Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2004
Predigt über 1. Timotheus 1, 12-17, verfaßt von Bernd Vogel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Ich danke unserm Herrn Jesus Christus, der mich .. in das Amt eingesetzt (hat), der ich früher ein Lästerer und Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren ..“

Selbst im Bibelkreis der Kirchengemeinde Stirnrunzeln. „Ich verstehe das nicht“, sagt einer. „Das geht mich nichts an“, sagt eine andere. „Kirchensprache“ sagt jemand. Abhaken also?

Soll ich anwesender Pastor wieder erklären: 1. Timotheusbrief, wahrscheinlich nicht von Paulus, aber in seinem Namen geschrieben, in der Antike üblich, hat seinen Sinn in der Tradition bestimmter Gedanken, „frühkatholisch“: von „Ämtern“ ist die Rede; und es wird schon (wieder) moralisch gerechnet: „denn ich habe es unwissend getan“ (nach dem Motto: darum „lässliche“ Sünde ..) usw.?

Wen interessiert das?

In einem Dossier über Religiösität in Berlin sagen die Autoren klipp und klar: Kirche ist „out“. Was in Berlin „religiös“ ist, ist meistens muslimisch, auch jüdisch oder hat zu tun mit Ekstasen bei der Love Parade, mit Erotik und Sexualität.

In Berlin jedenfalls ist dieser Text eine völlig fremde und nicht einmal durch seine Fremdheit interessierende Welt.

Wäre da nicht dieser altmodische Satz, der uns Kundigen nach Martin Luther klingt: „Dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.“

Also sprechen wir darüber, wo wir „sündig“ sind und wo „selig“. Sprechen wir konkret darüber. Sonst sagt uns der Text nichts.

Was ist deine „Sünde“?
In früheren Zeiten schien es klare Antworten darauf zu geben: Wer eines der zehn Gebote nicht eingehalten hatte, war Sünder. Und spätestens seit Martin Luther galt für viele zusätzlich: „Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“. Also wem glaubst du? Wem vertraust du dich an? An wen hängst du dein Herz? Wenn es nicht Gott ist, dann bist du ein Sünder.

Darum ging ein Mensch zur Beichte. Auch im evangelischen Bereich gab es sie. Und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein gingen viele erst zum Abendmahl, wenn sie vorher bei der Beichte waren. Man wollte nicht unvorbereitet selig werden. Man wollte sich den lebendigen Christus in Brot und Wein nicht zum Gericht essen, wie es hieß.

Wie hat sich das geändert! Nicht nur in Hamburg und Berlin ist ein solches Verständnis von Sünde kaum mehr zu verstehen. Weder im moralischen noch im geistlichen Sinn des Wortes von „Sünde“.

Was ist deine Sünde?
Menschen von heute könnten antworten: Sünde – weiß ich nicht; aber ich habe Fehler gemacht. Ich habe zu früh geheiratet. Ich habe den falschen Mann geheiratet. Ich habe die falsche Berufswahl getroffen. Ich bin mit mir selber unzufrieden. Ich kann mich manchmal selber nicht leiden. Ich weiß gar nicht wirklich, wer ich bin. Ich zweifle an dem Sinn meines Lebens. Ich hänge an der Flasche. Ich bin süchtig nach Leben. Ich will die Ekstase am Wochenende. Manchmal bekommt sie mir nicht. Ich brauche den „Kick“. Ich kriege ihn immer seltener. Ich bin irgendwie immer traurig, depressiv vielleicht. Ich habe Angst. Vor dem Altwerden. Vor der Einsamkeit. Vor einem einsamen Tod in irgendeinem Heim.

Sünde?
Ja, aber anders, als wir es mit unserer theologischen Tradition fassen könnten. Da geht es viel weniger um Moral, als wir meinen, in Worte fassen zu können. Ja, ja, das kommt davon, wenn man an keinen Gott mehr glaubt und nur noch an Jugend, Schönheit, Glück und Geld. Ja, ja .. und dann? Haben wir Christen dann Recht gehabt, wenn wir es besser wissen? Ist Gott mit uns in der Ecke der Rechthaber und Moralisten? Schmollt Gott mit uns in der Jammerecke der abgehängten Kirche, der letzten Ritter des Glaubens (nach Bonhoeffer)?

Natürlich findet man in der Bibel Belege dafür, dass diese Welt zum Teufel geht. Nicht letztlich – da steht die Verheißung des Reiches Gottes vor – aber doch zwischendrin. In den Feuersee der Apokalypse wirft Gott all die Ungläubigen und all die Unmoralischen. Schon im Alten Testament drohen die Propheten das Unheil an, das von Gott kommt.

Ist das unsere „Lösung“? Sollen wir die Welt zum Teufel gehen lassen? Mit G.W.Bush die Andersgläubigen bekämpfen und verachten? Mit Bin Laden die Andersgläubigen in die Luft sprengen und foltern? Sollen wir naserümpfend oder ratlos die jungen Leute meiden, die nicht nur in Berlin der „Religion“ des Eros frönen, statt in den Kirchengemeinden mitzumachen? Sollen wir in einer sich rasant verändernden Kultur als Kirche immer fort „Halt!“ und „So nicht!“ rufen?

Was hätte Jesus getan? In Washington und Afghanistan, im Irak und in Berlin? Wäre er mit uns im Gefolge an all diesen Gewalttätern und Spinnern vorbeigegangen? Hätte er sie links liegen gelassen: Die Gestrandeten der „Ich-AG’s“, der Spaß-Gesellschaft, die Opfer der „Lust“- und Event-Kultur? Hätte er ihnen die Leviten gelesen: Den Predigern des technischen Fortschritts, den Machern der neuen Welten?

Wo wäre Jesus heute? Wo ist Jesus Christus heute?

„Ich danke unserm Herrn Jesus Christus, der mich stark gemacht hat ..“.
Lebensstärke, Vitalität ist doch eine Gottesgabe und hat auch zu tun mit Christus Jesus, der stark macht.

Wo also ist Vitalität in all den Verworrenheiten unserer Zeit? In den Hasstiraden der islamistischen Prediger: Welche Wut steckt darin? Welche Erfahrung von Erniedrigung und Entwürdigung im Hintergrund. Wie kann da Kraft und Seligkeit hineinkommen anders als durch Achtung? Ich achte dich, fremder, mir unverständlicher Mensch. Ich achte dich.

Und der Fanatismus der Regierungsclique in Washington: Hat nicht auch der Papst starke Worte gefunden gegen eine Politik, die die Gewaltspirale nur noch anheizt? Jesu Vorbild: Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. Punkt. Also lerne, die andere Wange hinzuhalten und lerne, noch im Feind den Nächsten zu erkennen. Hoch aktuell.

Und die Ausgeflippten und Suchenden, die Ermüdeten und Orientierungslosen unserer Alltagskultur: Hat ER sie nicht um sich gesammelt und Geschichten erzählt, die zu Herzen gingen: Vom verlorenen Schaf, vom wiedergefundenen Sohn, von den gerecht behandelten Arbeitern im Weinberg? Und hat ER nicht mit den Sündern getafelt, Feste gefeiert? Waren nicht sogar zuweilen Dirnen in seiner Gesellschaft und verdächtige Kollaborateure und Ausländer?
War ER nicht bereit, missverstanden zu werden für seine Volksnähe von Seiten der damaligen religiösen Führer? War das nicht ein guter Teil der Seligkeit, die er verströmte, dass Menschen in seiner Nähe aufatmeten und gerne sie selber waren. Und siehe, so lernten sie echte Liebe. Nicht mehr verordnet, nicht mehr sanktioniert, sondern aus ganzem Herzen, ganzer Kraft und ganzer Seele.

Was ist deine Sünde? Also sagen wir: Was ist deine Zerrissenheit? Wo empfindest du dich als Nicht-Du? Wo bist du innerlich ge-sondert (in Sünde)? Erzähl dem, der’s versteht, von deiner Traurigkeit. Es kann ein Pastor sein, eine Seelsorgerin, auch die Ärztin, auch der Nachbar oder der Trinkgeselle nachts um drei irgendwo am Bahnhof Zoo. Äußere dich zu dir selbst. Und höre mal zu. Dem anderen, der vielleicht auch sein Herz ausschütten möchte.

Und siehe, ER ist euch nicht fern. Vielleicht seid ihr nicht ausdrücklich in seinem Namen versammelt. Vielleicht trefft ihr euch nicht in der Kirche und im Gottesdienst. Aber es kann auch in zwielichtiger Atmosphäre sein, wenn Gott Gott ist. Und Gott ist Gott und kein schmollend Beleidigter im Winkel der Geschichte. Christus Jesus ist nicht der Heiland der letzten Ritter des Glaubens und nicht der himmlische Liebhaber aller frommen Frauen. ER ist mitten im Schlamassel des Westjordanlandes und Bagdads. Man erkennt ihn in den Augen aller, die Not leiden. Man erkennt ihn in den Taten derer, die Frieden und Menschlichkeit stiften. Oft ist ER inkognito. Manchmal wird er ausdrücklich. Vielleicht, wo man es nicht vermutet.
In jenem Dossier über Religion in Berlin ist auch die Rede von einem Kneipenbesitzer, der Christ ist und sich zur Kirche hält. Manchmal, erzählt er, kommt es frühmorgens zu Gesprächen mit halb betrunkenen Kunden über ihr Leben und Gott und die Welt.

„Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.“
Amen.

Bernd Vogel
Bernd.Vogel@evlka.de

 


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