Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juni 2004
Predigt über 1. Johannes 4, 16b-21, verfaßt von Gerlinde Feinde
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Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe. Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht? Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

Liebe Gemeinde!

„Sag mir noch mal, wie lieb du mich hast!“ fordert der kleine Junge seine Mutter auf. Die kennt das Spiel schon und lacht und breitet die Arme aus: „Sooo lieb hab ich dich!“ – „Und ich hab dich sooooo lieb!“ sagt der kleine Mann und streckt seine Hände so weit es geht nach links und rechts. „Und ich hab dich sooooooo lieb!“ sagt da wieder die Mutter mit noch weiter ausgebreiteten Armen. Der Bub sieht sich um: „Und ich hab dich lieb von hier bis zum Ende der Straße!“ – „Und ich hab dich lieb bis zum Ende der Stadt“, antwortet die Mutter, und so geht es weiter den Fluß entlang bis zur Mündung, übers Meer und Kontinente, bis zum Mond und zur Venus, bis zur Sonne und zur Milchstraße. „Und ich hab dich lieb bis ans Ende des Universums!“ triumphiert der Junge, denn da ist ja dann die Welt zu Ende; weiter kann auch die Mutter nicht kommen. „So lieb hab ich dich auch!“ sagt sie und gibt ihm einen Kuss. So weit lieb – bis ans äußerste Ende der Welt und der Zeit, bis an die Grenze zur Ewigkeit.

„Sag uns noch mal, Johannes, wie lieb hat uns Gott?“ so scheinen die Leute gefragt zu haben, an die sich der erste der drei Johannesbriefe richtet. „Hat er uns so lieb, daß es nicht nur für dieses Leben reicht, sondern auch für das nächste? Und wie kann uns diese Liebe helfen, unser Leben zu bestehen in einer lieblosen Welt?“ Denn das ist ja die Erfahrung, die die Leute tagtäglich gemacht haben, die wir heute auch noch machen: Daß zwar viel von der Liebe die Rede ist, daß sie manchen gar der höchste Wert ist, alles erlaubt und alles entschuldigt – aber daß wir so wenig von ihr sehen.

Wie viele Brautpaare suchen sich den Text für ihre Hochzeit, indem sie das Stichwort „Liebe“ in eine Suchmaschine eingeben oder eine Konkordanz danach befragen – weil es doch eine Liebesheirat sein soll! Dabei kann die Ehe doch nur dann gelingen und von Dauer sein, wenn außer der Liebe auch noch andere Gemeinsamkeiten existieren und andere Werte und andere Voraussetzungen geklärt sind. Wenn wir davon hören und lesen, daß eine um ihrer großen Liebe willen alle Brücken hinter sich abgebrochen hat, dann entlockt uns das schon mal einen romantischen Seufzer – aber was, wenn die Liebe nicht weit genug reicht, nicht sooo oder sooooo groß ist und schon gar nicht bis zum Ende des Universums geht?

Daß Eltern und Kinder einander lieben, das setzen wir voraus. Und wir wissen, daß zur liebevollen Erziehung auch Grenzen gehören. Deshalb war es ja durchaus liebevoll formuliert, wie Kronprinz Frederik von Dänemark seinem Vater vor ein paar Jahren öffentlich erklärte: „Man sagt, wenn Eltern ihre Kinder züchtigen, tun sie es aus Liebe. Wenn das wahr ist, lieber Papa, dann hast du uns deine Liebe oft und sehr heftig spüren lassen!“ Aber nicht alle Kinder, die von ihren Eltern geschlagen werden, können das so launig formulieren.

Welch fürchterliche Dinge haben Menschen einander im Namen der Liebe schon angetan! Sogar Marc Dutroux, dem zur Zeit in Belgien der Prozeß gemacht wird, hat sich in seiner Verteidigungsrede ausgerechnet auf Liebe berufen, zu seiner Frau und zu den Mädchen, die er gequält und ums Leben gebracht hat.

Von Liebe ist viel die Rede – und manchmal wenig zu sehen. Kein Wunder also, daß die Gemeinde, an die Johannes schreibt, zweifelnd nachfragt. Was sie von Jesus gehört und verstanden haben, was ihnen aus dem Evangelium bekannt ist, das möchten sie glauben können und sich darauf verlassen. Aber sie haben andere Erfahrungen gemacht: Das Verhältnis zu anderen christlichen Gruppen ist schwierig. Der Bruch mit dem Judentum ist vollzogen. Die nichtchristliche Umwelt reagiert auf den neuen Glauben mit Verfolgung. Ist es nicht natürlich, daß man sich da wehren möchte? Ist es nicht selbstverständlich, daß wir Ungerechtigkeiten nicht auf uns sitzen lassen und ein Ventil brauchen für Wut und Enttäuschung? Ist es nicht nachvollziehbar, daß uns Zweifel kommen, ob die Entscheidung richtig war, die wir getroffen haben?

Auf all diese Fragen reagiert der 1.Johannesbrief. Und der Gemeindevorsteher bemüht sich um eine Sprache und Argumentation, die die Leute verstehen können. Glaube und Liebe gehören zusammen, sagt er, denn „die Liebe ist aus Gott“ (V.7), und „wer bekennt, daß Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und der bleibt in Gott.“ (V.15). Das ist die Basis, von der aus er sein Denken entwickelt, und von dieser Plattform aus wendet er sich den drei Fragen zu, von denen die Philosophen sagen, daß es die einzigen Fragen sind, die zu stellen sich im Leben wirklich lohnt: Was können wir wissen? Was dürfen wir hoffen? Und: Was sollen wir tun? Die erste Frage sucht nach dem Grund und Ursprung unseres Lebens, fragt also nach Gott. Die zweite forscht nach der Zukunft, nach dem Sinn des Lebens und dem, was nach dem Tod kommt. Die dritte prüft unsere Handlungen, misst sie an dem, was wir sind (oder besser: was wir sein sollen). Und die Antworten zu dieser Frage führen alle über das Stichwort „Liebe“:

Gott ist Liebe, sagt Johannes. Er sagt nicht: Gott ist die Liebe oder: Gott ist nur Liebe. Sondern er meint: Gott ist ganz Liebe. Er kennt die Welt, die er schuf, denn er ist ihr ganz nahe gekommen. Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn Menschen lieben, er hat am Leibe Jesu Christi erfahren, wie ihre Leidenschaften sich auswirken. Wenn wir nach Gott fragen, wenn wir wissen möchten, wer er ist und wie er handelt, dann müssen wir uns nicht mit abstrakten Begriffen und Denkmodellen aufhalten, müssen uns nicht den „Urgrund des Seins“ oder den „spiritus rector aller Dinge“ denken oder gar den Kindern nahe bringen, die uns nach Gott fragen. Wir können ihnen Gott zeigen, wenn wir ihnen von Jesus erzählen – davon, wie er mit den Menschen umgegangen ist, die ihm begegnet sind. Von Wundern können wir erzählen, davon, daß er heilsame Veränderungen bewirkt und zerbrochene Beziehungen wieder hergestellt hat. Seine Gleichnisse und seine Reden können wir erzählen und uns selbst an ihnen vergewissern, wer Gott ist: Jesus zeigt uns den Vater, wenn er sagt: „Bleibt in meiner Liebe“ (Joh 15,9), und schließlich erkennen wir, daß die Verbindung zwischen ihm und uns aus Liebe besteht, nicht aus Pflicht oder gar Angst.

„Furcht ist nicht in der Liebe“, erklärt Johannes und wendet sich der zweiten großen Frage zu: „Was dürfen wir hoffen?“ – Natürlich weiß er, daß der Tag des Gerichts kommen wird; er rechnet fest damit, hat keine neuzeitlichen Zweifel an der Existenz der Hölle. Aber das Thema interessiert ihn nicht, denn nur Furcht rechnet mit Strafe – wer aber wirklich liebt und sich geliebt weiß, für den ist Furcht kein Thema, so wenig wie Eifersucht und Zweifel und mangelndes Vertrauen. Wahre Liebe, so sagt man, erträgt sogar, nicht wieder geliebt zu werden, d.h. sie fordert nichts ein vom anderen, sie verlangt nichts, sie sagt nicht: „Ich liebe dich doch, ich habe mich für dich entschieden, nun erwarte ich auch von dir, daß du mich liebst und mir dies oder das tust.“ Glaube, der aus der Liebe Gottes kommt, hat mit Furcht nichts zu tun und droht auch nicht mit Strafe. Wo das doch geschieht, wo Hölle und Gericht und die Not der Entscheidung das Denken und das Bekennen bestimmen, da wird der Glaube verfehlt, da fallen wir heraus aus der Liebe, die Gott ist.

Liebe treibt die Furcht aus – auch die Furcht vor dem Urteil anderer. Anschaulich ist das Beispiel, das Johannes wählt, um die dritte Frage zu beantworten: Was sollen wir tun? „Wenn einer sagt: ‚Ich liebe Gott!’ und haßt doch seinen Bruder, der ist ein Lügner,“ schreibt er, und er weiß: Diese Situation kennt jede und jeder in der Gemeinde! Und selbst da, wo wir den großen Mantel pflichtbewusster Harmonie über unsere Konflikte decken möchten, glimmt im Untergrund manch gefährlicher Funke des Zorns und der Abneigung. Deshalb ist es allemal besser, das, was uns kränkt und stört, offen anzusprechen und zu klären – und zu verzeihen, notfalls auf Kosten des eigenen Stolzes. Nicht jedes Unrecht lässt sich wieder gut machen. Aber um der Liebe willen darf nicht noch mehr Unrecht dazukommen.

Was können wir wissen? - Gott ist Liebe!

Was dürfen wir hoffen? – Liebe rechnet nicht mit Strafe; wir brauchen uns nicht zu fürchten vor dem Tag des Gerichts.

Was sollen wir tun? – Laßt uns einander lieben, denn an der Art, wie wir miteinander umgehen, soll man erkennen, wie Gott ist und welche Hoffnung er uns schenkt.

Wir sollen es anderen zeigen, so wie die Mutter ihrem Kind zeigen konnte: „Ich hab dich sooooooo lieb!“ – und wenn sie ihm sagen will, wie groß und weit Gottes Liebe reicht, dann hat sie das fröhliche Spiel leicht gewonnen: Gott hat uns lieb – nicht bloß bis zu den Grenzen des Universums, nicht bis ans Ende von Welt und Zeit, sondern weit darüber hinaus. Gott ist Liebe von Ewigkeit zu Ewigkeit, Liebe die den Tod nicht fürchtet und die Angst nicht kennt – und wer in dieser Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Amen.

Pfarrerin Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
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