Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Estomihi, 22. Februar 2004
Predigt über 1. Korinther 13, verfaßt von Ulrich Haag
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Fasching, Masken, Karneval

(Der Pfarrer steigt mit Maske auf die Kanzel.)
Wundern Sie sich jetzt? Es ist Karneval, Zeit der Narren und Masken. Warum soll der Pfarrer da nicht auch eine Maske tragen?
Oder bekommen Sie gar einen Schreck? Man weiß ja nie, was sich hinter einer Maske verbirgt. Man kann nicht einschätzen, was kommt. Man sieht nicht das Gesicht des anderen.
sonntagmorgens auf der Kanzel und im besten Fall auch die Woche über steht der Prediger ein für die Wahrheit, Ehrlichkeit, Authentizität. Es passt nicht dazu, wenn er sein Gesicht versteckt. Und Sie, die Gemeinde sind ja auch nicht maskiert gekommen - natürlich. Also ziehe ich meine Maske jetzt von der Nase.

Was ist eigentlich das faszinierende an der Maske? Was ist es, das bewirkt, daß zu Karneval die seriösesten Herren und reserviertesten Damen in ein Kostüm schlüpfen, das sie unkenntlich macht - und sich in ein Gewühl aus Lust und Laune stürzen?
Wenn ich ein Kostüm überziehe, gehen verschiedene Veränderungen in mir vor:
Erstens spüre ich: Mich erkennt keiner. Ich kann für ein paar Stunden fünfe gerade sein lassen, feiern und mich sogar danebenbenehmen, ohne dass die Leute am nächsten Tag mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: Also der Pfarrer Haag ...
Zweitens: Ich kann in eine andere Identität schlüpfen, in ein anderes Leben, ohne den Preis dafür zu zahlen. Ich bin zwei Tage Pirat, der kriminelle Schrecken der Meere - kann aussteigen ohne irgendwelche Brücken hinter mir abbrechen zu müssen. Oder ich setze mir eine Pappnase auf und brauche andere zwei Tage nicht ernst zu nehmen, kann sie auf die Schippe nehmen, ohne dass ich dafür Schwierigkeiten erwarten müsste. Das tut besonders gut, wenn ich sonst überaus ernsthaft zuhören und mich selbst in abwegigen Situationen korrekt verhalten muss. Oder ich ziehe mir eine beeindruckende Narrenuniform an. Und bin einer aus dem offiziellen Festkommitee, der anderen Respekt einflößt - obwohl ich mich doch sonst eher für ein kleines Licht und eine Randfigur halte.
Das ist für mich - drittens - der Kern des Maskenspiels zur Karnevalszeit: Ich ziehe die Maske auf - und komme endlich einmal auf meine Kosten. Die Maske schützt mich nicht nur, sie hilft mir, die Rolle zu spielen, die ich immer schon einmal spielen wollte. Mich zu geben, wie ich glaube, dass ich ganz versteckt in meinem Innern bin. Mir einfach zu nehmen, wo ich das Gefühl habe,
zu kurz zu kommen. Versteckte, unterdrückte, nicht ausgelebte Anteile meiner Persönlichkeit auszuleben: Leichtes Mädchen, Matrose auf Landgang. Die Möhne, die ihre Aggressionen an den Männern auslässt, der Hanswurst, der sich bereitwillig für dumm verkaufen und demütigen lässt: Herrlich! Maske auf und losgelegt. Ausgelebt, raus mit alledem, was in mir steckt, was in mir brodelt, was mich belastet und unter der Oberfläche rumort. So gesehen ist Karneval das Fest der eigentlichen Wahrheiten unter der Maske. Das Großreinemachen der Seele. Ans Tageslicht mit allem was ich sonst unterdrücke. Karneval ist ursprünglich ein katholisches Fest. Aber man muss als Protestant nicht unbedingt auf Abstand gehen. Der Hausputz des Charakters hat etwas Klärendes- und das zum richtigen Zeitpunkt: es ist tatsächlich ein sinnvoller Auftakt zur Passions- und Fastenzeit, Zeit der inneren und äußeren Reinigung.

Doch offenbart der Karneval auch Abgründe.
Wenn Karneval die Zeit im Jahr ist, in der wir eine Maske aufziehen, um einmal so sein zu können, wie wir sind oder gerne wären, dann bedeutet das umgekehrt ja, dass wir uns für die restliche Zeit nicht so geben, wie wir sind. Dass ich eigentlich das ganze Jahr über Masken trage, hinter denen ich mich verstecke. Dass ich an vielen, viel zu vielen Stellen eine Rolle spiele, die mir nicht entspricht. Dass ich eine Miene aufsetze, die gar nicht stimmt.

Ein Mann Mitte fünfzig hat mir vor kurzem beschrieben, was geschieht, wenn er in einen Konflikt verwickelt wird: Immer wenn es Streit gibt, kochen eine Menge Gefühle in mir hoch, erzählt er: Angst, Verletzung, Unsicherheit, das Gefühl, zu kurz zu kommen oder übergangen zu werden, die Befürchtung ungerecht gehandelt zu werden. Gleichzeitig passiert etwas merkwürdiges: Je mehr gefühle ich empfinde, je mehr es in meinem Innern drunter und drüber geht, desto härter mache ich mich nach außen. Ich ziehe eine Rüstung an, eine Panzer, der mich unverwundbar machen soll, mich zusammenhalten soll und stark machen. Und ich bewaffne mich mit scharfen Worten, mit treffenden Sätzen. In meinem Kopf geben sich spitze Gedanken die Hand, Argumente, denen der andere nicht ausweichen kann - und die ihn durchbohren sollen. Der andere will es ja nicht anders. Ich habe recht. Der andere hat unrecht. Ich gehe als Sieger aus dem Streit hervor!

Diese Härte im Streit, das heruntergeklappte Visier ist eine der gängigen Masken des Alltagslebens. Kennen sie sie auch? Eine Maske, hinter der ich mich erfahrungsgemäß vollends auflöse. Eine Maske, die mich selbst zersetzt und vieles zerstört. Die Porzellan zerschlägt, dass man es kaum noch kitten kann.
Es gibt allerdings auch den entgegen gesetzten Mechanismus: Aggressionen zu schlucken. Zu unterdrücken. Wegstecken und weitermachen wie bisher. Das freundliche Lächeln - obwohl ich mit den Zähnen, die ich zeige, am liebsten zubeißen würde. Die glatten Worte - obwohl ich meinem Gegenüber viel lieber die Meinung geigen würde. Die Maske des interessierten Gatten, obwohl ich mich innerlich schon längst verabschiedet habe. Die Rolle der treu sorgenden Mutter, obwohl ich den ganzen Bettel am liebsten hinwerfen und fortlaufen würde.

Und obwohl ich mir immer wieder vornehme: Beim nächsten mal passiert dir das nicht. Da setzt du keine Maske auf, da sagst du gleich wie dir zumut ist. Da schluckst du nichts, sondern sagst von vornherein, was du empfindest, bist offen und ehrlich, sagst die Wahrheit statt auf dein Recht zu pochen, machst dich verletzlich, statt andere zu verletzen - obwohl ich mir das immer wieder vornehme, erwache ich am Ende doch wieder und finde mich in einer Maske, einer unmerklich übernommenen Rolle - von er ich bald nicht mehr unterscheiden kann: Bin ich es? Oder ist es ein Bild von mir selbst, das ich ausfülle, in das ich bis zur Perfektion hineingeschlüpft bin?

Paulus schreibt: Wir erkennen jetzt nur durch einen verschwommenen Spiegel ein vages Bild von uns selbst. Dann aber sehen wir klar - von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise - dann aber werde ich erkennen in gleichem Maße, wie ich erkannt werde.

Ich habe mich schon oft gefragt, was diese Verse im berühmten Pauluskapitel über die Liebe zu suchen haben. In ihrem Buch Hinreise versucht Dorothee Sölle den Zusammenhag zu erklären, indem sie aus dem Liebesbrief einer jungen Frau zitiert:
Lass dich nicht von mir narren. Lass dich nicht durch das Gesicht täuschen, das ich mache. Denn ich trage tausend Masken - Masken, die ich fürchte abzulegen. Und keine davon bin ich. So zu tun als ob ist eine Kunst, die mir zur zweiten Natur wurde. Ich mache den Eindruck, als sei ich umgänglich, als sei alles sonnig und heiter in mir, innen wie außen, als sei mein Name Vertrauen und mein Spiel Kühle, als sei ich ein stilles Wasser und als könnte ich über alles bestimmen - so als brauchte ich niemanden. Dieses Äußere mag sicher scheinen - aber es ist eine Maske. Darunter ist nichts entsprechendes. Darunter bin ich wie ich wirklich bin: Verwirrt, in Furcht und alleine. Aber ich verberge das Ich, möchte nicht, dass es irgendjemand merkt. Deshalb erfinde ich Masken, hinter denen ich mich verstecken kann. Eine lässige, kluge Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen, die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde. Dabei wäre dieser Blick gerade meine Rettung, wenn er verbunden wäre mit Angenommenwerden, mit Liebe. Das ist das einzige, das mir die Sicherheit geben könnte, die ich mir selbst nicht geben kann: daß ich in deinen Augen wirklich etwas wert bin...

Der Grund, weshalb ich mich im alltäglichen Umgang mit anderen immer wieder hinter Masken verschanze ist die Angst, nichts wert zu sein. Letztlich nicht so sein zu dürfen, wie ich wirklich bin. Mich den anderen mit dem, was mich im Kern umtreibt nicht unverblümt zumuten zu dürfen. Meine Gedanken und Gefühle besser nicht ungeschminkt zu äußern - man könnte mich ertappen. Die Angst, verkehrt zu sein, im Unrecht zu sein. Kein Recht zu haben mit der Art, wie ich bin. Also muß ich anders sein. Ich schminke mich schöner, zeige ein sonniges Gemüt. Das andere Gesicht, der Freundliche, aber Fremde, den ich nach außen hin zeige - das ist meine Maske.

Diese ewige selbst verneinende und selbst zerstörerische Maskerade zerbricht in dem Moment, in dem uns jemand durchschaut und erkennt. Das ist es, was wir befürchten. Und das meint Paulus: Ich werde einst vollständig erkennen, wie ich auch erkannt werde. Ich werde einmal durchschaut.
Für Paulus hat das erstaunlicherweise nicht beängstigendes. Er fühlt sich nicht entlarvt. Im Gegenteil, es hat etwas befreiendes und der Apostel setzt alle seine Hoffnung darauf. Er glaubt daran: Nicht erst am Ende der Tage, nicht erst vor dem Richterstuhl des Ewigen - sondern schon jetzt gibt es den, der mich begreift und umgreift. Hält. Ich verstehe mich zwar oft selbst nicht, bin ausgeliefert dem, was in mir hoch kocht oder in sich zusammensackt. Ich kann mich kaum selbst erklären, meine Regungen und Reaktionen erweisen sich letztlich als unkontrollierbar meine Beweggründe sind verwirrend.

Doch einen gibt es, der kann das alles nachvollziehen. Der kennt meine Geschichte bis ins Detail. Der hat mich im Mutterleib bereitet. Der kann den ganzen Wust aus Verletzung, Unsicherheit und nicht aufgearbeiteter Schuld entwirren. Der versteht mich vollständig, von innen heraus. Der kann genau erklären, wie ich geworden bin, was ich bin. Für den bin ich folgerichtig, in dessen Augen ist es ganz plausibel, was ich tue - einschließlich meines Versteckspiels und meiner Maskerade. Einen gibt es, bei dem hat alles, was in mir ist seine Berechtigung - und bei dem habe ich recht und Raum, der zu sein, der ich bin. Oder klassisch theologisch ausgedrückt: Ich bin vor Gott gerecht - gerechtfertigt allein aus seiner Gnade. Das gilt es ins Leben zu holen und sich täglich neu zu vergegenwärtigen: Dass Gott mich kennt, erkennt und mich vollständig annimmt. Das Vertrauen darauf - und das ist der Kern des christlichen Glaubens - kann mein Leben völlig umkrempeln es lebens- und liebenswert machen.
Wenn ich von dieser Liebe her lebe, mag es wohl geschehen, dass ich meine Masken fallenlassen kann - hier und da, eine nach der anderen, je länger, je mehr. Meine Gefühle, meine Schwächen zugeben kann. Weil Gott zu mir Ja sagt habe ich den Mut, mich selbst anzusehen, und zu sein, wie ich hin. Die Liebe Gottes ist die Wurzel aller Selbsterkenntnis. Wohl deshalb stehen die beiden Verse von der Erkenntnis im dreizehnten Korintherkapitel über die Liebe.

Am Ende doch einige kurze Anmerkungen zum Maskenfest dieses Wochenendes.
Ein religiöses Fest ist es nicht. Ein Fest der Rückbindung an Gott - das heißt ja re-ligio - kann es nicht sein. Es bindet uns Menschen gerade nicht an Gott. Es befreit uns nicht von unseren vielen Verstellungen. Es ist nicht mehr als ein von Menschen inszenierter Brauch mit zwiespältiger Wirkung - wie alles menschliche. Karneval kann beim Frühjahrsputz der Seele helfen. Doch er birgt auch die Gefahr, dass sich unsere Alltagsmaskerade in der Zeit danach weiter verfestigt.
Mitfeiern können wir trotzdem. Vielleicht setzen wir unsere Faschingsmasken einfach auf mit dem festen Vorsatz und der Freude darauf, nach dem Fest alle Maskerade abzulegen. Und wahr zu machen Stück für Stück, daß Gott uns annimmt, ungeschminkt, ungeschönt, so wie wir eben sind.

Amen.

Pfarrer Ulrich Haag, Aachen
haag@ekir.de



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