, recht oft geschah, mich nicht vom Bild des verlorenen, verzweifelten Vaters freimachen können.

Denn kann man sich etwas mehr Verlorenes vorstellen als den Menschen, der auf seine Kinder verzichten muß? Der Vater, der zwei Söhne hat, die ihm immer Sorgen machen, die nie einen Blick haben für seine Liebe. Der Vater, der sich deshalb stets sehnt. Er sehnt sich nach dem Sohn, der fort ist, und er sehnt sich nach dem Sohn, der da ist, der ihm aber dennoch fern ist und den er deshalb nicht erreichen kann. Er steht da mit seiner Liebe, seinem Leben, aber niemand legt Wert darauf, niemand nimmt das an.

Mehr verloren kann einen Menschenleben wohl nicht sein. Ja, es gibt wohl nichts, was sich mit der Trauer über Kinder vergleichen läßt, die man verloren hat.

Man denke nur - um weit in die Vergangenheit zurückzugehen - an den alten Jakob. Er hatte ganze zwölf Söhne, aber nur zwei von ihnen waren Kinder seiner geliebten Rahel. Die zwei, Joseph und der kleine Benjamin, verwöhnt er dafür, und die Brüder sehen die beiden scheel an, nicht zuletzt den halberwachsenen Joseph. Und eines Tages, als Joseph zu ihnen auf dem Felde kommt, entschließen sie sich, ihn loszuwerden: Erst werfen sie ihn in einen tiefen Brunnen, und dann verkaufen sie ihn an einige Kaufleute, die nach Ägypten unterwegs sind. Selbst wagen sie nicht, ihrem alten Vater zu erzählen, daß Joseph verschwunden ist, sondern sie schicken einen der Knechte nach Hause mit seinem Hemd, das sie zerrissen und mit dem Blut einer Ziege getränkt haben.

Als Jakob das zerrissene und blutige Hemd sieht, versteht er, daß Joseph von wilden Tieren überfallen ist und daß er seinen Sohn nie wiedersehen wird. Und die Brüder kommen nach Hause, sie finden ihn auf der Erde sitzend mit zerrissenen Gewändern, bis zur Unkenntlichkeit entstellt durch Schmutz und Tränen. Sie versuchen, zu ihm zu sprechen, ihn aufzurichten, aber er murmelt ununterbrochen: "Mein Sohn ist tot! Ich will hinab ins Reich des Todes zu meinem Sohn".

Jakob hatte ja doch elf andere Söhne, er hatte Schwiegertöchter und Enkelkinder. Er hatte viele, die er lieben konnte, und viel, wofür er leben konnte. Aber das half nicht. Er blieb natürlich nicht sitzen, aber er war tief gezeichnet von dem Verlust, den er erlitten hatte.
Aber wie man sich vielleicht erinnert, sollte er seinen Sohn wiedersehen. Joseph wurde ein großer Mann in Ägypten, und als Jakob schließlich dorthin kommt, fällt er seinem Sohn weinend um den Hals.
Das ist, finde ich, eine der bewegendsten Szenen in der ganzen Bibel, und sie gleicht ja in vielem dem Wiedersehen im Gleichnis hier, als der Vater seinem heimgekehrten Sohn um den Hals fällt.
Nein, nichts gleicht dem Verlust eines Kindes. Ob dies nun darin besteht, daß man sie nicht erreichen kann, oder daß sie für immer fort sind. Das ist immer ein Schmerz.

Ich habe natürlich oft mit alten Menschen gesprochen, die von ihren Kindern gesprochen haben, auch von denen, die sie nicht mehr erreichen konnten. Am verzweifelndsten vielleicht, wenn psychische Krankheiten ein Kind dorthin gebracht haben, wo man nichts tun kann, es wieder zurück zu holen. Verzweifelnd auch, wo der Bruch eine Realität ist, wo Türen zugeschlagen sind und wo keine Hoffnung besteht, daß sie sich wieder öffnen. Aber verzweifelnd ist auch der stille Schmerz, die Verlorenheit, die Einsamkeit. Es mag sein, daß die Kinder da sind, daß es ihnen vielleicht bestens geht, aber sie sind nur mit sich selbst beschäftigt, mit ihrer Karriere, vielleicht mit gesellschaftlichem Umgang, aber ohne Sinn für Liebe, die Sehnsucht, die Eltern nach ihnen empfinden.

Es gibt viele Weisen, in denen man verlieren kann, und das tut immer weh. So wie es auch mit dem verlorenen Vater im Gleichnis gewesen sein muß. Der eine Sohn wollte nicht mit ihm leben, er verlangte sein Erbteil, schlug die Tür zu und ging seines Weges. Vielleicht hat er direkt mit dem Vater gesprochen, so als wünschte er nur dessen Tod. Dennoch ging der Vater jeden Morgen auf den Hügel und hielt Ausschau nach ihm. Natürlich konnte er ihn nicht loslassen, natürlich hoffte er, seinen Sohn wiederzusehen. Er bat für ihn, tagelang, monatelang, und vielleicht dachte er an nichts anderes als an ihn.

Vielleicht dachte er in seiner Trauer, daß er bei sich den anderen Sohn hatte, vielleicht geschah dies, daß er den einen Sohn mit dem anderen bezahlte. Daß er die Schuld weitergab. Der erste Sohn war fortgegangen, ohne die Liebe des Vaters wahrzunehmen, nun war es der Vater, der blind war für die Sehnsucht des zurückgebliebenen Sohnes nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. So daß der Vater selbst schuld war am Zorn des Sohnes, seiner Verlorenheit, der Bitterkeit, die sich um ihn zusammenzog und sein Leben verpestete.

Er verlor ein Kind, er bekam es wieder, seine Freude war unwiderstehlich, grenzenlos, aber er verlor damit sein zweites Kind. Wie kann man ein Fest feiern für jemanden, der sein Eigentum vergeudet hat zusammen mit Huren, während ich hier jeden Tag hart gearbeitet habe?

Nein, der Vater ist bestimmt nicht nur der gütige und barmherzige Vater, er ist wahrlich auch der verlorene, der verzweifelte Vater, der weiß, daß es auch Schmerzen bedeuten kann, Kinder zu haben.

Was die Erzählung jedenfalls deutlich bezeugt, ist, daß das Leben von Eltern und Kindern sich nicht trennen läßt. Das Glück der Kinder ist auch das Glück der Eltern, ihr Verlorensein ist auch das des Vaters.

Und dasselbe muß man sagen, denn es handelt sich ja eigentlich um ein Gleichnis, das von der Welt Gottes handelt, dasselbe gilt auch für das Verhältnis zwischen Gott und uns. Das Leben Gottes und das Leben der Menschen lassen sich nicht trennen. Da, wo wir einander finden, in Liebe und Freude, da ist auch eine Freude, die sich bei Gott zeigt. Aber da, wo wir verloren gehen, in Hochmut und Selbstgenügsamkeit vielleicht, im geschlossen Raum der Bitterkeit, dort wo wir blind werden für all das, was um uns ist, oder dort, wo wir nur alles wegwerfen und wo das Dasein nur zu Unterhaltung wird, zu Oberflächlichkeit, zum reinen Nichts, da bleibt Gott wirklich zurück als der Verlorene, der nicht mehr weiter weiß. Da ist die Verzweiflung wahrlich auch seine Verzweiflung. Was das Gleichnis also zum Ausdruck bringt, ist dies, daß Gott ein mitlebender Gott ist, der seine Kinder begleitet, er mit ihnen leidet, er verzweifelt, freut sich wie ein jeder ordentlicher Vater.

Man hat den Vater im Gleichnis und damit also auch Gott als den immer barmherzigen, großzügigen sehen wollen, der nur dasteht und mit offenen Armen wartet. Egal was geschieht, so können wir immer zu ihm heimkehren. Und dieses Bild ist natürlich nicht völlig falsch, aber, anders kann ich es nicht sehen, es ist auch nicht ganz richtig, nicht vollständig. Denn das ist ein wenig ein Bild eines alten Großvaters, der nicht mehr Geisteskraft in sich hat, um das Leben seiner Nachkommen zu verstehen, und der nun dasteht und murmelt: "Ja, das ist ja alles in Ordnung mit Euch, aber Ihr könnt immer bei mir vorbeischauen, wenn Ihr Lust habt". Als ob unser Leben nicht mehr wäre und keine größere Bedeutung hätte.

Nein, der Gott, mit dem wir es zu tun haben, das ist in allerhöchstem Maße ein lebendiger Gott, ein leidenschaftlicher Gott, er bewegt sich mit uns, wir sind seine Liebe, sein Glaube und seine Hoffnung.

Das ist kein Gott, der nur in sich selbst ruht, in stoisch erhabener Ruhe. Das ist ein Gott, der Verzweiflung kennt, der zuweilen außer Rand und Band gerät, ja schließlich, und das ist ja das christliche Evangelium, gab er sein Leben, seine Liebe, seinen eigenen Sohn, um in ihm bei uns zu sein, um bei dem Menschen zu sein, der sich verirrt und der dabei ist, in den vielen Räumen des Verlorenseins unterzugehen.

Was will denn Gott von seinen Kindern, was sollen sie tun?
Im Gleichnis werden zwei Möglichkeiten dargestellt. Ein Sohn, der den Vater verläßt und der alles verspielt, was ihm geschenkt wurde. Und ein Sohn, der zu Hause bleibt, der genau das tut, was ihm gesagt wird, der aber in seiner freudlosen Selbstgerechtigkeit das Wesentliche versäumt - auch der verspielt sein Leben. Verloren sind sie beide, nicht in derselben Weise, aber beide verloren.

Es kann gut sein, daß wir Kinder sind wie sie, und dann erzählt das Gleichnis, daß der Vater noch immer unser Vater ist, daß er noch immer mit uns zu tun haben will. "Alles, was mein ist, ist auch dein", sagt er zu dem einen Sohn.

Aber was für Kinder wünscht sich Gott der Vater dann? Er hofft wohl, Kinder zu haben ganz wie wir Eltern sie uns wünschen. Kinder, die nicht nur duckmäuserig und gehorsam immer tun, was ihnen gesagt wird. Sondern Kinder, die das annehmen, was ihnen geschenkt wird. Und die mit der Zeit selbständig das gebrauchen, was sie mitgebracht haben. Kinder, die Phantasie haben, Mut, Aufgewecktheit und Herz genug, sich selbst ein Leben mit anderen zu schaffen.

Es mag sein, daß die Kinder zuweilen ganz aus unserem Gesichtskreis verschwinden, und wir wissen, so muß es sein. In diesem Sinne ist es ja völlig in Ordnung, daß der eine Sohn im Gleichnis von zu Hause weggeht. Das Problem ist, daß er nichts mit seinem Leben will, daß das Ganze mit Leere und im reinen Nichts endet.

Wir wünschen uns wohl Kinder, die nach Hause kommen und die zeigen, daß sie etwas gelernt haben. Wir sitzen um den Tisch, und die Kinder, die reden mit, ja sie widersprechen uns. Etwas ist mit ihnen geschehen, sie sind nicht mehr ganz dieselben wie die, die uns verließen, sie sind erwachsen geworden, mündig, Gegenspieler, so wie das von Anfang an der Sinn war.

Warum sollte sich Gott nicht Kinder in derselben Weise wünschen? Kinder, die lernen, die sich entwickeln, ja die kämpfen, so wie alle Kinder dafür kämpfen müssen, herauszufinden, wer sie sind, wenn denn die Eltern ihnen etwas bieten, womit sie kämpfen können.

Und dann natürlich Kinder, die empfangen können, die Leben teilen können mit ihren Geschwistern, mit ihren Mitmenschen, ihnen all die Freude gönnen, die es gibt. Die wirkliche Freude in einer Familie besteht erst dann, wenn wir uns zusammen freuen können.

Das konnte der eine Sohn im Gleichnis nicht. Deshalb nicht, weil er nicht am fest für den heimgekehrten Bruder teilnehmen wollte. Und während dessen wartet der Vater, so wie unser himmlischer Vater auf alle seine verlorenen Söhne und Töchter wartet. Alles was sein ist, gehört auch ihnen. Das Dasein ist voll von seinen Gaben. Und die Freude wächst in den Himmel für jedes Kind, das aus dem leeren und selbstgerechten Leben umkehrt und annimmt. Amen.

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk

 


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