Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Estomihi, 22. Februar 2004
Predigt über 1. Korinther 13, verfaßt von Martin Evang
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Schauen Sie, da hinten: der Dom!
Kennen Sie den Dom? Den Kölner Dom?

Klar kenne ich den.
Mit dem Auto oder mit dem Zug:
immer, wenn ich nach Köln komme,
sehe ich ihn ja schon von weitem,
den Dom, die beiden Türme.

Nun aber bleiben Glauben, Hoffnung, Liebe, diese drei.

Kennen Sie den Dom?

Ja!
Ich hab's doch gerade gesagt.
Neulich war er sogar auf einer Briefmarke.
Hab ich oft geklebt.

Die Liebe aber ist die größte unter ihnen.

Kennen Sie ihn auch, den Dom? Näher, meine ich.

Näher?
Eigentlich schon.
Ich fahre oft mit dem Zug daran vorbei,
nicht nur heute.
Gleich in der Gleiskurve,
zwischen Bahnhof und Brücke,
sieht man ihn ganz nah.
Zwar nur kurz,
dafür aber ganz nah.

Unser Wissen ist Stückwerk.

Noch näher kennen Sie ihn nicht?

Noch näher?
Ja doch,
früher war ich einige Male in Köln,
zum Einkaufen.
Da bin ich an ihm vorbeigegangen,
ganz nah,
bin wohl auch stehen geblieben
und habe in die Höhe geschaut.
Ja, jetzt ich erinnere mich:
Durch die Wolken,
die von Westen nach Osten zogen,
schien es einmal so,
als fielen die Türme nach vorn,
gerade auf mich drauf.

Die Liebe hört niemals auf.

Aber so ganz um ihn herum gegangen sind Sie nicht?
Und drin gewesen auch nie?

Doch, vielleicht,
als Kind vielleicht.
Ich weiß nicht genau.

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete …

Haben Sie eine Stunde Zeit?

Ja, warum?
Ich meine: wozu?

Steigen Sie einfach hier aus
und nehmen sich ein wenig Zeit für den Dom.
Fahren Sie in einer Stunde weiter
mit dem nächsten Zug.

„Hier Köln.
Köln Hauptbahnhof.
Sie haben Anschluss …“

* * *

Was für ein Bau!
Der Kölner Dom!

Was für ein Text!
Das „Hohe Lied der Liebe“!

Vollendete Gotik!
Wiewohl erst fertig gestellt
vor wenig mehr als 120 Jahren!

Eigentlich auch kein Lied.
Keine Poesie, sondern Prosa.
Und singen kann man es auch nicht.
Trotzdem: Mehr als ein Lied!

Das Westwerk mit den Türmen!
– welch ein Bau!
Vier Geschosse, jedes an die 25 m hoch,
darüber die Turmhelme;
fünf senkrechte Achsen,
dahinter zu erschließen
die fünf Schiffe des Doms:
das Hauptschiff hinter dem Hauptportal
und dem großen Fenster darüber,
die Seitenschiffe rechts und links
hinter den Erdgeschossen der Türme!

Die erste Strophe des „Liedes“,
das doch kein Lied ist!
– was für ein Text!

1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete
und hätte die Liebe nicht,
so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
2 Und wenn ich prophetisch reden könnte
und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis
und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte,
und hätte die Liebe nicht,
so wäre ich nichts.
3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe
und ließe meinen Leib verbrennen
und hätte die Liebe nicht,
so wäre mir's nichts nütze.

Das Westwerk mit den Türmen!
– welch ein Bau!

Die erste Strophe des „Liedes“,
das doch kein Lied ist!
– was für ein Text!

Die höchsten und besten,
die schönsten und wahrsten
Worte und Sätze,
die Voten und Reden sind,
lieblos gesprochen,
Getön und Geklingel,
Geschepper, Geplärr.

Und die anderen Worte erst,
die normalen und alltäglichen Worte,
– wenn ich sie liebelos spreche,
rede ich Blech.

Jedoch die Worte,
auch die des Alltags,
die ganz normalen Gespräche,
die Grüße,
die Nachfragen,
die Bitten
und selbst die Weisungen, die ich zu geben habe:
mit Liebe gesprochen,
klingen sie menschlich,
womöglich sogar so menschlich,
als hätte ein Engel geredet,
ein Bote von Gott.

Die „Häuser“ des Doms!
– welch ein Bau!
Das fünfschiffige Langhaus,
endend im Kapellenkranz des Chores;
das dreischiffige Querhaus,
das durchs Langhaus schneidet
und mit ihm ein Kreuz bildet;
hoch über der Vierung
der Dachreiter mit seinem goldenen Stern!

Die zweite Strophe des „Liedes“,
das doch kein Lied ist!
– was für ein Text!

4 Die Liebe ist langmütig
und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht auf,
5 sie verhält sich nicht ungehörig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit;
7 sie erträgt alles,
sie glaubt alles,
sie hofft alles,
sie duldet alles.

Die „Häuser“ des Doms!
– welch ein Bau!

Die zweite Strophe des „Liedes“,
das doch kein Lied ist!
– was für ein Text!

Fünfzehn Miniatursätze über das Tun und Lassen der Liebe,
Sätze, nur hingetupft, nur gesagt,
nicht befohlen, erst recht nicht skandiert.
Sätze über das Tun und Lassen der Liebenden:
über das wirkliche Tun und Lassen Gottes,
des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes;
über das Tun und Lassen der Mitmenschen,
das ich teils erfahre, teils ersehne;
und über das mir mögliche Tun,
das ich in Wirklichkeit leider oft lasse,
das mir mögliche Lassen,
das ich in Wirklichkeit leider oft tu.

Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist,
„ist langmütig und freundlich …
rechnet das Böse nicht zu …
erträgt alles …“

ja, von Gott ist das gesagt,
was da vom Tun und Lassen der Liebe gesagt ist.

Meine Mitmenschen
in den Lebenskreisen, zu denen ich gehöre,
„sind freundlich …
treiben nicht Mutwillen …
verhalten sich nicht ungehörig …
suchen nicht das Ihre …
freuen sich nicht über die Ungerechtigkeit …
ertragen alles …
hoffen alles …“

ja, von meinen Mitmenschen ist das gesagt,
wie ich sie erfahre oder wie ich sie ersehne.

Und ich selbst
„eifere nicht …
blähe mich nicht auf …
lasse mich nicht erbittern …
freue mich an der Wahrheit …
glaube alles (d.h. halte in allem den Glauben fest) …
dulde alles (d.h. nehme die Zumutungen in Kauf) ...“

ja, von mir ist das gesagt,
soweit Gottes und der Mitmenschen Liebe
mich aus der Angst um mich selbser herauslöst.

Der grandiose Zierrat!
– welch ein Bau!
Maßwerk und Fialen,
Krabben und Kreuzblumen,
Wimperge und Tympana,
Strebepfeiler und -bögen,
Ornamente und Figuren;
und längs und quer auf den Firsten der Dächer
Kämme von bronzenem Maßwerk!

Die dritte Strophe des „Liedes“,
das doch kein Lied ist!
– was für ein Text!

8 Die Liebe hört niemals auf,
wo doch das prophetische Reden aufhören wird
und das Zungenreden aufhören wird
und die Erkenntnis aufhören wird.
9 Denn unser Wissen ist Stückwerk
und unser prophetisches Reden ist Stückwerk.
10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene,
so wird das Stückwerk aufhören.
11 Als ich ein Kind war,
da redete ich wie ein Kind
und dachte wie ein Kind
und war klug wie ein Kind;
als ich aber ein Mann wurde,
tat ich ab, was kindlich war.
12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild;
dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Jetzt erkenne ich stückweise;
dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

Der grandiose Zierrat!
– welch ein Bau!

Die dritte Strophe des „Liedes“,
das doch kein Lied ist!
– was für ein Text!

Worauf man sich,
abseits vom Tun und Lassen der Liebe,
damals etwas einbildete:
prophetische Rede – „Menschenzungen“ –
ekstatische Rede – „Engelzungen“ –
und religiöse Tiefenkenntnis – damals „Gnosis“ genannt;

und worauf man sich,
abseits vom Tun und Lassen der Liebe,
heute etwas einbilden könnte:
auf Reichtum – auch religiösen –
auf Wissen – auch des Glaubens –
auf Einfluss – auch in der Kirche –
auf Image – auch kirchlicher Ämter
– das ist vorläufig und fragmentarisch:
Es „hört auf“.
Es ist „Stückwerk“.
Es gehört höchstens zu den vorletzten Dingen,
vermutlich zumeist nicht einmal dazu.

Was bleibt,
weil sich da mitten im Vergänglichen Ewiges
und mitten im Stückwerk Vollkommenes ereignet,
das ist der Glaube,
der sich auf Gott verlässt;
das ist die Hoffnung,
die sich nach Gott ausstreckt;
das ist die Liebe,
die, von Gott ergriffen, um sich greift.

Auch mit Reichtum und Wissen,
mit Einfluss und Image geht sie liebevoll um.
Sie stellt sie in den Dienst Gottes,
setzt sie menschendienlich ein.

Warum aber bleiben,
im Unterschied zu allem anderen,
Glaube, Hoffnung und Liebe?
Vielleicht,
weil wir in ihnen nicht mehr so sehr bei uns selbst
wie bei Gott sind?

Warum aber ist die Liebe die größte unter ihnen?
Vielleicht,
weil wir in ihr an Gott nicht nur Teil nehmen,
sondern auch Teil geben?

***

Was für ein Text!
Das „Hohe Lied der Liebe“!

Was für ein Bau!
Der Kölner Dom!

Ihn näher kennen heißt wohl:
ihn nicht von ferne kennen.

Je vertrauter er mir wird,
desto größer wird mir sein Geheimnis.

Das Geheimnis der Liebe!
Gottes Geheimnis!
„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild.“
Welch ein Bild – jetzt schon!

Was für ein Bau!
Der Kölner Dom!

Trete ich jetzt noch ein?
Nein, jetzt nicht.
Für heute ist es genug.

Aber nur für heute.
Ich komme ja wieder vorbei.
Dann steige ich wieder aus.
Dann gehe ich auch hinein.

„An Gleis 4 bitte einsteigen.
Türen schließen selbsttätig.
Vorsicht bei der Abfahrt.“


Pfarrer Dr. Martin Evang, Düsseldorf
martinevang@web.de



(zurück zum Seitenanfang)