Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Karfreitag, 9. April 2004
Predigt über 2. Korinther 5, 19-21, verfaßt von Ulrich Braun
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Versöhnung mit Gott 

Predigttext: 2. Korinther 5, 19-21
Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt; Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

Meine lieben Freunde,

Es ist das Rätsel des Christentums. Wie sehr hängt die Vorstellung eines zukünftigen Heils an den Bildern von Jesu Sterben und an seinem Tod? Im Kino wird die Geschichte zurzeit so erzählt, als wenn alles, aber auch wirklich alles, an diesem Sterben hinge und man ihm, dem Sterben also, das ewige Heil direkt müsste ansehen können. Da es offenbar genügen soll, die gut durchbluteten Bilder anzuschauen, und man weiter nichts verstehen muss, wird der Einfachheit halber lateinisch und aramäisch gesprochen.

Soweit ich sehe, sucht man das Göttliche in den bis zum Äußersten getriebenen Bildern des Leidens und des Sterbens vergebens. Mit anderen Worten: Die darin suchen, werden nichts anderes finden, als das, was sie schon kennen: den Tod. Und der ist am Ende – so dramatisch in Szene gesetzt sein mag – banal. Jeder muss ihn sterben. Daran ist so gar nichts Ungewöhnliches. Warum um Himmels willen sollte der Tod also göttlich sein. Er ist so menschlich wie nur was.

Seltsam genug: da möchte man vom Leben erzählen, vom wirklichen, unverstellten, das nicht hinfällig wird und nicht zerbrochen werden kann, und man redet über den Tod. Man möchte vom Gottesreich singen und sagen und landet in des Teufels Küche. Aber das ist eben das Nadelöhr, durch das diese Gottesgeschichte hindurch muss.

Am Ende ist Jesus gestorben. Dem lässt sich nichts Göttliches abschauen. Und es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre mit diesem Tod tatsächlich alles aus gewesen. Das Rätsel schien zu groß, der Abgrund des Todes doch zu tief. So menschlich hätte der Erlöser nun auch wieder nicht sein müssen, dass wir an seinem Ende bei dem landen, was wir immer schon kennen: beim Tod.

Paulus ist einer der ersten, die es unternehmen, eine Brücke des Verstehens über diesen Abgrund zu schlagen. Ein paar denkerischen Anforderungen muss die Brücke genügen. Sie darf den Tod nicht übergehen noch verschweigen und sich etwa nur an das halten, was schon bald nach der Kreuzigung vom ungewöhnlichen Leben des Galiläers erzählt wurde. Vor allem darf Jesu Tod am Ende nicht sinnlos sein. Der Gottessohn darf nicht einem blindwütigen Schicksal oder einer Verkettung unglücklicher Umstände zum Opfer gefallen sein. Weder ein entfesselter Mob noch eine verunsicherte Besatzungskommandantur dürfen ihn einfach so umbringen.

Mel Gibsons Mittel gegen die Banalität des Todes heißt Bestialität. Weil der Tod als solcher so gar nichts Göttliches hat und – in welcher Form auch immer – jedenfalls von einem jeden gestorben werden muss, soll wenigstens das Leiden ins Übermenschliche ragen. Und da muss ein Film einiges aufbieten, um sich von den bekannten und unbekannten Filmen mit Altersbeschränkung und dem nie versiegenden Nachrichtenstrom über geschändete, verstümmelte, getötete Menschen titanenhaft abzuheben.

Die Beweggründe hinter Mel Gibsons Bildersprache sind so unverständlich nicht, und sie sind denen des Paulus und der Evangelisten in einem Punkte nicht ganz unähnlich. Es geht darum, dem Tod Jesu einen Sinn abzugewinnen. Und für uns ergibt sich daraus die Frage: Wie blutig muss Erlösung sein?

Nun, die Sehnsucht nach Erlösung entstammt in jedem Falle einer blutigen und todverfallenen Wirklichkeit. Das war zur Zeit Jesu nicht anders als heute, zehn Jahre nach dem Menschenschlachten in Ruanda, drei Wochen nach den zerfetzen Vorortzügen von Madrid. Erlösung also wird den Tod nicht ausklammern. Und so versteht es auch Paulus. Aber der weiß eben zugleich, in welche Abgründe man gerät, wenn die Erlösungssehnsucht in blutigen Detailaufnahmen stecken bleibt. Die Abgründe lassen sich beliebig gut ausleuchten – mit moderner Trick- und Kameratechnik zumal –, sie bleiben doch Abgründe.

Der Karfreitag ist wohl nicht der Tag für letzte Antworten. Die Sehnsucht nach der Überwindung des Abgrunds wird nicht gestillt, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass wir uns damit beruhigen können, nun wäre alles gut. Aber Paulus ist alles daran gelegen, sich nicht in den Abgrund saugen zu lassen, sondern seine Halteseile am Leben des Gottessohnes anzubinden – am Leben mit Gott.

Es ist kein Zufall, dass Paulus auf alle Details der Leidensgeschichte verzichtet. Er kannte wohl schon die Gefahr, in der schwebt, wer der Faszination der Gewalt erliegt. Paulus hingegen schreibt seinen Korinthern vom Ziel der Geschichte. Ja, er ist gestorben, wie wir alle es einst müssen. Ja, er ist auch noch früh gestorben, gemordet, so, dass schmerzlich ins Leere ragt, was sein Leben gewesen ist, so wie unsere Lebensentwürfe in der Todesleere versiegen müssen. Aber nein, er ist damit nicht aus Gottes Händen geglitten.

Beinahe wäre er’s – so wie wir fürchten müssen, aus Gottes Händen zu gleiten, wenn es einmal mit uns aus sein muss. Die Evangelisten werden eine Generation nach Paulus die Momente der Gottverlassenheit in ihren Passionsberichten nicht aussparen. „Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“, wird Jesus klagen.

Ja, es steht schmerzvoll auseinander, was ein Mensch in seinem Lebensentwurf zusammenfügen will. Und am Ende gähnt der Todesabgrund. Keinen von uns wird Gott davor bewahren. Ob er’s könnte? Und wenn er’s kann, warum tut er’s nicht? Warum überlässt er uns dem Tod?

Der Karfreitag ist der Tag, der alles in Frage stellt, kein Tag für letzte Antworten. Nur, dass sich die Fragen unter dem Kreuz zu verwandeln beginnen. Todverfallenheit und Gottverlassenheit klagen wir doch gerade dem, der selber dem nicht entronnen ist. Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig herab von deinem Kreuz. Vor allem: Hilf uns von unserem! Bewahre uns vor dem Abgrund des Todes.

Dein Leiden würde uns doch nicht mehr rühren als das Übermaß an Leid, das sich allenthalben findet und an das wir uns zwangsläufig gewöhnen müssen. Dein Leiden also würde uns doch nicht mehr rühren als das, wenn nicht mit dir, Gottessohn, die Hoffnung lebte, es könnte dir und damit uns der Tod am Ende doch erspart bleiben.

Dagegen begehrt der Schächer an Jesu Seite auf, dass auch dieser letzte Anker nicht halten will. Darin besteht der Streit mit Gott, dass er uns den Abgrund nicht ersparen wird, in den wir alle gehen. Und darin beginnt die Versöhnung mit Gott, dass er sich dem Streit stellt und sich dem Abgrund nicht entzieht. Der Abgrund der letzten Gottesferne wird von Gott selbst ausgefüllt. Das erzählt Paulus. Welche Details sollte er über den Tod berichten, die Menschen nicht schon wüssten? Aber immerhin zu behaupten, dass Gott in dem gestorbenen Christus war und ist, erweckt den Gedanken, dass es schlimmere Bedrohungen des Menschenlebens gibt als den Tod.

„Lasst euch versöhnen mit Gott und seid Botschafter seiner Versöhnung“, schreibt Paulus. Wenn Gott in Christus war und blieb – auch im Tod –, dann droht die Gottesferne anderwärts. Durch den Tod werdet ihr aus Gottes Hand nicht gleiten. Und wenn das also so ist, dann reibt euch nicht auf im sinnlosen Kampf gegen das Unvermeidliche. Ihr räumt Gevatter Tod sonst nur zuviel Macht ein in eurem Leben und erlaubt ihm, seine Angst wie Metastasen in den Lebensleib zu streuen.

Thomas Mann lässt in seinem Roman „Der Zauberberg“ seinen Hans Castorp ein Traum haben, darin Settembrini, ein italienischer Mitpatient im Schweizer Sanatorium, und der von Goethe einst besungene ägyptische Zauberer Naphta eine Rolle spielen. Aus diesem Traum nun ergibt sich folgende Passage:

Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken! Denn darin besteht die Güte und Menschenliebe, und in nichts anderem. Der Tod ist eine große Macht. Man nimmt den Hut ab und wiegt sich vorwärts auf Zehenspitzen in seiner Nähe. Er trägt die Würdenkrause des Gewesenen, und selber kleidet man sich streng und schwarz zu seinen Ehren. Vernunft steht albern vor ihm da, denn sie ist nichts als Tugend, er aber Freiheit, Durchgängerei, Unform und Lust. Lust, sagt mein Traum, nicht Liebe. Tod und Liebe, - das ist ein schlechter Reim, ein abgeschmackter, ein falscher Reim! Die Liebe steht dem Tod entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gütige Gedanken. … Ich will dran denken. Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, dass Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach’ ich auf… (Thomas Mann, Der Zauberberg, Kapitel „Schnee“, Fischer-Verlag 1924, S. 679).

Wer dem Tod Herrschaft über seine Gedanken einräumt, wird Vorsicht walten lassen in seiner Rede und in seinem Handeln. Der Galiläer hätte leicht den Tod am Kreuz vermeiden können, aber er hätte dafür nicht so vom Leben der Kinder des Lichts reden dürfen, wie er tat. Er hätte nicht vom unverstellten Leben und vom Gottesreich mitten unter uns erzählen sollen, hätte vor Pilatus und vor dem Hohen Rat nur zurücknehmen müssen, was denen so ungeheuerlich vorgekommen war. Er hätte nur das Spiel mit den Metastasen der Todesangst im Leben mitspielen müssen und wäre nimmermehr ans Kreuz geschlagen worden – und wäre doch gestorben.

Die Gottesferne jedenfalls droht anderwärts als im Tod, dem wir alle verfallen sind. Wir sind ihm verfallen und müssen ihn alle sterben, aber geweiht sind wir ihm nicht. Geweiht seid ihr, schreibt Paulus den Korinthern, dem Leben aus der Versöhnung mit Gott.

Über Mel Gibsons Versuch, die Erlösung in einem Meer von Blut sichtbar zu machen, ist aus religiöser Sicht alles Notwendige gesagt. Welche Funktion seine Bilder für unser Bild von Menschenleben haben, welche Grammatik dieser Bildsprache zugrunde liegt, ist eine Frage der Film- und der Kulturwissenschaft. Über den Sinn des Lebens erfahre ich dadurch nichts. Jedenfalls nichts, was ich nicht schon wüsste. Eben nur, dass das Leben fragil ist und die Schutzhülle der Kultur bloß dünn, dass Menschen Menschen Fürchterliches angetan haben und damit mutmaßlich nicht aufhören werden. Dass Gewalt und Tod offenbar eine große Faszination sind, weil der Tod seine Metastasen weit in den Leib des Menschenlebens streut. Würde der Film nicht die Geschichte Jesu zeigen, wäre er zwischen den anderen Darstellungen von Gewalt und Tod gar nicht weiter aufgefallen.

Das „Lasst euch versöhnen mit Gott!“, des Paulus spricht eine andere Sprache. Und es nimmt die Sprache Jesu auf, wie er sie bis an sein Kreuz gepflegt hat: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Den Satz dürfen wir uns zueignen, wenn wir dem Tod Referenzen erweisen, die ihm nicht zukommen, und er gilt wohl auch für Regisseure und Drehbuchautoren.

Versöhnung mit Gott öffnet – und sei es durch den Tod hindurch – den Weg ins Leben. Der Vorsatz des Hans Castorp ist dafür keine schlechte Maxime: Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Und damit wach’ ich auf… Amen

Amen

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
em@il: ulrich.braun@nikolausberg.de

 


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