Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Karfreitag, 9. April 2004
Predigt über 2. Korinther 5, 18-21, verfaßt von Klaus Schwarzwäller
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der Irak steht in Flammen; die Besatzungskräfte sind heftig dabei, ihn nachhaltig zu befrieden – was denn so „befrieden“ heißt seit den Zeiten der Römer: Widerstand in Blut ersticken. Vor zehn Jahren fand das unsägliche Gemetzel in Ruanda statt; bei der Gedenkfeier waren die heutigen Wortführer im Kampf gegen den Terrorismus abwesend. Im nahen Osten gehorcht Israel längst den Gesetzen der militärischen Logik – die Folgen sind bekannt. Blut, Haß, Unfriede und Zerstörung im näheren und weiteren Umfeld prägen diese Karwoche des Jahres 2004. Kaum eine der großen Mächte mit christlicher Tradition läßt auch nur andeutungsweise durchblicken, daß diese Tradition durch etwas völlig anderes bestimmt ist. Dieses Andere freilich hat man längst in den Sonntag und in die Gesinnung ausgewiesen bzw. abgeschoben.

Es geht nicht darum, daß dem Mord nicht Polizeimacht und dem Terror nicht die Staatsgewalt in der gebotenen Weise entgegenstehen solle – dazu sind sie da, und daß es geschehe und auf angemessene Weise, dafür haben wir Verfassung, Recht und Gesetz. Doch was sich unseren Sinnen von Nachrichtensendung zu Nachrichtensendung, von Tageszeitung zu Tageszeitung aufdrängt, das ist eine Spirale aus Haß, Gewalt, Mord, Zerstörung und Ungerechtigkeit, die sich nicht nur immer weiter schraubt, sondern die auch immer mehr in sich einbezieht – in sich hineinsaugt wie ein gieriger Strudel. Reporter erklären auf Fragen, daß sie – etwa im Irak – die Entwicklung in die Katastrophe gehen sehen, wenn nicht noch ein Wunder geschehe, und mit dem rechnen sie nicht.

Das ist das Zeitkolorit des Karfreitags dieses Jahres. Längst drängt sich uns ein veränderter Ruf auf die Lippen: „Mein Gott, mein Gott, warum, warum nur haben wir dich verlassen? Welche Teufel reiten uns, daß wir uns so in Blut und Gewalt verstricken?“

Dabei ist es unerheblich, wer angefangen hat. Da ist’s wie bei einer Schlägerei: Entscheidend ist am Ende nicht, wer anfing, sondern wem es gelingt, sie zu beenden und Frieden herzustellen. Wie es denn, um den Blick in allgemeine Gegebenheiten unseres Zusammenlebens zu wenden, regelmäßig anders, umgekehrt ist, als es uns billig erscheint und wir es erwarten – mit allem Recht erwarten. Die Lebenserfahrung weiß: Wo jemand verletzt wurde, wo jemandem Unrecht geschah, wo einem Menschen Kränkung angetan wurde, da ändert sich normalerweise nichts, wenn dieser in Person, Ehre oder Recht beeinträchtigte Mensch darauf wartet, daß man auf ihn zugehe, sich bei ihm entschuldige, sich ihm gegenüber um Wiedergutmachung bemühe. Regelmäßig ist es exakt umgekehrt: Soll es weitergehen und sollen die Dinge wieder ins Lot kommen, so muß der sich bewegen, dem das Unrecht widerfuhr; an diesem Menschen liegt es, seinen Schuldigern und Kränkern entgegenzugehen. Logik und Gerechtigkeitsgefühl bleiben dabei auf der Strecke; natürlich. Sie werden in solchen Fällen etwas Höherem zum Opfer gebracht: daß man Ausgleich, Versöhnung und Frieden finde und wieder einvernehmlich miteinander leben könne. Es ist wie ein Gesetz menschlichen Lebens: Das gute Miteinander verlangt denen am meisten ab, denen am meisten angetan wurde.

Eine bemerkenswerte „Logik“, die nicht einleuchtet. Eine „Logik“ jedoch, die Tatsache ist. Denn sie wurde als Tatsache gesetzt, als Tatsache von höchster Hand gesetzt: von Gott selbst. Nicht allein alle Religionen aller Zeiten wissen von unserer Schuld Gott gegenüber sowie davon, daß jede Schuld nach Sühne verlangt. Sondern jeder Mensch, der ein wenig nachdenkt und sich selbst und das eigene Leben nüchtern ansieht, weiß genau: Ich kann oder könnte vor Gott nicht bestehen. Natürlich, mehr oder minder sind alle ebenfalls... Nur bin ich ehrlich mit mir selbst, dann weiß ich, dann weiß ich zumal, wenn ich viel gearbeitet habe und mir viel gelungen ist im Leben: Vielleicht, vielleicht kann ich mit alledem ja gerade noch vor mir selber bestehen. Aber vor Gott –

Vielfältig sind die Arten und Formen, mit denen wir dann um Ausgleich, um so etwas wie Sühne bemüht sind. Darum sei weder gerechtet noch daran gekrittelt; wer sich in dieser Weise bemüht, ist aller Ehren wert – immerhin zucken viele nur mit den Schultern: „Ist eben dumm gelaufen.“ Indem wir uns im kleinen wie im großen, im Rahmen des Persönlichen wie des Politischen umblicken, steht uns vor Augen, was die Summe dieses „dumm gelaufen“ in der Realität heißt: Blut, Leiden, Vernichtung. „Dumm gelaufen“ – das ist wie Hohn, nein, das IST Hohn auf diejenigen, die es abbekommen haben.

Gott jedoch hat seine eigene, hat seine göttliche Logik. Er verhält sich geradezu, wie wenn er sich etwas vorzuwerfen hätte, er uns gegenüber in einer Bringeschuld wäre: Er kommt den Schuldigen entgegen. Er wartet nicht nur Sühne oder deren Versuche nicht ab, sondern kommt uns von sich aus zuvor. Er läßt sich nicht Versöhnung, Gnade oder Nachsicht abhandeln, sondern er eröffnet uns Versöhnung. Er demütigt sich: Als wäre er der Schuldige, eröffnet er uns, lädt er uns dazu ein, daß wir uns mit ihm versöhnen.

Das ist der Kern von Karfreitag: Gott begibt sich nicht nur zu uns, er begibt sich unter uns, so unter uns, daß auch der letzte Lump noch an ihm seine Stiefel abstreifen kann. Er zieht alles Unrecht und alle Schuld aller Menschen und Zeiten auf sich selbst: „Den, der Sünde nicht kannte...“ Ich unterbreche: Das ist eine Umschreibung dessen, daß es um Gott selbst geht. Also: „Gott war in Christus und hat als der, dem Sünde völlig fern ist, sich selbst für uns zur Sünde gemacht...“ Damit stellt er sich pünktlich an die Stelle, wo wir einen Sünder erkennen – einen Rufmörder, einen Halsabschneider, einen Menschenhändler, einen Tatschläger, einen Kinderschänder, einen blutigen Militärstiebel... Wir sehen diese Menschen, und in uns kocht die Wut hoch oder uns würgen Ekel und Grauen. Vor jeden dieser Menschen stellt Gott selbst sich: „Ich! Ich, ich trage sein Unrecht, seine Untat, sein Verbrechen!“ Er stellt sich nicht in feierlichem Glanze oder in göttlicher Hoheit auf. Er stellt sich pünktlich an die Stelle jedes, wirklich JEDES Scheusals als gestraft, geschunden, gefoltert, verhöhnt, liquidiert. Er stellt sich an diese Stelle wie ein Magnete der besonderen Art, die alle Folgen und alle Schuld auf sich ziehen, die aus jenem „dumm gelaufen“ sich ergeben. Und, wahrlich!, es läuft viel und ständig „dumm“ und „SEHR dumm“ unter uns, und das Tag um Tag und Stunde um Stunde.

Es gibt Untaten, es gibt Verbrechen, es gibt Katastrophen, es gibt Unglück von Ausmaßen, die jede Vorstellung sprengen und die uns die Frage geradezu auf die Zunge drängen: Wo ist Gott? Wo bleibt hier Gott? Wenn Gott denn ist, wie kann er das zulassen? Wie ist das möglich? Ereignisse von Ausmaßen, die auch den tiefsten Glauben erschüttern und die demütigste Ergebung in Aufbegehren verkehren können – s. z.B. Ruanda vor zehn Jahren. Denn – so ist unser Gedanken – wenn denn Gott, wenn Gott tatsächlich... Gerade weil mir dergleichen Gedanken durchaus vertraut sind und ich wieder und wieder mich an dem reibe, was Gott uns Menschen durchgehen läßt, gerade deswegen bin ich immer wieder darüber gestolpert: Mit diesen Gedanken verfehle ich Gott. Sie gehen an ihm vorbei, haben mit ihm nichts zu tun. Denn alles das, wonach mir das Herz dann brennt und wonach ich mich sehne, nämlich daß er die feixende Brutalität zerschlägt und die Unterdrückten aufrichtet: Das ist nicht sein Weg. Er hat einen anderen Weg gewählt und begangen.

Er stellt sich dahin, wo die Übeltäter und Verbrecher und Scheusale und auch die kleinen Gauner und die dumm in Unrecht Hineingeratenen stehen; er stellt sich dahin und nimmt ihre Stelle ein: Hier, ich, Gott selbst, ich verkörpere – ja, buchstäblich: verkörpere, bin leibhaftig aller Menschen Sünde und Schuld und lasse das alles auf mich packen, nehme diesen ganzen Schlamassel und dieses ganze Unmaß an Unrecht auf mich und lasse es mit mir sterben, abschließend sterben.

Es fällt schwer, das zu begreifen – es geht einem da noch ganz anders, als wenn man einen schweren Riesenkoffer stehen sieht und unter Anspannung aller Kraft anhebt und – er ist leer. Alle unsere Gefühle und – guten wie schlechten – Wünschen und Emotionen und Sehnsüchte gehen auf einmal ins Leere. Denn Gott stellt sich an die Stelle aller Sünder aller Zeiten und trägt als dieser Sünder aller Sünde Folter und Tod: Nun können wir uns mit Gott versöhnen, der auch das Unrecht so rätselhaft und so herausfordernd geschehen läßt. Und wir können uns mit unseren Mitmenschen versöhnen – gerade auch mit denen, die da eigentlich sich erst einmal von Grund auf ändern müßten, die erst einmal sich ganz anders verhalten müßten, ehe man überhaupt daran denken kann, denen entgegenzukommen... Ja, es gibt einen Grund und eine Grundlage und eine Gestalt der Versöhnung, der Versöhnung mit Gott und der Versöhnung untereinander: Jesus Christus, der Gekreuzigte.

Der Iraq brennt, und das Blut fließt. Gewalt triumphiert und Verbrechen tobt sich aus. Waffenfabrikanten und Waffenschieber verdienen sich goldene Nasen, und Unschuldige sterben oder sind für den Rest ihres Lebens verkrüppelt oder verarmt – oder beides. Das läßt sich nicht von heute auf morgen und schon gar nicht mithilfe religiöser Prinzipien überwinden. Es wird viel Geduld und auch viel Bereitschaft erfordern einzustecken, damit diese Teufelszirkel aufgebrochen werden können. Aber dieser Karfreitag mag uns Anlaß sein, uns – die Studierenden würden sagen: uns einziehen zu lassen, daß Gott selbst alle, wirklich ALLE Sünde auf sich selbst genommen hat und damit uns eine neue Logik gewährt: Versöhnung beruht darauf, daß diejenigen sich bewegen, denen Unrecht getan wurde. Im kleinen, untereinander. Im großen, auch weltpolitisch. Und nicht zu letzt gegenüber Gott: Er hat sich bewegt, so wahr Jesus Christus am Kreuz hing. Hieraufhin mögen auch wir uns mit Gott versöhnen, was auch immer wieder auf den herzen haben. So wahr er am Kreuz hingerichtet wurde, haben die Worte Gültigkeit: „Laßt euch versöhnen mit Gott.“

Amen

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
hweissenfeldt@foni.net


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