Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Pfingsten, 30. Mai 2004
Predigt über 2. Korinther 3, 17b, verfaßt von Wolfgang Ratzmann
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Predigt zum 1. Pfingstfeiertag 2004, am 30.5.04, zugleich Tag des Gedenkens an die Zerstörung der Universitätskirche St. Pauli, im Rahmen einer Predigtreihe zu Kunstwerken aus der ehemaligen Universitätskirche: „Mit Bildern predigen“
Text: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ ( 2.Kor. 3, 17b)

1. Vorbemerkungen zur gottesdienstlichen Situation:

Seit der Wende 1989/1990 wird in Leipzig in unterschiedlicher Weise am 30. Mai, dem Tag der Zerstörung der ehemaligen Universitätskirche St. Pauli im Jahr 1968, an diesen Akt staatssozialistischer Kulturbarbarei erinnert. Die Universitätskirche war im Krieg nicht zerstört worden, nur das alte Hauptgebäude, das an sie angrenzte, war teilbeschädigt. Beide Bauwerke am damaligen Karl-Marx-Platz, der heute wieder Augustusplatz heißt, wurden nach einem Beschluss der Leipziger Stadtverordnetenversammlung auf Druck vom SED-Chef Walter Ulbricht und seines SED-Statthalters in Leipzig, Paul Fröhlich, gesprengt und ihre Trümmer in Windeseile weggeschafft, um dem Neubau einer „sozialistischen Universität“ Platz zu machen. Viele Leipziger hatten damals dagegen ohne Erfolg protestiert. Einzelne wurden wegen ihrer Aktivitäten gegen diesen barbarischen Akt mit Haftstrafen belegt.

In diesem Jahr fällt der erste Pfingstfeiertag mit dem Jahrestag der Zerstörung der Universitätskirche zusammen. Außerdem findet in diesem Gottesdienst ein kleiner Predigtzyklus des Sommersemesters 2004 seinen Abschluss, in dem Kunstwerke aus der ehemaligen Universitätskirche jeweils zum Thema der Predigt geworden waren. Der „Kustos“ bzw. eine Mitarbeiterin aus der „Kustodie“ (der für die Kunstschätze zuständigen kleinen Abteilung der Universität) gaben kurze kunsthistorische Erläuterungen, bevor dann in der Predigt ein Bild und ein dazu gehöriger biblischer Text aufgenommen wurden. Schließlich spielt für viele Gottesdienstbesucher in diesem Jahr sicher eine Rolle, dass nach langen und heftigen Auseinandersetzungen um den Neubau des Universitätscampus nun der holländische Architekt E. Egeraat einen Entwurf vorgelegt hat, dem die große Mehrheit der Universitätsangehörigen, der Leipziger und der in der Wettbewerbsjury anwesenden Fachleute zustimmen konnten. Das geplante Bauwerk präsentiert sich als moderner, sehr interessanter Entwurf, der sich zugleich mit der alten Form der Universitätskirche auseinandersetzt und sie unverkennbar in Erinnerung ruft. In diesem Raum, der Aula und Kirche zugleich sein wird, werden wohl auch die in der Predigtreihe vorgestellten Kunstwerke ihren Platz finden, auch die Paulusstatue, die im Pfingstgottesdienst behandelt wird. Die Gemeinde, die sich dazu in der St. Nikolai-Kirche versammelt, erhält Bilder im DIN-A-5-Format, auf denen die Paulusstatue abgebildet ist.

2. Gottesdienstablauf

Orgelvorspiel
Liturgischer Gruß und Begrüßung
Lied EG 294, 1 und 3
Eingangsliturgie
Lesung Apg. 2, 1-18
Lied EG 125, 1 und 2
Beitrag der Kustodie: die Paulusstatue
Lied EG 125, 3
Predigt
Glaubenslied EG 184
Dankopferansage und –einsammlung, dabei EG 134, 1ff
Fürbittgebet
Abendmahl
Mitteilungen
Lied 294,4
Sendung und Segen
Orgelnachspiel


3. Die Predigt

Liebe Gemeinde,

es war ein 30. Mai, heute vor 36 Jahren, als an der ehrwürdigen Universitätskirche St. Pauli ein dumpfer Knall ertönte und zunächst der Dachreiter einknickte, dann die Rosette des Giebels zerbarst und unmittelbar danach die spätgotische Hallenkirche, die so viele Kriege überlebt hatte, in sich zusammen sank. Nur notdürftig hatte man in den Tagen zuvor einige Kunstschätze retten können, wertvolle Epitaphien - hastig mit Presslufthämmern herausgebrochen, der spätgotische Flügelaltar, die kleine Orgel... Für den großen barocken Orgelprospekt hatte man keine Zeit gelassen. Der flog ebenso in die Luft wie das kostbare Gewölbe, wie der Kreuzgang, wie die vielen historischen Grabstätten von Prominenten der Geschichte Leipzigs, vor allem der Universitätsgeschichte. Der 30. Mai 1968 – ein Tag barbarischer Zerstörung, an den wir in Leipzig im Universitätsgottesdienst erinnern müssen, auch wenn Pfingsten gekommen ist, das „liebliche Fest“.

Wir müssen an diesem Tag des Heiligen Geistes zunächst an den anderen Geist erinnern, der sich in dieser barbarischen Zerstörung austobte. Es waren ja nicht ein primitiver Staatschef und ein bornierter SED-Bezirksparteisekretärs, die nun endlich bekamen, was sie wollten: eine Universität ohne Kirchengebäude. Es war mehr: Es war der zynische Geist eines Systems, das für sich in Anspruch nahm, Heimstatt für alle wahre Kultur und Menschlichkeit zu sein! Es war ein Geist der Arroganz, der keine Ehrfurcht vor dem kannte, was die Generationen vor uns gedacht und geschaffen hatten. Es war ein Geist der Maßlosigkeit, der keine Begrenzungen dulden wollte – nicht durch die Geschichte und erst recht nicht durch einen religiösen Glauben. Man war angetreten mit dem Willen, das Himmelreich auf Erden zu errichten und alle Religion überflüssig zu machen. Dieser Geist ideologischer Verblendung steht uns vor Augen, wenn wir in diesem Jahr Pfingsten feiern.

In diesem Gottesdienst wenden wir uns noch einmal einem Kunstwerk zu, das ebenfalls kurz vor der Sprengung aus der Universitätskirche geborgen werden konnte. Diesmal ist es kein Gemälde wie bisher, sondern eine in Stein gehauene Statue aus der Werkstatt eines spätmittelalterlichen Steinmetzen. Sie stellt Paulus dar, nach dem die Kirche schon in vorreformatorischer Zeit von den Dominikanern benannt worden ist. Deshalb sprechen wir auch von der „Paulinerkirche“. Und auch das geplante „Paulinum“ im neuen Hauptgebäude wird in seiner Weise noch immer an Paulus erinnern, an den großen Apostel und Missionar des 1. Jahrhunderts nach Christus.

Was für ein Paulus wird uns hier gezeigt? Mir fällt auf, wie schmal die Gestalt ist. Es ist eine andere Art von Kraft, von der er bestimmt wird, als die Körperkraft. Körperlich ist er wohl eher ein zerbrechlicher Mensch. Ich denke an seinen „Pfahl im Fleisch“, von dem der Apostel schreibt, vielleicht eine schlimme Krankheit, von der er immer wieder einmal heimgesucht wurde. Und ich denke daran, wie Paulus sich selbst gelegentlich eingeschätzt hatte: Er sei bei den Korinthern gewesen „in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern“ (1. Kor. 2, 3). Auch der reichliche Stoff, kunstvoll aus Stein gehauen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein schmaler Körper ist, der hier vor uns steht. Und dazu hat die Zeit ihr Übriges getan, um der Gestalt ihren versehrten Eindruck zu verleihen: Die Hand mit dem Schwert – als Sinnzeichen für das Schwert des Glaubens und für die Schärfe der Gedanken – ist abgebrochen. Nur die andere Hand kann noch das Bibelbuch halten und symbolisch auf Christus hinweisen, den er, Paulus, predigen will. Denn nichts anderes will er letztlich anbieten als Christus, den Gekreuzigten – mit all seinen Argumenten, mit der Kraft seiner leidenschaftlichen Sprache. Auch seine eigene Schwachheit und die Verfolgungen, die er erleidet, sind ihm ein Hinweis auf Christus. Was kann uns der schon sagen: dieser versehrte und schwache Gelehrte mit seinem Bibelbuch?

Eine schmale und zerbrechliche Gestalt. Aber man ahnt wohl etwas von der besonderen Kraft dieses Menschen, wenn man sein Haupt betrachtet: das Gesicht eines Mannes, der Würde ausstrahlt und Weisheit. Der Mund ist leicht geöffnet, als ob er dabei wäre zu sprechen. Die Augen schauen den Betrachter an, weil er ihm persönlich etwas mitzuteilen hat. Diese Gestalt ist kein Marktschreier, der große Gesten braucht und laut auf sich aufmerksam machen muss. Er verschafft sich Geltung durch sein Wesen, durch die Sache, die er vertritt.

Dieser Paulus begegnet uns Pfingsten 2004. Und das ist gut so, denn der Apostel ist auch eine pfingstliche Gestalt. Für ihn ist der Geist Gottes immer wieder ein wichtiges Thema. In vielen Zusammenhängen kommt er auf den Geist zu sprechen – wenn er von der Taufe redet, in der wir den Geist Gottes empfangen, wenn er von der Gemeinde spricht und von den Gaben des Geistes, die in ihr zugelassen und geordnet eingesetzt werden sollen, wenn er vom Glauben spricht als einem Geschenk des Geistes oder von der Liebe Gottes, die uns durch den Geist in die Herzen gegossen ist ... Ich will aus den vielen Sätzen über den Heiligen Geist, die Paulus geschrieben hat, nur einen herausgreifen: nämlich den berühmten Satz aus dem 2. Kor 3, 17b: Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.

Freiheit – ein großes Wort. Nichts sei den Deutschen lieber als ihre persönliche Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit, habe ich neulich in einer soziologischen Studie gelesen. Ist es diese Freiheit, die Paulus meint? Die Freiheit, umgebremst reisen zu können und sich von niemandem in die persönliche Lebensplanung hineinreden lassen zu müssen? Was hat der Geist Gottes mit dieser Freiheit zu tun? Oder geht es um eine andere Art von Freiheit? Wovon befreit der Geist Gottes? Und wozu befreit er Menschen?

Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wovon befreit der Gottesgeist die Menschen? Mit der Sprache des Paulus gesprochen: Er befreit Menschen davor, ihr Leben selbst rechtfertigen zu müssen. Wir wissen: die Rechtfertigung ist das zentrale Thema des Apostels. Anders gesagt: Der Gottesgeist bewahrt Menschen davor, vor sich selbst, vor anderen und vor Gott permanent nachweisen zu müssen, wie wertvoll, tüchtig und perfekt sie sind. Er holt Menschen aus diesem Zwang, sich ständig Anerkennung und Liebe durch Leistung und Erfolg erwerben zu müssen. Denn er ist ein Geist der Liebe, der sich denen zuwendet, die es zulassen, denen, die sich dieser Zuwendung Gottes aussetzen – unabhängig von all ihrer Kraft und beruflichen Leistung, unabhängig von ihrer äußeren Schönheit oder von ihrem perfekten Auftreten, unabhängig vom Maß ihrer Moralität und Religiosität.

Der Geist Gottes befreit von dem Zwang, sich persönlich dauernd beweisen zu müssen, dass man etwas wert ist. Das kann individuell eine unglaubliche Befreiung sein. Aber er will auch von kollektiven Zwängen und kollektiven Ideologien befreien, die ein grandioses Bild von der historischen Rolle eines Volkes oder einer Rasse oder einer Klasse entwerfen und die ihre eigenen Grenzen und Schattenseiten dabei nicht wahrhaben wollen. Deren Anliegen mag zunächst human und fortschrittlich gemeint sein, aber weil man keine Grenze kennt, weil man das Glück und den sogenannten Fortschritt für alle irgendwann mit Gewalt durchsetzen muss, weil man irgendwann nur noch den Erfolge sehen will und nicht mehr die Wahrheit – deswegen zählt dann eine spätgotische Hallenkirche nicht mehr, deswegen ignoriert man den Protest der Menschen, deswegen verfällt man irgendwann auf die Idee, den Terrorismus durch Folter und Bomben verrichten zu wollen... Der Zwang zum Grandiosen, zum Erfolg, zur Einmaligkeit, ursprünglich vielleicht verbunden mit humanistischen Anliegen, schlägt irgendwann um in Maßlosigkeit und Arroganz und Brutalität. Er fordert irgendwann seine Opfer – wie vor 36 Jahren in Leipzig. Davor – auch vor solchen kollektiven Beglückungsansprüchen und Maßlosigkeiten – bewahrt der Gottesgeist, so Paulus. Denn wir können und müssen uns auch kollektiv vor Gott nicht durch grandiose Taten rechtfertigen. Gott liebt diese Welt, so wie sie ist. Seiner Zuwendung dürfen wir uns durch Christus sicher sein. „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“, schreibt Paulus (2.Kor. 5, 19a).

Diese paulinische Tradition ist ein wichtiges Erbe für eine Universität – und zwar für alle, die an ihr lehren und forschen, studieren und arbeiten, unabhängig davon, ob sie Christen sind oder nicht. Im Zentrum wird künftig ein „Paulinum“ stehen, symbolisiert auch durch diese Paulusstatue: Das setzt auch dem Anspruch unserer Wissenschaften heilsame Grenzen. Wir unterliegen als Wissenschaftler nicht dem Zwang, uns einen Namen um jeden Preis machen zu müssen. Wir müssen das, was wir nicht wissen, nicht verdecken. Wir handeln im Respekt, in der Ehrfurcht vor dem, was uns vom Schöpfer und von den Generationen vor uns übertragen wurde. Wir lassen uns herausrufen aus Träumen von grandiosen Veränderungen dank Wissenschaft und Technik hin zu dem, was im Interesse des Lebens wirklich sinnvoll ist. Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit zu einer menschlichen Wissenschaft, die ihr Maß und ihre Verantwortung kennt.

Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, sagt Paulus. Freiheit wozu? Wer nicht mehr von der Sorge um die eigene Grandiosität bestimmt wird, der wird frei zu dem, was wirklich Not tut, frei zu dem, was der andere, was die Gemeinschaft braucht. Und der wird frei zur Verständigung zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Prägung. Paulus entwirft dafür sein Bild von der Gemeinde als dem Leib Christi mit den vielen unterschiedlichen Gliedern, die, erfüllt vom Gottesgeist, einander helfen und zusammenwirken. Lukas erzählt von dieser pfingstlichen Verständigung in seiner Weise: von dem Pfingstwunder, wie die Vielen mit ihren unterschiedlichen Sprachen doch gemeinsam und verstehbar von den großen Taten Gottes reden.

Wir Leipziger haben in diesem Jahr auch ein geradezu pfingstliches Wunder der Verständigung zwischen ganz unterschiedlichen Interessen und Konzepten erlebt. Eigentlich musste der neue Wettbewerb für den Universitätsneubau schief gehen. Wie sollte es Möglichkeiten der Verständigung geben, wenn die Einen einen originalgetreuen Wiederaufbau der Universitätskirche und die Anderen rein funktional Flächen für Lehre und Forschung wollen? Wie sollte man auf einen gemeinsamen Nenner kommen, wenn in der Öffentlichkeit schon so viele Konflikte offen ausgetragen worden waren und so viele Verletzungen entstanden waren? Und wenn inzwischen Sachpositionen zum politischen Kampfmittel zwischen den Parteien geworden waren? Der Geist Gottes weht wohl nicht immer so wie damals ins Jerusalem mit Brausen vom Himmel und einem Sprachenwunder. Manchmal lässt er sich einbinden in Entwürfe von Menschen und Abstimmungsergebnisse von Kommissionen. Vielleicht haben Menschen nicht nur leidenschaftlich gekämpft, sondern auch leidenschaftlich darum gebetet. Auf jeden Fall haben wir dieses Wunder pfingstlicher Verständigung nun sichtbar vor Augen. Und es wird hoffentlich weiter anhalten – auch in Zeiten, in denen die Planung präzisiert werden muss, in denen um viele Details, um das nötige Geld, um verschiedene Interessen weiter gerungen werden wird. Da wird es wichtig sein, sich immer wieder an das pfingstliche Wort des Apostels Paulus zu erinnern: Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit, auch die pfingstliche Freiheit zur Verständigung.

Liebe Gemeinde, mich bewegt es an diesem Pfingstfest sehr, dass wir einerseits durch das Gedenkdatum an den Geist der Maßlosigkeit und der Barbarei erinnert werden und dass uns andererseits dieses Wunder der Verständigung die Präsenz eines anderen, des pfingstlichen Geistes zeigt - nach allen scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen in Sachen Universitätscampus. Gott schenke uns weiter seinen Geist der Freiheit, uns persönlich, unserer Universität, unserem ganzen Land, damit die vielen Maßlosigkeiten von heute begrenzt werden und der Geist der Liebe und Verständigung weiter Raum gewinnt. Amen

Prof. Dr. Wolfgang Ratzmann, Theologische Fakultät Leipzig
ratzmann@theologie.uni-leipzig.de


(zurück zum Seitenanfang)