Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Rogate, 16. Mai 2004
Predigt über 1. Timotheus 2, 1-6a, verfaßt von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Geschwister,

die Zeiten waren schlimm. Es gab keine klare Linie, jeder lebte, wie es ihm gefiel, fremde Einflüsse gewannen an Boden, und viele Gemeindeglieder waren verunsichert. Wußten nicht mehr, auf wen sie hören, wem sie folgen sollten. Denn es hatten sich unterschiedliche, sogar gegensätzliche Strömungen entwickelt, heidnische Sitten und Bräuche waren wieder aufgelebt und hatten ihren Platz in christlichen Gottesdiensten gefunden.

Da verwirrte die Gemeindeglieder, das entzweite Gemeindeleitungen und Prediger, das stimmte Bischöfe bedenklich. „Wenn doch Paulus noch lebte!“ dachten viele, sagten es auch – und entfachten damit nicht selten heftige Auseinandersetzungen. Paulus war ja schon zu Lebzeiten nicht unumstritten gewesen – den einen war er nicht streng genug gewesen, anderen zu streng. Und jetzt, nach seinem Tod, versuchten seine Kritiker nach mehr Einfluss. Wollten, was sie für richtig hielten, durchsetzen. Das Bild von der einmütigen Urgemeinde, das Lukas in seiner Apostelgeschichte gezeichnet hatte, war zum Wunschbild geworden.

Besonders in Ephesus prallten die Unterschiede, die Gegensätze aufeinander. Da gab es unter den Juden, die Christen geworden waren, eine starke radikale Gruppe. Sie forderten, dass das ganze jüdische Gesetz mit all seinen Vorschriften gelten solle. Mit gleichem Recht forderten ehemalige Heiden das Gegenteil, wollten auch ihre alten religiösen Sitten und Bräuche beibehalten. Dann gab es welche – Griechen und Juden – die das Evangelium zum Aufruhr gegen die römische Herrschaft nutzen wollten. Und es gab andere, die eben davor warnten: Das würde die noch jungen Gemeinden, würde die Ausbreitung des christlichen Glaubens gefährden.

Einer, der Paulus lange Zeit auf seinen Reisen begleitet hatte – ich nenne ihn Tychikus, den Glücklichen – las von alle dem in einem Brief, den Timotheus ihm geschrieben hatte. Darin bat Timotheus um Rat, um Unterstützung. Timotheus wollte die Gemeinde beieinander, die Lehre des Paulus rein halten. Timotheus war noch jung, und seine Autorität reichte nicht aus, sich durchzusetzen. Darum hatte er sich an Tychikus gewandt.

Der saß nun mit geschlossenen Augen, das Schreiben in der Hand, schüttelte den Kopf und seufzte. Denn er wußte nicht, was er dem jungen Bruder raten sollte. In der Gemeinde des Tychikus sah es nicht viel besser aus, und auch er konnte das nicht verhindern – trotz seiner langen Zeit mit Paulus. „Vielleicht auch, weil ich schon so alt bin,“ dachte er dann manchmal. Doch den Dingen ihren Lauf lassen und zusehen, wohin der Karren rollte, konnte er auch nicht. Dafür war ihm der Glaube, wie Paulus ihn gelehrt hatte, zu wichtig. Er ahnte, dass er ein Stück Verantwortung dafür hatte, dass die Erinnerung an Paulus wach blieb. Das erschreckte ihn, das wollte er nicht, das konnte er nicht – wer war er denn schon! „Ich bin kein Paulus,“ murmelte er vor sich hin. „Was sagst du da?“ hörte er seine Frau fragen. Er hatte ihr Kommen nicht bemerkt, doch er war froh, nun jemanden zum Reden zu haben. Erzählte ihr von dem Schreiben des Timotheus, erzählte von seiner Ratlosigkeit und auch von seiner Ahnung, Verantwortung für den Glauben zu haben. Dafür aber, gestand er, fühle er sich zuu schwach und wohl auch schon zu alt.

„Aber einer muss das doch machen,“ empörte sich seine Frau, „und wer könnte das besser als du! Du bist vielleicht der letzte, der Paulus noch erlebt hat und nun die neuen Entwicklungen miterlebt. Es gibt wohl keinen besseren als dich, um eine Brücke zwischen Paulus und den Gemeinden heute zu schlagen, oder?“

Dann entwarf seine Frau aus dem Stand eine Gliederung für einen Brief, den Tychikus schreiben sollte, holte Schreibzeug und drückte es ihrem Mann in die Hand. Tychikus legte sich alles zurecht, seine Frau wiederholte die Gliederung und Tychikus machte sich Notizen. „Nun hol ich dir noch etwas Obst, dann lass ich dich allein,“ sagte seine Frau und ging Trauben holen.

Als sie zurückkam, hatte Tychikus noch nichts geschrieben. „Ich kann das nicht,“ klagte er. – „Dann lass uns beten,“ schlug seine Frau vor und begann, an der Gliederung entlang ein Gebet zu sprechen. Benannte die Nöte der Gemeinden, die gefährdete Einigkeit und dass doch ein Christus für alle gestorben und auferstanden sei; sie dankte für das Evangelium und seinen Prediger Paulus, bat für die jetzigen Prediger um Mut, für die Wahrheit zu kämpfen; bat für die Gemeindeglieder um Kraft für gottgefälligen Lebenswandel, für die Gemeindeältesten, Bischöfe und Diakonen um Glaubwürdigkeit in Amts- und Lebensführung, bat für alle um Widerstandskraft gegen Irrlehren und schließlich um die Gabe eines Lebens in Friede und Freiheit.

Nachdem sie ihr Gebet mit der Bitte um Gottes Segen beendet hatte, strich sie ihrem Mann liebevoll über sein schütteres Haar, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging leise davon.

Nun war Tychikus mit seinem Schreibzeug allein und blickte auf seine Notizen. Zu jedem seiner Stichworte fiel ihm ein, was und wie seine Frau gebetet hatte. Er brauchte es nur noch aufzuschreiben, und er begann damit.

Nach dem ersten Absatz las er das Geschriebene noch einmal durch. Dabei fiel ihm auf, dass von seinen zuvor empfundenen Bedenken, seinen Selbstzweifeln nichts mehr zu spüren war. „Die Kraft des Gebetes,“ dachte Tychikus, „du klärst deine Gedanken, du verlierst deine Ängste und gewinnst Zuversicht.“ Er beschloss, einen Abschnitt über das Beten in der Gemeinde einzufügen. Denn gemeinsames Beten, da war er sicher, verband genau so wie gemeinsames Singen. Und es verband mit denen, für die man betete – mit Andersdenkenden etwa, Irrenden, sogar mit Feinden. „Beten macht friedlich, aber nicht feige; macht mutig, aber nicht aggressiv. Beten macht bescheiden, aber nicht unterwürfig, macht stark, aber nicht überheblich,“ ging ihm durch den Kopf, und deshalb war es wichtig, dass die Gemeinden gemeinsam beteten.

Vielleicht würden ein paar Sätze über das Beten ja die Gemeinde anregen, darüber nachzudenken, hoffte er, doch wichtiger war ihm, das die Gemeinde durch gemeinsames Beten im Glauben zusammen blieb.

Als Tychikus mit dem Schreiben fertig war, rief er seine Frau und las ihr den Brief vor; sie war einverstanden. „Eigentlich müßten alle Gemeinden deinen Brief lesen,“ lobte sie ihren Mann, und Tychikus freute sich. Amen

Paul Kluge, Pastor em.
Großer Werder 17
39114 Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de


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