Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Miserikordias Domini, 25. April 2004
Predigt über 1. Petrus 2, 21b-25, verfaßt von Reinhard Weber
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Zur Predigt

Notwendige Vorbemerkung:

Kaum ein Text des NT unterliegt, zumal in einem Teil der einschlägigen „Predigtmeditationen“, also der Predigtvorbereitungsliteratur, einer so scharfen, bisweilen gar gehässig-distanzierten Kritik wie der vorliegende, um den es an diesem Sonntag geht. Der Eindruck dürfte nicht falsch sein, hier - bei diesen Aburteilungen - sei primär eine ‚Hermeneutik des Verdachts’ wirksam, welche sich die an sich durchaus gerechtfertigten Mittel der Sachkritik in einem vermeintlich ideologiekritischen Sinne zueigen mache, ohne doch zu erkennen, wie sehr sie selber von nun allerdings unreflektierten ideologischen Vorgaben bestimmt ist.

Man braucht sich etwa nur die Ausführungen von Hans-Hermann Hücking und Helmut Eichler in den Predigtstudien für das Kirchenjahr 1986. Perikopenreihe II – Zweiter Halbband, Stuttgart 1986, 33ff zu Gemüte zu führen, um dafür ein drastisches Beispiel zu haben. Schlimmer kann ein biblischer Text kaum aus einer Position besserwisserischer Arroganz heraus verkannt, seiner historischen Einbettung entledigt und in seinem Sachanliegen in vermeintlich religionskritischer Manier im Gefolge des Nietzscheanischen Sklavenmoralvorwurfs zugrundegerichtet und abgeurteilt werden. Der mitschwingende Vorwurf des Quietismus und einer konservativistischen Perpetuierung von klassenspezifischen Unterdrückungsmechanismen im Sinne des Marx’schen Opiumverdachtes dürfte dabei noch zu den leichteren Injurien zu rechnen sein.

Wozu solcherart ahistorisch-überheblicher Distanzierungswille führt, hatte schon Ulrich Luz 1974 (in: Predigtstudien II 2) verdeutlicht, indem er eine Predigt über diesen als nicht predigbar eingestuften Text rundweg ablehnte (S. 52 dort) und ihn damit dem Vergessen anheimfallen lassen wollte.

Ärgerliche Texte sind aber dazu da, als solche wahrgenommen zu werden, zumal die biblische Botschaft in ihrem Grundzug contra hominem geht und den allzumenschlichen Erwartungen nicht nur außergewöhnlicherweise widerspricht. Bevor man einen Text ‚gegen seinen Strich bürstet’ (so die Absicht von Hans-Hermann Hücking, aaO., 37), sollte man sich die Mühe machen, im Nachvollzug seines Striches so weit zu kommen, daß man ihn nicht nur in seiner Oberflächenstruktur begreift und von daher zu dem abstrusen Urteil gelangt: „Das NT ist in seiner Substanz eine einzige Gegenpredigt gegen den 1. Petrusbrief hinsichtlich seiner Aussagen im vorgegebenen Predigttext“ (so H. Eichler, aaO., 37; vgl. auch 39 unten). Das muß als Ergebnis einer vorurteilsbeladenen Exegese wohl herauskommen, wenn man diese auf die Anwürfe der Lieblosigkeit („Die Lieblosigkeit des 1. Petr ist erschütternd!“; 38), der Disziplinierung von Disziplinierten, der Bedrückung von Gedrückten, der Entehrung von Entehrten, der Verweigerung von Solidarität, der Anbiederung an die Slavenhaltergesellschaft und –mentalität der nichtchristlichen Umwelt, der Jesusferne und der Entstellung des Glaubens in seinem Kern restringiert.

Solche Verkennungen der Substanz des Textes rühren zentral daher, daß zwischen der christologischen Begründung, welche das Christuslied in V. 21ff liefert, und der päranetischen Nutzanwendung, also zwischen der Gerechtigkeit und dem Leiden Jesu und der Gerechtigkeit und dem Leiden der Christen, nicht sachgerecht unterschieden, sondern die unterschiedlichen Ebenen der Argumentation unzulässig und unvermittelt ineinandergemischt und vermengt werden. Die Kunst der Differenzierung aber ist die Kunst nicht nur exegetisch-historischer Textanalyse, sondern auch und mehr noch der theologischen Urteilsbildung überhaupt. Erst dann nämlich kann das wahre Skandalon des christlichen Glaubens, wie es sich in den Texten des NT niedergeschlagen hat und die o.g. Anwürfe und Insinuationen weit übersteigt, unverstellt und unmißverständlich hervortreten, das es nun durchaus weder abzumildern noch wegzuinterpretieren, sondern allererst in seiner anstößigen Substanz recht zur Geltung zu bringen gilt.

Der folgende Versuch kann dazu - gerade auf dem Hintergrund der dargestellten absprechenden Verkennung des Textes- gleichsam nur einen ersten Anlauf nehmen und beansprucht bewußt, weder die situativ-konkrete Übertragung und Vergegenwärtigung des erschlossenen Textanliegens angemessen zu bewerkstelligen, noch bis zu demjenigen Punkt vorgedrungen zu sein, an dem das angezielte Skandalon in seiner letzten Tiefe so hervorzutreten vermag, daß es ausführlich zur Darstellung kommen kann. Er kann vielmehr lediglich dazu dienen, den Weg dorthin nicht vorschnell abzubrechen oder sich ihn durch an den Text herangebrachte Vorurteile apriori zu verstellen, sondern ihn durch wenn auch mühevolle und langwierige, nicht zu einem schnellen Ende zu bringende einverstehende Interpretation offenzuhalten.

Daß seine sachlich wie sprachlich nicht ‚anspruchslosen’ theologischen Gedanken zu diesem Versuch einverstehender Textauslegung nur durch nochmalige ‚Übersetzung’ in die verschiedenen Gemeindekonstellationen adaptierbar sind, ist dem Vf. mehr als bewußt und dürfte sich von selbst verstehen. Ihm ging es in erster Linie darum, den gedanklichen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich solche Adaptionen vollziehen können.

Text: 1. Petr 2,21b-25

„Denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde begangen, und in seinem Mund war kein trügerisches Wort. Er wurde geschmäht, schmähte aber nicht; er litt, drohte aber nicht; sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter. Er hat unsere Sünde mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot seien für die Sünde und für die Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr geheilt. Denn ihr hattet euch verirrt wie Schafe, jetzt aber seid ihr heimgekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen.“

Predigt:

Liebe Gemeinde!

Wie kommt es heute, an diesem zweiten Sonntag nach Ostern, zu diesem Predigttext, der zunächst gar nichts mit Ostern zu tun zu haben scheint?

Jedoch: die österliche Zeit, in der wir uns befinden, ist und bleibt Nachklang und Wirkung der Passionszeit, sie bleibt durch diese geprägt und bestimmt. In ihrer Neuheit ist das Vergangene in seinem Bleibenden aufbewahrt. Und dies gilt, weil auch der Auferstandene die Wundmale des Gekreuzigten bleibend an seinem Auferstehungsleibe mit sich trägt, davon unauslöschlich gezeichnet ist. Der Erhöhte ist ja deshalb und insofern ein solcher, weil er zuvor ein Erniedrigter war, der auf immer Lebendige ein solcher, weil er zuvor ein Getöteter war; nur daß die vergangene Stufe hier bei dem auferstandenen Jesus ihm unverlierbar bleibt, dieser eine und besondere Tod als der Tod des Todes an seinem Auferstehungsleben Anteil hat, ja ihm anhaftet und dieses wesentlich in seiner todüberwindenden Qualität ausmacht.

Das klingt schwierig, ist es aber nicht, es heißt schlicht dieses: der auferweckte Christus ist mit dem getöteten Jesus identisch! Durch die Auferstehung ist die Kreuzigung nicht einfach abgestreift und weggewischt, nicht rückgängig gemacht oder zu einem bloßen Betriebsunfall verkommen, an den man sich besser nicht mehr erinnert, weil er mit unappetitlichen Vorstellungen verbunden ist. Nein, der Auferweckte ist kein anderer als der Gekreuzigte, beide sind ein und derselbe. Sie lassen sich nicht voneinander trennen, nicht auseinanderdividieren. Wer den einen haben will, muß auch den anderen nehmen. Kreuz und Auferstehung gehören unhintergehbar zusammen, ja sie sind im Grunde ein einziges Ereignis, ein Geschehenszusammenhang, in dem sich die verschiedenen Elemente gegenseitig interpretieren und fordern, erhellen und auslegen. Man muß sie zwar unterscheiden, darf sie aber nicht scheiden.

Und weil dies so ist und darin die Wahrheit des christlichen Glaubens grundgelegt ist und zum Ausdruck kommt, darum kann an diesem nachösterlichen Sonntag Misericordias Domini das Evangelium vom Leiden und Sterben Christi in dem uns aufgegebenen Predigttext erklingen, und zwar mit großem Recht, so eigenartig das uns zunächst auch dünken mag. Aber es kann auch österlich klingen, österliche Farbe annehmen, und d.h. ja, in seinen Konsequenzen für uns sichtbar gemacht werden.

Die Predigt von der Auferweckung Jesu sagt ja aus, was das Kreuz für uns als Christen und für die Welt bedeutet. In sich ist sie leer, wenn sie nur einfach ein brutum factum, eine sog. bloße Tatsache aussagen würde, sie braucht einen Inhalt, und den kann sie nur aus dem gewinnen, was wir von Jesus wissen, was er getan hat und was mit ihm geschehen ist. Von dort her wird sie sprechend und wird für uns ersichtlich, was es mit ihr auf sich hat, wofür sie gut steht, was sie uns sagen soll, was Ostern heißt. Darum können wir auch den heutigen Predigttext als einen österlichen verstehen, der in die jetzige Kirchenjahreszeit hineinpaßt. Die Rede von der Auferweckung Jesu enthüllt ja die Bedeutsamkeit des Leidens und Sterbens Jesu für uns und für die Welt.

Eben dies tut unser Text aber nun in einer ganz eigentümlichen Weise, die uns vielleicht zunächst fremd und mißverständlich erscheint und an der wir uns reiben.

Er stellt die Rede vom Leiden und Sterben Jesu nämlich in einen ethischen Kontext, d.h. er verwendet sie, um an das sittliche Empfinden und Gewissen des Christen und d.h. an sein Weltverhalten zu appellieren, so scheint es zumindest auf den ersten Blick. Der Christ soll sich so verhalten, wie er es am Beispiel Jesu kennengelernt und vor Augen hat. Er soll sein Tun und Lassen am Leitbild Jesu ausrichten, er soll sich zur Nachfolge als Leidensnachfolge ermahnen lassen. Und diese steht unter dem Motto des großen tamen, wie Luther das genannt hat, des großen „Dennoch“, oder man könnte auch sagen des „Obwohl“.

Dieses „Obwohl“ schildert und besingt das bekenntnishafte Christuslied, das unseren Predigttext ausmacht:

Obwohl Jesus selber in eigener Person nicht der Macht der Sünde untertan war, ihr nicht die üblichen Opfer gebracht hat, hat er doch für die Menschen das aus der Unterworfenheit unter diese hervorgehende Leiden, dem sie gerechtermaßen hätten anheimfallen müssen, stellvertretend auf sich genommen und getragen, zu ihren Gunsten; obwohl er geschmäht und zurückgewiesen und verspottet und gekränkt und gequält wurde, hat er nicht mit den gleichen Mitteln geantwortet, sondern auf die unmittelbare Durchsetzung seines Rechts aus freien Stücken verzichtet, so daß seine Verwundung zu unserem Heil werden konnte.

In dieser Haltung und in diesem Handeln ist er zum Vorbild für den Christenmenschen geworden, der ihm auf diesem Wege nachzufolgen sucht, ja dazu aufgerufen wird. Obwohl und wenn der Christ Unrecht leidet, soll er doch nicht dagegen aufbegehren, sondern es geduldig und willig ertragen - wie ein Sklave seinen launischen Herrn, das ist ja der vorausgehende Kontext dieser Ermahnungen. Er soll den Gottespfad der Nachfolge Jesu trotz aller Anfechtungen und Heimsuchungen in der Welt ungemindert und unnachgiebig gehen und es als Gnade Gottes ansehen, daß er das so kann und darf.

Aber was heißt das? Soll sich der Christ auch kreuzigen lassen und den Märtyrertod suchen, soll er das Verhalten Jesu eins zu eins nachahmen, ihn sich zum Maßstab nehmen, um es ihm in allen Stücken nachzutun, soll er sein Werk wiederholen?

Wie kann er das?

Soll er etwa den stellvertretenden Sühntod Jesu noch einmal und viele Male wiederholen, ihn immer wieder neu vollziehen, so wie nach katholischer Lehre das blutige Opfer Christi in der Messe durch den Priester immer neu vollzogen und wiederholt wird? Einmal ganz abgesehen von der Frage, ob das dem Menschen faktisch möglich ist, widerspricht es nicht der Lehre der Kirche und dem Wissen des Glaubens, wonach das Opfer Jesu historisch einmalig ist und eben darin die Besonderheit Jesu liegt, daß er darin der einzige Sohn des Vaters ist? Wäre nicht auch sein Tod überflüssig, wenn man ihn nachahmen, also wenn jeder mindestens für sich selber diesen Tod sterben könnte?!

Wollte man den Text so verstehen oder besser mißverstehen und aus ihm eine derartige christliche Ethik ableiten, dann hätte er zumal in der Osterzeit nichts zu suchen, dann wäre es überdies kein evangelischer, kein befreiender, sondern ein gesetzlicher Text. Diese Form der nova lex Christi, des Christusgesetzes, wäre alles andere als erhebend, sie wäre erschlagend. Dann wäre nämlich das pro nobis, das für uns, in dieser Botschaft nicht mehr zu hören. Nachfolge wäre in Nachahmung umgebogen.

Um nicht dieser Perversion zu unterliegen, muß man in diesen Text sehr genau hineinhören und ein geschärftes Unterscheidungsvermögen an den Tag legen, denn in ihm vereinen und überlappen und durchdringen sich zwei verschiedene, aber doch zusammengehörige Gedankengänge bzw. Vorstellungskreise, nämlich die exklusive, die einmalige, einzigartige und besondere Sühnebedeutung des Leidens Jesu und seine exemplarische Vorbildlichkeit. Das eine hängt mit dem anderen zusammen, so wie Kreuz und Auferstehung in der einen Person des Jesus Christus, aber es ist nicht dasselbe, so sehr man Jesus von Christus und das Kreuz von der Auferweckung unterscheiden muß.

Dabei gibt der V. 24 den entscheidenden Hinweis auf das richtige Verständnis unseres Textes: „Er hat unsere Sünde mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen, damit wir tot seien für die Sünde und für die Gerechtigkeit leben.“

Das „Für-uns“ bezieht sich auf den ersten Teil des Satzes, also auf die exklusive Tat Jesu in seiner Passion, in welcher er als der Sündlose unter die Sünde und damit an die Stelle der sündigen Menschen tritt, die Wirkung dieser Tat, ihr „Um-zu“ aber bezieht sich auf den in das Leben verschlungenen Tod und so auch auf das in den Tod verschlungene Leben der Glaubenden, wobei der Tod auf die Sünde, das Leben aber auf die Gerechtigkeit bezogen ist.

Daraus wird deutlich, wie man unseren Text zu verstehen hat: er richtet sich durchaus nicht, wie man zuvörderst leicht mißverstehen könnte, auf eine Nachahmung des Leidens Jesu in dessen christologischer, also stellvertretender und sühnewirkender Funktion und Dimension, sondern auf die Folgewirkungen, die jenes Leiden in sittlicher Hinsicht für die Glaubenden hat, nämlich solche der aus der Rechtfertigung sich ergebenden Gerechtigkeit, wobei diese Gerechtigkeit des Glaubens nicht im Sinne einer austeilenden, regulativen Gerechtigkeit zu verstehen ist, sondern konkret sich mit dem Leidensgehorsam des irdischen Jesus in Übereinstimmung bringt und ihm nachfolgt, also gerade das Rechtsein im Erleiden der Ungerechtigkeit unter der Maßgabe unbedingter Vergebungsbereitschaft erkennt. Dieser sehr spezifische christliche Rechtsbegriff unterscheidet sich durchaus und erheblich von dem üblichen juristischen! Das Leben für eine derartige Gerechtigkeit setzt unumgänglicherweise den Tod des natürlichen, auf sein vitales Daseinsrecht pochenden Menschen voraus, ja es ist eine geradezu Form des Rechtsverzichtes, es ist das „Recht der Gnade“ (Dombois).

Die sittliche Vorbildlichkeit Jesu, seine exemplarische Beispielhaftigkeit gilt also nur und nur dort, wo man seine singuläre christologische Bedeutung anerkennt und annimmt, nicht in einer bloßen „Jesulogie“, die sich den Jesus als nachahmenswertes menschliches Leitbild hinstellt, als humanes Ideal. Als solches ist er für den Menschen schlechterdings unerreichbar, weil der Mensch das nicht kann, insofern er Sünder ist, also auf sich selbst besteht und bestehen muß, weil er meint, sein Leben aus sich selber zu haben und alleine für es Sorge tragen zu müssen, weil dieses eigengegründete Leben der einzige Horizont seines Selbstverständnisses ist und es für den rein natürlichen Menschen auch nur sein kann. Auf diesem Hintergrund wird die Forderung der Nachahmung ein unerfüllbares, knechtendes Gesetz, eine Überforderung, die nur Duckmäusertum und Heuchelei gebiert. Diesen Charakter verliert sie nur, wo zuvor der Mensch selbst ein anderer geworden ist, wo die Sünde an ihm ihr Recht verloren hat, er von ihrer Macht und d.h. von sich selbst befreit ist, und eben dies geschieht für den Glaubenden im Sühnetod Jesu als des unschuldig für die Schuldigen, und d.h. an ihrer Stelle Gerichteten. Er ist das Gericht über die Welt in ihrem Weltsein, und d.h. in ihrer Sündhaftigkeit und Sündenverfallenheit. Diese Welt ist im Tode Jesu gerichtet, d.h. sie hat ihr Recht verloren, es ist als Unrecht entlarvt, sie ist entmächtigt. Da hat also ein Machtwechsel stattgefunden, da ist etwas Grundsätzliches geschehen, da ist eine neue Zeit angebrochen, da ist eine Epoche zu Ende gegangen und eine neue, andersartige hat begonnen, da gelten nun andere Maßstäbe, die sich etwa im Verständnis dessen, was gerecht und was Gnade ist, niederschlagen. Da ist „Neues Sein“ wirksam, das ist Ostern, das ist Auferstehung.

Von daher wird auch klar, daß es hier nicht um den üblichen Vorgang der Sündenvergebung gehen kann, die sich immer nur auf getane, vergangene Sünden bezieht, sondern um die Wegschaffung, d.h. die Entmächtigung der Sünde als solcher, um ihr wesentliches Sterben. Seinen, Jesu Spuren nachfolgen kann auf diesem Hintergrund nur heißen, aus seinem Tod (und aus seiner Auferweckung) die Konsequenz ziehen, also den eigenen, in diesem Geschehen implizierten Tod akzeptieren, selber sterben, sich gerichtet sein lassen, das Kreuz Jesu auf sich nehmen, es sich gesagt sein lassen, sich als der Sünde Abgestorbenen, weil Toten wissen und annehmen, als Gerichteten, als Hingerichteten, der hinfort nur noch jenseits der Sünde und d.h. auch jenseits des normalen, natürlichen, vitalen Lebens und aller seiner Gesetzlichkeiten und Bedingtheiten existiert und darum in der Nachfolge Jesu, denn nur von dort aus ist diese Nachfolge ja möglich, ohne in einem unerfüllbaren Gesetz zu erstarren bzw. pervertiert zu werden.

Das alte Leben ist ja tot, ist gerichtet, ist gestorben, ist vorbei, und das eben heißt neues Leben, das ist Auferstehungsleben, da liegt genau der oben beschriebene Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung und damit die Identität Jesu Christi als einheitliche Person. Der Christ ist kaine ktisis, ist neue Schöpfung, ein anderes, ein sündenbefreites Geschöpf, das nun von anderen Voraussetzungen ausgeht, das nicht mehr den alten Zwangsmechanismen unterliegt, das nicht mehr mit gleicher Münze heimzahlen muß, das vom Gesetz der Wechselseitigkeit, welches die ganze Welt beherrscht, dem alten Reiz-Reaktionsmuster, nach dem der Mensch wie ein Automat agiert und funktioniert, frei geworden ist, was nunmehr überhaupt erst spontan handeln kann, voraussetzunglos, ohne bedingt zu sein durch Vorgaben von außen, auf die es vice versa zu antworten hat, wie sie ihm vorgegeben sind, und eben immer nur in derselben Sprache antworten kann, nämlich im Sinne des ius talionis, der Vergeltung, des do ut des, der Gegenseitigkeit, der Analogie, des gleich zu gleich, des wie du mir so ich dir; nein, es hat nun seine eigene Sprache, die Sprache der Befreiung, wie sie ihm in dem bleibenden Zusammenhang mit seinem Herrn und Meister, dem Bischof seiner Seele, zugekommmen und zugesprochen, also eröffnet ist, dem es sich deshalb gleichgestalten kann, weil es sich seiner vorgängigen Sündenverfallenheit enthoben weiß. Darum kann es das österliche Auferstehungsleben Christi vorwegnehmend unter dem Zeichen des irdischen Kreuzes Jesu nachleben. In der weiterlaufenden Welt nämlich hat das christliche Auferstehungsleben die Gestalt und Signatur des Kreuzes des Irdischen und eben so an seiner Erhöhung anteil. So bleiben die Wundmale des Auferstandenen präsent und Jesus mit dem Christus identisch, er der gekreuzigte Auferstandene, er der auferstandene Gekreuzigte.

In dem Mitleiden und Nachleiden des irdischen Geschickes Jesu Christi als Folge dieser Bevollmächtigung ereignet sich christliche Nachfolge, die ihr Wesen darin hat, daß sie im Rechttun verbleibt, auch wo sie damit keinen Lohn sich erwirbt ("der Ehrliche ist der Dumme"), sondern sich Nachteile und Schläge und Leiden einhandelt, also zum Opfer von Ungerechtigkeit wird und sich darin in göttlicher Geduld bewährt.

Eine Verklärung oder Rechtfertigung und damit Verewigung unterschiedslos jeglichen Leidens und damit des Leidens als solchen, wie es den Christen nicht selten unterstellt worden ist, gar also ob sie Leiden und Kreuz bewußt und martyriumssüchtig- masochistisch aufsuchen müßten, ist das beileibe nicht, und damit hindert solche Leidensbereitschaft auch nicht dessen Bekämpfung und Beseitigung, wo diese möglich sind, auch nicht den Kampf gegen geschehendes Unrecht, sondern das christliche Leiden sind die Leiden Christi bzw. ist die Teilnahme an ihnen, ist das Leiden an der Sünde und ihren Folgen, an der Gottesferne und - feindschaft der Menschen mit all ihren weltlichen Wirkungen, ist der Eintritt in Wirken und Geschick Jesu auf dem Hintergrund seiner so todesbereiten wie tödlichen, weltüberwindenden Liebe, also seiner Auferweckung durch Gott, ist die Bereitschaft, das Unrecht mitzutragen, das dem leidenden Gerechten, dem Gottesknecht, in der sich gerecht dünkenden ungerechten Welt geschieht und zugefügt wird. Es ist Nachahmung Gottes, der sich auch unter die Voraussetzungen der Sünde begeben hat, ja der die Sünde sogar zur Voraussetzung seines Handelns gemacht hat.

Darin, in diesem Folgen gerade bestätigt sie sich als begnadigt von Gott (V. 19f), denn in diesem ungerechtfertigten, sogar möglicherweise tödlichen Leiden ist das Auferstehungsleben Jesu im Glaubenden kontrafaktisch (sub contrario), d.h. gegen allen Augenschein verborgen wirksam und partizipiert er an Jesu Leiden, Sterben und Auferstehen, ja nimmt er letztlich als der gerechtfertigte Sünder und damit als nova creatura, als neues Geschöpf an den Leiden Gottes selbst teil, die dieser von Schöpfung an an seiner Schöpfung leidet, geht er in der passio magna, die große Passion Gottes an seiner Welt mit, wird er darin Gott zum Gefährten, solidarisch im Leiden mit ihm, und hält ihm so eine Stelle in der Welt frei, aus welcher ihn seine Geschöpfe ansonsten fast vollständig herausdrängen.

Hier liegt der tiefste Sinn des christlichen Lebens verborgen, wie er durch die Übernahme des Geschickes Jesu und seiner Folgewirkungen in dem Existenzvollzug der Nachfolge ermöglicht und dargestellt wird. Darin erweist sich die Begnadung durch Gott (Erwählung), daß er im Leiden des Menschen, des Christen, nicht nur dabei ist, sondern dieses als göttliches Leiden, als Teilnahme an den Gottesleiden allererst begründet, ermöglicht und erwirkt und so dem Menschen die Kindschaft in der Nachfolge Jesu gibt. Der Glaube also trägt als Wirkung göttlicher Gnade die weltlichen Gottesleiden, die göttlichen Weltleiden in ihrer ganz spezifischen Eigenart mit und hat so eine Aufgabe an Gott.

Eine Sklavenmoral, wie Nietzsche und manche andere in seiner Nachfolge gemeint haben, ist das durchaus nicht, eher das Gegenteil, eine Herrenmoral, eine österlich- herrliche, dem Herrn entsprechende, aber eben Christus als dem Herrn! Es ist ein Handeln ganz aus eigenem Recht, aus dem unvorausgesetzten, unbedingten Recht Gottes heraus, der sich keine Vorgaben machen läßt, es ist ein freies und spontanes Handeln, das keinen Zwängen, auch keinen vorgeblichen Sachzwängen mehr unterliegt, sondern neu anfangen kann, nicht durch eine bestimmte Vergangenheit bestimmt, determiniert und erzwungen ist, nein, es ist ein herrlich anfängliches Handeln, das aus der Gewißheit des neuen Lebens des Auferstandenen geboren ist, das also aus dem Tod kommt und ihn endgültig hinter sich hat und darum frei für eine unvergängliche Zukunft ist.

Eine höhere Würde nämlich kann es für den Menschen nicht geben, als dieser Form der Kindschaft gewürdigt zu werden. Dies ist die christliche Heilsgewißheit als Gottesgewißheit, Erbe dieser Verheißung zu sein und in diese Einheit mit Gott einzutreten, in sie durch Christus hineingenommen worden zu sein, in dem sie ihren begründenden Grund hat! Dieses geschieht, so die Überzeugung und die Osterbotschaft unseres Textes, wann und wo ein Mensch von dem Handeln und Erleiden, von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi erreicht und in seinem natürlichen Willen umgewendet und in die Einheit mit Gott und seinem Weg in der Welt hineingenommen, in die durch den Christus gespurte Spur gesetzt wird. Da kann er das, da ist er freigesetzt, wirklich neu anzufangen, das Alte alt sein zu lassen und schon und gerade im Erleiden des weltlichen Unrechts dieses neue Leben zu bezeugen, zum Zeugen Christi und Gottes zu werden.

Diese versöhnte Einheit, aus der heraus diese möglich wird und geschieht, aber verdankt sich dem Ruf Gottes, der Gewißheit des Glaubens, gerufen und berufen zu sein (V. 21), nämlich in die Freiheit des Leidens der Kinder Gottes, welches den Tod hinter sich hat und als befreites schon Zeichen und Verwirklichung der Auferstehung ist, welche zugleich als Verheißung über dem Leben dieser leidenden Gerechtigkeit steht. Da, wo dies geschieht, daß ein Mensch in die Nachfolge Jesu eintritt als in die passio magna Gottes, in die weltlichen Gottesleiden, da geschieht Auferstehung mitten im Tod, da ist Gott als der Lebendige am Werk, da realisiert sich Auferstehung, da wird an die Auferstehung Jesu wirklich geglaubt und sie als Wirklichkeit genommen, da wird die Welt verändert. So hat der Glaube auf der Grundlage des Für-uns Gottes die Gewißheit, nicht nur ein Werk an der Welt, sondern auch ein Werk an Gott selber und an seiner Gottheit, also für ihn und seine Weltgestalt zu tun. Zu diesem weltwirksamen Gottesglauben in der Nachfolge Jesu und auf der Grundlage seines todesüberwindenden Lebens ruft unser heutiger Predigttext ermahnend auf, und: Was gäbe es von ihm, von diesem Glauben in dieser österlichen Zeit Größeres zu sagen und was zu antworten!?

Nichts als: Amen!

PD Dr. Reinhard Weber, Stud.-Pfr. Marburg
weber@esg-marburg.de


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