Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Karfreitag, 9. April 2004
Predigt über Johannes 19, 17-37, verfaßt von Eva Tøjner Götke (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Am Karfreitag gibt es keine Grenzen für Leiden und Schmerz. Keine Grenzen für das Grauen, das Böse und die Primitivität und Bestialität des Menschen.

All dem ist Jesus ausgesetzt am Karfreitag. Gottes eigener Sohn wird Opfer grenzenloser Gewalt. Und das Grauenhafte ist, daß es viele Karfreitage gibt.

Karfreitag gehört mit zum Menschsein in dieser Welt. Wir wissen, daß grenzenlose Gewalt ein Teil unserer Welt ist. Wir wissen, daß sie lebt und gedeiht. Das ist nicht nur etwas, von dem wir gehört und gelesen haben. In diesem Sinne ist der Karfreitag Jesu leider nicht einzig.

Wann immer wir wollen, können wir den Fernseher anmachen und die Bilder von den Brennpunkten der Welt sehen - wo Menschen einander bekriegen, wo Schießereien, Minen, Bomben zum Alltag gehören. Terror, Gefangennahmen, Geiseln, Folterungen.

Wir sehen die Zivilbevölkerung auf der Flucht in verlasse­nen Gebirgen, sehen ausgehungerte Menschen, denen ein Sack Getreide auf einem staubigen Weg zugeworfen wird: Frauen, Kinder, Junge und Alte, sie alle erleiden einen unschuldigen Tod, weil sie da wohnen, wo sie wohnen.

Wir nennen das Ausnahmezustand, wenn die Gewalt überhand nimmt. Aber leider sind das keine Ausnahmen. An vielen Orten der Welt ist es Alltag.

Beirut war einmal die Perle des Libanon, Somalia könnte ein Mekka sein, Bethlehem ein Stern.

Wir sehen und hören von den widersinnigen Leiden und der Gewalt, sehen so viel, daß wir schließlich immun werden. Hier kann uns bald nichts mehr überraschen. Wir vergessen die Wirklichkeit, die hinter den Bildern steht. Wir haben gelernt, uns abzuschirmen, damit das Leiden nicht zu aufdringlich wird.

In dieser Weise bilden wir uns ein, daß man sich zurück­ziehen, als Zuschauer dastehen und wie Pontius Pilatus die Hände waschen kann und nicht daran glauben muß, damit etwas zu tun zu haben.

Aber das haben wir!

Wir alle sind sowohl Opfer als auch Täter in der Welt der Leiden. Und das sagt uns der Karfreitag.

Wir sind Opfer des Leidens und der Schmerzen und des Todes - wir können auch Karfreitage erleben, wir können auch erleben, daß wir verlassen sind, verraten und verkauft von denen, die wir für unsere Freunde hielten.

Aber wir können auch selbst die sein, die versagen und verraten, so wie die engsten Jünger Jesu dies taten, um ihr eigenes Leben zu retten.

In den Evangelien werden der Schmerz und die Gewalt des Karfreitags so detailliert beschrieben, daß wir unweigerlich in irgendeiner Weise in das Drama hineingezogen werden. Da ist Platz für Mitleid und für Selbstanklage.

Und wir stehen draußen auf dem Golgatha. Unter dem Kreuz Jesu. Wir sehen selbst die lärmende Menge, deren Rufe die Funken sprühen lassen und das Feuer entzünden.

Die Dornenkrone, Peitschenhiebe, Blut, Schweiß und Tränen, Schreie, Hände, die an das Kreuz genagelt werden. Pfähle, die in die Erde gerammt werden, zum Tode Verurteilte, die zur Schau ge­stellt werden.

Hier ist nicht gespart an Effekten in den fast journalisti­schen Berichten der Evangelien. So detailliert muß das offenbar beschrieben werden, um Gefühle in uns zu wecken. Um uns zur Teilnahme zu veranlassen, damit wir selbst ein Teil der Erzählung werden.

Und so ist es noch immer, wenn die Leidensgeschichte erzählt werden soll. Mehr als früher. In den frühen Jahren des Fernsehens waren alle erschüttert über Bilder von den Hungernden aus Biafra. Heute bedarf es stärkerer Mittel, wenn es uns anrühren soll und wir merken sollen, daß die grenzenlose Gewalt Wirklichkeit ist, oder Wirklichkeit werden kann, solange Menschen die Welt regieren.

Vor einiger Zeit habe ich einen Karfreitagsfilm gesehen, einen Kriegsfilm, 2½ Stunden lang Schmerz, Leiden und unschuldi­ges Sterben. Black Hawk Down hieß der Film, eine Anspielung auf die schwarzen amerikanischen Kriegshubschrauber, Black Hawk, die von schwarzen Milizen in Mogadischu in Somalia bei einem Attentat auf Adid 1993 abgeschossen wurden, ein Attentat, daß in einem wahren Blutbad endete.

Fast drei Stunden dauerte der Film - von der dritten bis zur sechsten Stunde - wie draußen auf dem Golgatha. So lange muß ein Film sein, so blutig muß ein Film heute sein, um uns unter die Haut zu gehen, sich durch die Netzhaut zu bohren hinein in das Herz und uns Fragen zu stellen und das Leben in eine Perspektive zu rücken.

Der Film, schildert das, was wir sehen und hören und wovon wir in den Zeitungen lesen. Im Kino aber sind wir auf dem Schlachtfeld gegenwärtig.

Die Widersprüche werden überdeutlich: Daß wir, die westliche Welt, Streitkräfte einsetzen und für den Frieden und die Freiheit Menschen töten. Die Aktion, bei der Adid gefangen genommen werden sollte und die der Film schildert, wird im Film "Irene" genannt, ein Wort, das "Frieden" bedeutet.

Und mitten im Film sollen die Moslems beten. Wir erleben plötzlich fünf Minuten Stille in einem Inferno, bei dem sonst Granaten herumfliegen. Die Schießereien hören auf und es wird bombenstill im Kino.

Ein enormer Widerspruch: Menschenkinder, die an ihren Gott glauben, die Frieden wollen, die ihre Kinder lieben und sie vor den Feinden schützen wollen. Und dann: Ein großes unbarmherziges und gnadenloses Blutbad.

Ein biblischer Film - von Anfang bis Ende. Es gibt viele Hinweise auf das Neue Testament und die Leidensgeschichte. So lautet das Motto der amerikanischen Soldaten, als sie sich hinter die feindlichen Linien begeben: "Nobody left behind" - keine Soldaten sollen zurückgelassen werden, alle sollen gerettet werden.

Das ist das Gleichnis von den hundert Schafen. Wenn auch nur eines der hundert wegbleibt, läßt der Hirte de 99 zurück und geht hin und sucht nach dem einen Schaf. Das machen die amerika­ni­schen Ranger auch. Sie bleiben nicht im Camp und pflegen ihre Wunden nach den Kämpfen der ersten Tage. Sie melden sich wieder zur Truppe und begeben sich freiwillig in das Inferno.

Warum? Was bringt sie dazu? Sind sie kriegslüstern? So fragen sie sich selbst. Wollen die Helden spielen?

Nein! Es gibt nur ein Ziel, und das ist, daß sie ihre Kameraden retten, sagt einer von ihnen. Für sie, für ihre Freude nehmen sie das auf sich.

Aber da ist auch einer, der Angst hat. Wir haben ihn ansonsten als einen Idealisten kennengelernt, der die groß­politischen Perspektiven zu verstehen zucht, einer, der die Somalier respektiert, zu deren Verteidigung und Befreiung sie gekommen sind.. Er hat sich selbst zu den Streitkräften gemeldet, wie er sagt, weil er gerne einen Unterschied machen will.

Aber er wird, nach den ersten Kämpfen, erschüttert, zweifelt und will nicht wieder in das Inferno. Aber sein Freund sagt: "Thomas, sollen wir nicht einen Unterschied machen?" Und Thomas ist der Zweifler des Neuen Testaments, der, der nicht glauben kann, ohne gesehen zu haben. Er glaubt nicht mehr an den Unterschied. Er hat ja nur die grenzenlose Gewalt gesehen. Aber schließlich macht er doch wieder mit.

Ein Karfreitagsfilm ohne einen Ostermorgen. Das endet auf Golgatha mit Tod und schwarzen Särgen, die in einer B52 nach Hause geflogen werden.

Das ist ein Film, der alle Aspekte der grenzenlosen Gewalt darstellt, alle Widersprüche: die Faszination und den Ekel, die Absurdität und die Notwendigkeit, den Ausnahmezustand und den Alltag.

Und doch ließe sich die Geschichte nicht erzählen und ein solcher Befreiungskrieg nicht ausfechten, ließen sich die Leiden nicht ertragen und die Schmerzen aushalten, wenn es nicht einen Glauben an eine Auferstehung gäbe, wenn es nicht eine Hoffnung gäbe. Ein Glaube, daß wir einen Unterschied machen können. Aber auch ein Wissen davon, daß es seinen Preis hat, diesen Unterschi­ed zu machen.

In diesem Sinne ist der Karfreitag Jesu einzig. Sein Karfreitag, sein Leiden und seine Schmerzen und sein Tod am Kreuz auf Golgatha haben es uns möglich gemacht, mit dem Leiden zu leben, das in unserer Welt ist und an dem wir teilhaben als Täter wie als Opfer.

Die Schmerzen Jesu, sein Leiden und sein unschuldiger Tod waren ein teuer erkauftes Wissen von der Verwandlung des Schmerzes. Er glaubte, mitten im Leiden, daß Gott ihn von den Toten auferwecken würde. Er hielt das alles aus, weil er glaubte, daß er von den Toten auferstehen werde. In diesem Geist lebte er. Und in diesem Geist starb er.

Johannes läßt Jesus das offen aussprechen. "Es ist vollbracht", das sind die letzten Worte Jesu am Kreuz. "Und er beugte das Haupt und verschied".

Es war vollbracht, das, was er sollte:
- uns ein Wissen zu geben von der Verwandlung der Schmerzes,
- uns einen Weg bahnen aus dem Leiden,
- uns zu zeigen, daß es einen Weg aus dem Tode gibt,
- uns zu zeigen, daß das Leben nicht sinnlos ist,
- uns (den Widerspruch) deutlich zu machen, daß der Weg zum leben durch den Tod geht. Daß wir verlieren müssen, um zu gewinnen. Daß es etwas gibt, das vergehen muß, damit etwas anderes zum Leben erweckt werden kann.

Die Liebe war vollbracht. Sie war ins Leben - und damit auch in den Tod gerufen worden. Das ist der Widerspruch der Liebe - oder des Lebens. Und deshalb können wir sie nicht verstehen - die Liebe. So grenzenlos ist sie. So selbstüberschreitend. Daß sie sich selbst gibt. Sich selbst aufgibt. Um den zu retten, den sie liebt.

Die Liebe ist grenzenlos. So grenzenlos ist sie, daß sie der grenzenlosen Gewalt mit Liebe begegnet. Sie läßt niemanden allein, läßt niemanden zurück, sondern kehrt um und holt uns und befreit uns von Tod und Leiden.

In diesem Geist sollen wir unseren Karfreitag aushalten. Wir sollen das glauben, was wir nicht sehen können: Daß nach einem Karfreitag ein Ostermorgen auf uns wartet. Amen

Pastorin Eva Tøjner Götke
Platanvej 10
DK-5230 Odense M
Tel.: ++ 45 - 66 12 56 78
email: etg@km.dk


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