Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Rogate, 16. Mai 2004
Predigt über 1. Timotheus 2, 1-6a, verfaßt von Hans–Gottlieb Wesenick
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


So ermahne ich nun,
daß man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung
für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit,
damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.

Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland,
welcher will, daß allen Menschen geholfen werde
und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen,
nämlich der Mensch Jesus Christus, der sich selbst gegeben hat für alle.

Liebe Gemeinde,

vor 512 Jahren wurde in Amerika ein neues Kapitel der Geschichte aufgeschlagen. Von den einen wurde es 1992 heftig gefeiert, ein ganzes Jubiläumsjahr hindurch. Vor den Toren Sevillas entstand das Herzstück der EXPO 1992, der ersten Weltausstellung in Spanien, zur Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Das Kloster La Cartuja wurde renoviert, in dem Kolumbus bei den Mönchen Navigation studiert hatte. Das war zeitweise Europas teuerste Baustelle.

Die anderen nutzten das Jubiläumsjahr dazu, die Eroberung aus der Sicht der Verlierer darzustellen.

Die einen sind die Nachkommen der Eroberer. Sie feierten die Begegnung zweier Kulturen – so erklärte es vor zwölf Jahren die spanische Regierung. Sie feierten die Zwangsbekehrung der Indigenas, der ursprünglichen Bevölkerung des Landes, als den Beginn der Evangelisierung eines ganzen Kontinents, die es heute zu erneuern gilt. So lautete die offizielle Version der römischen Kirche.

Die anderen sind die Nachkommen der Indigenas und der vom afrikanischen Kontinent her importierten schwarzen Sklaven. Organisationen der indianischen Völker wollten der Welt ins Bewußtsein rufen: die Entdeckung war keine Kulturbegegnung, sondern Invasion, Eroberung, unvorstellbare Unterdrückung, Völkermord.

Sie können das mit Zahlen belegen. Um 1500, zur Zeit der Ankunft der Spanier, lebten 80 Millionen Menschen in Amerika, indianische Völker mit z. T. hochentwickelten Kulturen. Nur 50 Jahre später waren es noch 10 Millionen. Die Europäer brachten Krankheiten, Zwangsarbeit und Tod, aber auch Christianisierung – nur zu oft in der Form von Zwangstaufen.

Nordamerika konnte für Einwanderer zur Heimat werden. Wirtschaftlicher Aufbau galt den eigenen Staaten. In Lateinamerika sind alle Handels- und Verkehrssysteme von Anfang an und bis heute nach „Übersee“ orientiert. Die „Alte Welt“ und Nordamerika diktieren, was Lateinamerika zu produzieren hat, bevor seine eigenen Menschenmassen das für sie Notwendige produzieren können.

Seit der Entdeckung und der Eroberung vor allem durch Spanier und Portugiesen sind nun über 500 Jahre vergangen. Sie sind auch eine Geschichte des Christentums. 500 Jahre lang gab es unterschiedlich überzeugende Versuche, indianischen Menschen den Glauben an Jesus Christus nahezubringen. Ziemlich von Anfang an waren auch evangelische Christen beteiligt, obwohl evangelische Gemeinden und Kirchen erst seit etwa 170 Jahren offiziell zugelassen wurden. In den letzten Jahren freilich ist dort die Zahl evangelischer Christen sprunghaft angestiegen.

In dem noch nicht abgeschlossenen ev. Handbuch „Die Kirche in ihrer Geschichte“ wird in dem Heft über Südamerika auf 63 Seiten ein notwendigerweise knapper Überblick über die vergangenen 500 Jahre der Kirchengeschichte in Nord-, Mittel- und Südamerika gegeben. Aber ein Vergleich mit anderen Epochen und Bereichen dieses Handbuches ist aufschlußreich: für die Darstellung der deutschen Reformationsgeschichte allein sind 174 Seiten erforderlich; Theologie und Philosophie im 19. Jahrhundert gar werden auf 212 Seiten abgehandelt. Man sieht also, wo die Interessen der Wissenschaft liegen.

Der heutige Sonntag trägt den Namen „Rogate“, zu deutsch: „Bittet, betet!“ Seit gut 30 Jahren ist er auch der evangelische „Sonntag der Weltmission“, an dem von der Situation der Christen in der weltweiten Oekumene zu sprechen ist. Insofern liegt es nahe, auch heute wieder, 12 Jahre nach dem Jubiläum, nach Lateinamerika zu blicken. Damit habe ich eben begonnen. Nun möchte ich noch ein wenig mehr auf die Nachfahren der Ureinwohner, die Indianer, eingehen, auf ihre Situation, auf ihre Glaubenserfahrungen, auf ihre Fürbitte.

Eigentlich wollten die Indianer nichts mit dem Glauben ihrer Eroberer zu tun haben. Denn schon bald nach ihrer Ankunft hatten diese Neuankömmlinge Indianer zu Tausenden hingemordet, weil sie das begehrte Gold nicht in den gewünschten Mengen ablieferten. In den folgenden Jahrhunderten wurden die Indianer zu mannigfaltiger Zwangsarbeit herangezogen: als Feld- und Erntearbeiter auf den Plantagen oder als Bergarbeiter in den Silber- und Zinnminen der Anden.

Daran hat sich im Grunde bis heute wenig geändert. Männer, Frauen und Kinder müssen sich auch heute vielfach als Wanderarbeiter auf den Plantagen verdingen und ihr Dasein in der Kaffee- und Baumwollernte gegen geringen Lohn fristen. Die Situation z. B. in den Bergwerken im Hochland von Bolivien ist heute noch so gesundheitsschädigend wie vor 500 Jahren. Folglich liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer unter 40 Jahren. Wer sich einem bolivianischen Bergdorf nähert, der entdeckt eingangs zumeist als erstes den Friedhof.

Deshalb war und ist die Erinnerung an die Eroberung ihres Landes durch die Europäer vor 500 Jahren für die Indianer Amerikas kein Grund zum Feiern.

Ursprünglich besaßen sie kein Land als Privateigentum. Es gehörte der Dorf- oder Stammesgemeinschaft. Jede Familie erhielt jährlich von neuem soviel Land zugewiesen, wie sie benötigte, aber auch niemand mehr, als er zu bearbeiten vermochte. Mit dem Kommen der Eroberer wurde das anders. Sie nahmen den Indianern die Flächen weg und schufen sich große Landgüter. Europäische und nordamerikanische Einwanderer legten immer neue und immer größere Plantagen an, erst mit Zuckerrohr, Kautschuk oder Indigo, dann mit Kaffee, Baumwolle, Tabak, Bananen.

Die Verdrängung der Indianer aus ihren Siedlungsräumen geht weiter, beispielsweise im mittelamerikanischen Guatemala oder im amazonischen Urwald in Brasilien. Die Frage nach einer für die Indianer gerechten Landverteilung ist für sie bis auf den heutigen Tag eine Überlebensfrage. Ähnlich freilich steht es auch um die nichtindianischen Bauern. Wir kennen inzwischen die großen Nöte der sogenannten Landlosen in Brasilien

Die Ureinwohner Amerikas haben erlebt und erlitten, wie grausam jene Eroberer, die sich Christen nannten, sie verfolgt und mißhandelt haben. Mancher hat im Angesicht des Todes ernsthaft gemeint, es sei besser, zur Hölle zu fahren, als den christlichen Eroberern auf ewig ausgesetzt zu sein, sogar noch im Himmel.

Insofern muß man sagen: es ist ein besonderes Geheimnis des Heiligen Geistes, daß trotz bedrückender Not und Verfolgung so viel Glaube in Lateinamerika wachsen konnte.

Nach und nach haben die indianischen Menschen gemerkt, daß die Grundlinien des christlichen Glaubens etwas anderes waren als das, was die Eroberer aus Europa ihnen vorlebten. Es gab auch ermutigende Beispiele, etwa den Dominikaner–Missionar Bartolomé de Las Casas. Er ging als Verfechter der Menschenrechte der Indianer in die Geschichte ein. So wurden auch die Indianer aufmerksam auf das, was Gottes gute Botschaft allen Menschen ohne Unterschied bringen will: Hoffnung, Stärke und die Gewißheit, sich in allen Ängsten und Nöten auf Jesus Christus verlassen zu dürfen. Er selbst hat ja auf Befehl der Mächtigen durch Folterknechte unsägliche Erniedrigung erfahren und ist Opfer menschlicher Gewalt geworden. Doch ist es dabei nicht geblieben. Er hat dem Tod die Macht genommen.

Für die Indianer war und ist klar: der Gekreuzigte und Auferstandene kennt ihre Leiden, ihre Not, ihre Armut. Er hat selber gelitten wie sie. Und ihn hat Gott erhöht. Auf ihn vertrauen Christen, wenn sie ihren Glauben ernst nehmen. Die indianischen christlichen Gemeinden wie auch die sogenannten Basisgemeinden in den Elendsvierteln der großen Städte Lateinamerikas sind – trotz des vielfältigen Unrechts und der Not, die sie erleiden – häufig erfüllt von Hoffnung und Zuversicht des Glaubens. Das zeigen ihre Gebete und Lieder.

Wenn wir uns ihre Situation vergegenwärtigen, müssen wir allerdings fragen: was bedeuten da die Worte unserer Epistel, die besagen: Christen sollen bitten, beten, Fürbitte halten für alle Menschen und auch für die Obrigkeit? Gern wollen wir für die beten, die in Not und auf Hilfe angewiesen sind. Und für Regierung und Politiker wollen wir gewiß bitten, wenn wir nur halbwegs überzeugt sind, daß sie sich um das allgemeine Wohl bemühen. Aber ist das nicht ein bißchen viel verlangt im Blick auf korrupte und gewalttätige Regierungen und Verwaltungen, wie sie uns in Lateinamerika aus leider viel zu vielen Orten und Staaten bekannt sind? Menschlich gesehen ist es eine Zumutung.

Doch in welcher Situation befanden sich die Christen, denen im Namen des Apostels Paulus die Sätze geschrieben wurden, die unsere heutige Epistel ausmachen? Im römischen Staat war es gesetzliche Vorschrift, den Kaiser als Gott zu verehren. Für die Christen kam das nicht in Frage. Das wäre für sie Gotteslästerung gewesen. Doch für den Kaiser beten, das konnten sie guten Gewissens!

Wie das? Fürbitte für korrupte und gewalttätige Herrscher? Umfassende Fürbitte beschränkt sich eben nicht allein auf Menschen, die uns nahestehen. Dabei können wir ja nicht unterscheiden: die einen schließen wir ins Gebet ein, die anderen schließen wir aus! Auch fernstehende und sogar mißliebige Menschen sollen in unserer Fürbitte Platz haben, sogar die sprichwörtlichen Feinde. Jesus hat es ja in der Bergpredigt gesagt: „Bittet für die, die euch verfolgen!“

Also bedeutet Fürbitte für die Mächtigen, vor Gott einzutreten für die Ohnmächtigen. Verantwortliche Macht setzt sich ein für Gerechtigkeit, für Frieden und zum Guten der ganzen Schöpfung. Für die Regierenden zu beten bedeutet, Gott zu bitten, daß sie verantwortlich umgehen mit der ihnen anvertrauten oder von ihnen usurpierten Macht.

Fürbitte ist auch im Leben der Indianer etwas sehr Wichtiges. Häufig gehen sie auch außerhalb des Gottesdienstes, z. B. am Markttag, in ihre Kirche, um Fürbitte zu halten. In vielen evangelischen Gemeinden finden zusätzliche Gottesdienste während der Woche statt, in denen die Fürbitte breiten Raum einnimmt. Indianer haben ein Auge für die Not anderer Menschen, denn sie wissen, was Not bedeutet.

Für sie ist es eindeutig: Das eigene Handeln muß der Fürbitte entsprechen. In Zeiten der Not und in Verfolgungssituationen praktizieren sie große Hilfsbereitschaft, teilen miteinander das wenige, was sie haben: die tägliche Ration Mais mit Hungernden, Unterkunft für die, die fliehen mußten.

Wer Fürbitte tut, identifiziert sich mit denen, denen seine Bitte gilt, und mit der Bitte selbst und tut, was er kann, um sie erfüllen zu helfen. Fürbitte heißt, Leben miteinander zu teilen.

In unserer Epistel heißt es: „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.“ Das heißt: Hilfe, erfülltes Leben und Erkenntnis der Wahrheit gehören zusammen. Hilfe und Wahrheit verwirklichen sich, wenn wir Gottes Willen und seine Verheißungen für unser Leben kennen und annehmen.

Es gibt viele Hindernisse, die der Erkenntnis der Wahrheit im Wege stehen. Doch Christen sollen sich daran beteiligen, daß der Wahrheit zum Durchbruch verholfen wird. Dazu gehört, daß wir die Lebenssituation auch von Menschen wahrnehmen, die weit entfernt von uns zu sein scheinen. Darum können wir nicht über das Unrecht, das Leid und die Not hinwegsehen, die an Indianern geschehen sind und noch geschehen – so wenig wir über Not und Leid der Flüchtlinge hinwegsehen dürfen, die in unser eigenes Land gekommen sind und kommen. Die Schreckenstaten der Eroberer Amerikas sollen nicht verschwiegen, sondern bekannt gemacht werden. Sie sollen nicht durch weiteres Schweigen verlängert werden.

Als Christen beteiligen wir uns daran, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu gehört, das Evangelium weiterzutragen. In Lateinamerika hat es sich seine Bahn gesucht und sucht sie sich weiterhin. Es wurde und wird mit Füßen getreten, aber es erweist sich immer wieder stärker als unmenschliche Gewalt. Dabei können wir nicht unbeteiligte Zuschauer sein.

Das Zentrum des Evangelium heißt Jesus Christus. Hier wird er der Mittler zwischen den Menschen und Gott genannt. Er will allen Menschen dienen, uns eingeschlossen. Darum dürfen wir ihn bitten und Fürbitte halten. Er will heilen, was krank und nicht in Ordnung ist. Darauf dürfen wir vertrauen. Er will befreien und erlösen. Dies dürfen wir für unser Leben annehmen. Darum ist unsere Fürbitte gleichsam ein Echo auf die Weise, wie Gott durch Jesus Christus mit seiner Welt umgeht. Amen.

Nachwort: Diese Predigt wurde am 24.5.1992 in der Corvinus–Kirche in Göttingen gehalten, ist also eigentlich veraltet. Dennoch stelle ich sie hier leicht überarbeitet zur Verfügung, weil ich heute, am 14.5., sehr kurzfristig um einen Internet–Predigtbeitrag für zum Sonntag Rogate, also übermorgen, gebeten wurde. Außerdem halte ich die Informationen über die Situation in Südamerika am „Sonntag der Weltmission“ nach wie vor für aktuell, zumal von dort her zahlreiche Impulse des Glaubens und der Frömmigkeit zu uns Christen in Deutschland gelangt sind und der gegenseitige Austausch inzwischen lebhaft geworden, auch bei den Göttinger Internet–Predigten..

Hans–Gottlieb Wesenick, Pastor i. R.
Stauffenbergring 33
D-37075 Göttingen
Tel. 0551/2099705
Fax 2099708
H.-G.Wesenick@t-online.de

 


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