Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Sexagesimae, 15. Februar 2004
Predigt über Hebräer 4, 12-13, verfaßt von Paul Kluge

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"Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Scheidung von Gelenken und Mark der Seele und des Geistes und ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, vielmehr ist alles entblößt und aufgedeckt vor seinen Augen, dem wir Rechenschaft geben müssen."
(Zürcher Übersetzung)

Liebe Geschwister,

als der Bischof zur Sitzung des Redaktionskreises kam – er hatte sich ein wenig verspätet – war ein reges Gespräch im Gange. Doch es ging nicht um den Brief, an dem sie arbeiten wollten; die Anwesenden ergingen sich in Reiseerinnerungen, lachten über das eine Erlebnis, empörten sich über das andere, korrigierten oder ergänzten einander.

Nun war diese Reise zwar der Auslöser für den zu schreibenden Brief gewesen, doch es sollte kein Reisebericht werden. Die Gemeinden, das war ein Ergebnis der Rundreise gewesen, brauchten Stärkung und – im wörtlichen Sinne – Ermunterung. Denn die Gemeinden waren müde geworden, zufrieden mit sich selbst und sich selbst genug.

Doch das war leider nur die eine Seite. Die andere war, dass zahlreichen Gemeindegliedern die Schlichtheit christlicher Gottesdienste nicht mehr gefiel: Keine prachtvollen Gebäude, keine zwischen Himmel und Erde vermittelnde Priester in kostbaren Gewändern, keine geheimnisvollen Rituale, keine in Trance versetzende Musik – die Liste ließ sich verlängern. Manche Gemeindeglieder hatten sich deshalb wieder ihrem alten Glauben zugewandt, andere hatten – und das mit Erfolg – Elemente anderer Religionen in christliche Gottesdienste eingebaut. Die Reisenden hatten gesehen, dass Prediger des Evangeliums in bunten Gewändern geheimnisvolle Dinge taten; sie hatten Predigten gehört, in denen uralte und auch ganz moderne Ideen verbreitet wurden, die mit Christus nichts zu tun hatten. So hatten unter dem Vorwand, die Gottesdienste „lebendiger, moderner und anschaulicher“ zu gestalten, unchristliches Vorstellungen Einzug in christliche Gemeinden gehalten.

Und dann hatten sie auf ihrer Besuchsreise Christen, Prediger sogar, kennengelernt, die allen Ernstes behaupteten, als ohnehin Erlöste könnten sie tun und lassen, was sie wollten. Das kam natürlich bei vielen Leuten gut an, und der christliche Glaube wurde für sie zum Freibrief für ein Leben nach Lust und Laune.

Deshalb hatte die Besuchsgruppe nach ihrer Rückkehr beschlossen, den Gemeinden zu schreiben. Sie an das zu erinnern, was Christsein bedeutet. Für den Redaktionskreis hieß das, sich zunächst selber darüber klar zu werden und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Doch die Versammelten schwelgten lieber in Reiseerinnerungen, als dass sie sich an die Arbeit machten. Der Bischof bat um Ruhe, das Gespräch verebbte allmählich und er eröffnete die Sitzung mit ein paar Sätzen aus dem Buch Jesaja: „Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; rufet ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung. Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HERR, sondern soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.“ - Nach kurzer Pause fuhr er fort: „An Christus, liebe Geschwister, können wir Gottes Gedanken und seine Wege erkennen. Christus ist das lebendige und lebendig machende Wort Gottes. Das dürfen wir nie vergessen, und daran müssen wir die erinnern, die dabei sind, es zu vergessen. Auf Gottes Wort zu hören ist genug, mehr brauchen wir nicht. Keine Priester, denn Christus ist der einzig wahre Priester, keine Opfer, denn Christus hat sich geopfert. Dafür können wir mit unserem Leben dankbar sein, indem wir Gottes Willen tun.“

Der Bischof sprach ein kurzes Gebet, einige andere ergänzten persönliche Gebetsanliegen, dann las der Bischof vor, was er aus den Stichworten der letzten Sitzung formuliert hatte. „Wir sollten jetzt allmählich auf Besonderheit, die Einzigartigkeit unsres Glaubens hinweisen,“ schloss er an und fragte, wie denn ein geschickter Übergang möglich sei; die Leser sollten zu den Kernaussagen quasi hinübergleiten. Ein anderer meinte, nach so vielen bekannten Zitaten aus den Psalmen und den Propheten wäre ein harter Schnitt angebrachter.

Das leuchtete dem Bischof ein, er bat um Formulierungsvorschläge und erntete erst einmal Schweigen. „Ein Hinweis darauf, wie Gottes Wort unser Leben verändert,“ schlug jemand vor, „vielleicht mit einem drastischen Bild. Also, für mich war die Begegnung mit Gottes Wort wie – wie ein Blitzstrahl, der mich traf. Und wie war das für euch?“

Stirne legten sich in Falten, Augen schlossen sich, Erinnerungen und Gefühle wurden wach. „Wie eine Schneeschmelze,“ warf einer ein, „Wie ein Blick von hohem Berg“ ein anderer und „Wie ein Hafen nach stürmischer Fahrt“ ein dritter. „Für mich ist das einfach wie ein Zuhause,“ sagte der Jüngste aus der Runde, „meine Eltern waren schon Christen, und ich bin da hineingewachsen, habe nichts anderes kennengelernt.“

(Hier können die Hörerinnen und Hörer aufgefordert werden, ihre eigene Metapher zu finden und evtl. auch zu nennen.)

So ging das eine ganze Weile. Der Bischof hatte sich das eine und andere Bild notiert – er brauchte ja auch Anregungen für seine Predigten, und die holte er sich am liebsten von Menschen aus seiner Gemeinde. Einer, der bis dahin sich kaum zu Wort gemeldet hatte, fragte nun, ob er auch noch etwas sagen dürfe.

Er habe lange darüber nachgedacht, wie die Begegnung mit dem Wort Gottes für ihn gewesen sei, fing er etwas umständlich an, und ihm sei zunächst nichts eingefallen. „Und so war das auch am Anfang. Ich habe irgendwann einmal eine Predigt gehört, die fand ich ganz interessant. Dann habe ich gelesen, was es so gab, habe Gottesdienste besucht, Leute kennengelernt. Die christlichen Gedanken sagten mir zu, die Leute auch, darum habe ich mich dann schließlich taufen lassen. An meinem Leben brauchte ich nicht viel zu ändern: Ich neige weder zu Exzessen noch zu Gewalt, und ich wäre nicht Arzt geworden, wenn ich nicht Menschen helfen wollte. So lief fast alles in gewohnten Bahnen weiter. Erst kürzlich – ich machte ein paar Tage Urlaub in meinem Landhaus an der Küste – las ich bei Mose den Satz ‚Arme soll es bei euch überhaupt nicht geben,‘ * und ich spürte einen richtigen Stich in meinem Herzen, wie mit einem Skalpell. Der Satz tat mir richtig weh, denn ich hatte sofort all die Armen vor Augen, die es bei uns in der Stadt und überall auf der Welt gibt. Armut ist ein Skandal, dachte ich, nein, ich fühlte es mehr als dass ich es dachte. Dass es Armut gibt, ist eine Sünde derer, die nicht arm sind.

Mir kam in den Sinn, mein Landhaus zu verkaufen und das Geld an Arme zu geben. Aber auch der Gedanke tat mir weh, denn es ist mein Elternhaus, und auch meine Kinder sind dort geboren; es ist ein Stück von mir. Ich weiß noch nicht, wie ich aus diesem Dilemma herauskomme. Ich weiß aber wohl, dass Gottes Wort wie ein scharfes Messer ist, dass der Seele ins Mark schneidet, und das die Gedanken trennt wie die Knochen eines Gelenkes. Ich kann nicht mehr daran denken, wie es meiner Familie und mir noch besser gehen könnte, ich kann nur noch daran denken, wie es den Armen besser gehen kann. Gottes Wort schneidet bestimmte Gedanken aus dem Kopf, und damit auch bestimmte Taten. Ja, für mich ist Gottes Wort wie ein Skalpell.“

Der Arzt lehnte sich zurück und schwieg, die anderen schwiegen auch, betroffen von der Offenheit dieses Menschen und getroffen von der Ernsthaftigkeit seines Glaubens. „Darf ich dein Bild vom Skalpell für unseren Brief verwenden?“ fragte der Bischof schließlich. Ob das nicht etwas zu drastisch sei, wand einer ein, doch der Bischof meinte, das sei dem Wort Gottes durchaus angemessen, das selber oft genug drastisch sei, weil es wecken wolle, wachrütteln, und nicht einlullen. Dann sagte er eine kurze Pause an, und danach wollten sie über Christus als den wahren Hohenpriester nachdenken. Amen

* Deut. 15,4

Paul Kluge, Pastor em.
Großer Werder 17
39114 Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de

 


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