Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Pfingsten, 30. Mai 2004
Predigt über Apostelgeschichte 2, 1-18, verfaßt von Burghard Krause
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

am Himmel regte sich kein Lüftchen. Nichts deutete auf etwas Besonderes hin. Nur in den Straßen wimmelte es von Menschen. Aber auch das war ganz normal zum Pfingstfest in Jerusalem. Jedes Jahr spülte dieses jüdische Wallfahrtsfest ein buntes Völkergemisch aus aller Herren Länder in die Stadt. An das Sprachengewirr hatten sich inzwischen alle gewöhnt. Man kam zusammen, um Gottes Bund mit seinen Menschen zu feiern. In dankbarem Rückblick erinnerte man sich an die zehn Gebote, an Gottes große Orientierungshilfe für das Leben. Wiedersehensfreude, nostalgische Stimmung, das Festritual wie immer. Alles schien so zu werden wie im letzten Jahr auch. The same procedure as every year. Und irgendwo hinter verschlossenen Türen die Freunde Jesu mit der bangen Frage, wie es denn nun weitergehen soll, nachdem Jesus sie verlassen hatte. Von Aufbruchsstimmung keine Spur. Nein, mit der großen Überraschung Gottes an diesem Pfingsttag hatte wirklich keiner gerechnet.

Aber wer Pfingsten feiert, der ist vor Überraschungen nie sicher. Denn Gottes Geist ist immer für eine Überraschung gut. Der Heilige Geist ist kein Langweiler. Er lässt nicht alles beim Alten. Er bringt Menschen in Bewegung. Mitten hinein in das Fest der Erinnerung lässt Gott zu aller Erstaunen seine Verheißung wahr werden: „Ich will ausgießen von meinem Geist auf alle Menschen“. Da geht plötzlich eine Tür nach vorn auf. Da zeigt Gott unmissverständlich: „Meine Geschichte mit euch geht weiter. Ich habe noch viel vor mit euch Menschen.“ Und plötzlich ist sie da, die Aufbruchsstimmung, mit der niemand gerechnet hatte.

Ob Lukas wohl etwas übertreibt? Da geraten die Menschen ja regelrecht aus dem Häuschen, als Gottes Geist in ihnen Wohnung nimmt. Sind Feuer und Flamme. Wie vom Wirbelsturm erfasst. Wie betrunken von einem Sog, der sie nach vorn zieht. Kein Wunder, dass die Spötter damals die Turbulenzen in Jerusalem auf übermäßigen Weingenuss zurückgeführt haben. Pfingsten in Jerusalem - das gleicht wirklich eher einem Fußballstadion nach einem Tor als einem Sonntagsgottesdienst bei uns oder einer Synode bei ihren Beratungen. Ich frage mich, wie wir wohl reagiert hätten, wären wir damals dabei gewesen? Wir nüchternen Südnie-dersachsen! So schnell sind wir ja nicht aus der Fassung zu bringen - zumindest nicht, wenn es um Kirche und Glaube geht. Unsere ganze Kirche kocht ja zur Zeit eher auf Sparflamme, als sich neu entflammen zu lassen vom Evangelium. Wir rechnen lieber dreimal nach, ob die Finanzen noch reichen, statt uns auf irgendwelche unberechenbaren Abenteuer mit dem Heiligen Geist einzulassen. Schließlich will man ja keine unangenehmen Überraschungen erleben. Aber wer wirklich Pfingsten feiern will, der ist vor Überraschungen nicht sicher. Auch heute nicht. Drei staunenswerte Überraschungen, von denen unsere Pfingstgeschichte erzählt, möchte ich uns jetzt vor Augen führen.

1. Da lese ich zunächst den staunenswerten Satz: „Und sie wurden alle erfüllt vom Heiligen Geist“. Erfüllt, nicht nur gestreift, nicht nur berührt – nein, angefüllt mit Gottes Kraft! Ich sehe leere Gefäße vor mir, in die plötzlich etwas hineinfließt. Leere Gefäße - das waren sie, die Freunde Jesu vor Pfingsten. Hohl und kraftlos. Wie Waisenkinder allein gelassen. So fühlen wir uns ja auch oft: Innerlich leer und kraftlos, ohne Glaubensmut, Gewissheit und Hoffnung. In defensiver Wartestellung, ob es noch weitergeht mit unserer Kirche, ob Gott noch etwas vor hat mit uns. Die Pfingstgeschichte überrascht uns mit der Zusage Gottes: „Ich komme neu auf euch zu. Ich will eure innere Leere mit der Kraft meines Geistes ausfüllen“. Das ist wirklich erstaunlich: Gott will nicht fernab über uns thronen. Er sehnt sich danach, in unser Lebenshaus einzuziehen. Wie ein guter Freund und Lebensbegleiter, mit dem wir unse-re Wohnung teilen. Wir Menschen sind die Wahlheimat Gottes. Unser Herz ist sein Tempel. In unserem Gemüt möchte Christus zu Hause sein. In unseren Gedanken will er Raum finden. Heiliger Geist – das heißt: Der große Gott macht sich klein, so klein, dass er in der Enge unserer Menschenherzen Platz hat. Wenn es in uns weint, möchte Gottes Geist uns trösten. Wenn wir zweifeln, will er in uns neue Gewissheit wecken. Wenn uns die Worte zum Beten fehlen, will er uns vertreten mit unaussprechlichem Seufzen. Wenn wir ausgebrannt sind, will er uns wieder mit Lebensfreude und Hoffnung entzünden. Pfingsten ist die überraschende Einladung Gottes an uns alle: Öffnet eure leeren Herzen, damit ich sie füllen kann mit meiner Kraft. Ihr dürft mich ganz neu erwarten!

2. Und hier die zweite Überraschung der Pfingstgeschichte: Gottes Geist öffnet Menschen den Mund. Bisher hatten sie sich nur hinter verschlossenen Türen getroffen, die Freunde Jesu. Waren unter sich geblieben, wollten nicht auffallen, mieden die Öffentlichkeit. Aber nun zu Pfingsten mischen sie sich plötzlich unter das Volk. Und das nicht als schweigende Minderheit. Nein, sie brechen ihr Schweigen um Gott. Ihre Zunge löst sich. Sie können nicht anders, als von Jesus zu reden. Theologisch ungebildete Leute fangen an „zu predigen, wie der Geist es ihnen eingibt“. Zu Pfingsten wird wahr, was Jesus seinen Freunden versprochen hat: „Ihr werdet meine Zeugen sein“. Man muss sich das mal vorstellen: Petrus, der Angsthase und Verleugner, hält in aller Öffentlichkeit eine unvorbereitete Pfingstpredigt! Die geht den Zuhörern durchs Herz. Die ganze zusammengewürfelte Menge in Jerusalem hört die Christen „von den großen Taten Gottes reden“. Und horcht auf!

Wenn sonst irgendwo eine riesige Menge zusammenläuft, dann wird meist von anderen großen Taten geredet. Auf Parteitagen von den Taten der Partei. Auf Fachkongressen von denen der Wissenschaft. Bei Familienfeiern von den großen Taten der gut geratenen Kinder. Überall dasselbe Lied: Wir reden gern von uns selbst, tauschen unsere Eitelkeiten aus, machen uns selbst groß. Darum sind unsere Gespräche auch häufig so langweilig. Pfingsten ist die Befreiung vom leeren Geschwätz. Denn Gottes Geist lehrt uns die Sprache des Lobpreises. Wo die großen Taten Gottes gerühmt werden, gewinnt die Welt ihren Glanz und ihre Schönheit zurück. Gottes Geist macht uns den Mund auf, dass wir von unserem Glauben reden, von dem, was uns im Scheitern trägt und was uns Hoffnung gibt. Wer von Gottes Geist erfasst wird, der wartet nicht immer nur auf das, was der pastorale Vormund sagt. Der wird selber mündig, nimmt das Evangelium in den Mund in aller Öffentlichkeit. Wir brauchen in unserer Kirche Menschen, die sich von Gottes Geist anstecken lassen, brauchen pfingstliche, geistesgegenwärtige Menschen, die in allem eitlen Geschwätz unserer Tage von Gottes großen Taten reden. Und von den kleinen auch: Von den kleinen Wundern des Alltags, von einer Bewahrung in Not, von Gottes Trost im Leid, von der Erhörung eines Gebets, von der Überwindung der Angst. Viele Christen denken: Über meinen Glauben reden - das kann ich nicht. Mir fehlen die Worte. Und der Mut auch. Aber Gottes Geist kann uns Mut und Worte geben, kann unsere Zunge lösen wie am ersten Pfingsttag, wenn wir damit rechnen, dass er ins uns und durch uns wirkt.

3. Und noch eine dritte Überraschung hält die Pfingstgeschichte für uns bereit: Gott schafft durch seinen Geist Verständigung zwischen Menschen, die sich sonst nicht verstehen könnten. Ein riesiges Völkergemisch ist da beieinander am ersten Pfingsttag in Jerusalem. Ein Sprachengewirr sondergleichen. Und die Freunde Jesu sprechen nur Aramäisch. Aber dann heißt es in der Pfingstgeschichte: „Die Menge kam zusammen und wurde bestürzt: denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.“ Das ist wirklich zum Staunen! Gottes Wort überschreitet Sprachgrenzen. Überwindet Sprachbarrieren. Gottes Geist wird zur Verständigungsbrücke zwischen Menschen, die einander fremd sind, weil sie aus unterschiedlichen Sprachwelten kommen. Plötzlich gelingt die Kommunikation. Aus leidvoller Erfahrung wissen wir: Dass Menschen sich verstehen, das versteht sich nicht von selbst. „Ihr versteht mich ja doch nicht!“ Wie oft sagen das Kinder über ihre Eltern, Eltern über ihre Kinder, Frauen über Männer und umgekehrt, Junge über Alte. Die moderne Kommunikationstechnik hat zwar aus der großen, weiten Welt ein kleines Dorf gemacht. Aber sind wir Menschen uns deshalb näher gekommen? Verstehen wir einander besser als vorher? Sprechen wir noch eine gemeinsame Sprache: Kirchliche und Kirchenferne, Ossis und Wessis, Arbeitende und Arbeitslose? Pfingsten heißt: Gottes Geist baut Brücken, die sonst zwischen uns Menschen abreißen. Er überwindet die Distanz, die uns nicht zusammenfinden lässt. Darum brauchen wir diesen Geist so dringend, wenn wir als Menschheit überleben wollen.

Allerdings: die Gemeinschaft, die dieser Geist wirkt, ist kein Einheitsbrei. Gottes Geist ist kein Gleichmacher. Er hebt die unterschiedlichen Sprachen, Milieus und Mundarten nicht auf: „Jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden“. Pfingsten ist der Beginn der weltweiten Kirche. Sie umspannt den ganzen Globus und ist durch eine bunte Vielfalt gekennzeichnet. Christus, das Licht der Welt, bricht sich wie in einem Prisma in den unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Ausdrucksformen des Glaubens – und kommt erst so ganz zum Leuchten. Der Heilige Geist will keine Uniformität. Er schafft eine pfingstliche Sprachenvielfalt - auch in unseren Gemeinden. Gut, wenn es in einer Gemeinde viele Mundarten des Glaubens und ganz unterschiedliche Frömmigkeitsstile gibt. Und noch wichtiger, dass wir Christen nicht nur eine Insidersprache pflegen, die draußen keiner versteht! Wenn das Evangelium unter die Leute soll, dann dürfen wir uns nicht auf eine fromme Sprachinsel zurückziehen. Gottes Geist will unsere Phantasie wecken, dass wir das alte Evangelium in neuen, unverbrauchten Worten weitersagen können.

Ein arabisches Sprichwort sagt: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen!“ Gott bittet uns zu Pfingsten: Baut keine Mauern, mit denen ihr euch vor meinem Geist und voreinander abschottet! Baut mir Windmühlen, die ich in Bewegung bringen kann! Wir können Gottes Geist nicht herbeizwingen. Er weht, wo er will. Aber wir können in der Windstille und Flaute, in der wir uns als Kirche zur Zeit befinden, Windmühlen der Erwartung aufstellen. Können und dürfen Gottes Geist herbei bitten, damit er uns neu in Bewegung bringt. Aber wenn wir das tun, sollten wir uns auch auf Überraschungen gefasst machen. Denn Gott will tatsächlich unsere Kirche neu beleben. Sein Geist ist auch heute noch für Überraschungen gut. Amen.

Landessuperintendent Dr. Burghard Krause, Göttingen
Lasup.Goettingen@evlka.de


(zurück zum Seitenanfang)