Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag nach Epiphanias, 18. Januar 2004
Predigt übe
r Römer 12, 4-16, verfaßt von Angelika Überrück
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

das Bild vom Leib und den Gliedern als Bild für die christliche Gemeinde ist uns allen wahrscheinlich geläufig. Paulus benutzt es nicht nur hier, sondern auch im Korintherbrief . Es scheint ihm ein ganz wichtiges Bild zu sein. Und wir selbst haben uns daran auch gewöhnt, dass es immer dann zur Sprache kommt, wenn es um das Zusammenleben in der Gemeinde geht oder wenn jemand eine neue Aufgabe in der Gemeinde übernimmt. Jeder ist ein Glied in einem großen Ganzen, getragen durch den Glauben an Jesus Christus. Also: alles klar, wir können weitermachen.

Aber so einfach ist das, denke ich, nicht. Sehen wir uns doch mal unsere Gemeinden an. Sind unsere Gemeinden denn wirklich so, dass wir füreinander da sind? Dass wir im Frieden miteinander leben?

Ich habe es viel eher erlebt, dass es da immer wieder zu Unstimmigkeiten kam. Das fing oft bei Kleinigkeiten an: Warum darf die heute Kaffee kochen? Das war doch sonst immer meine Aufgabe! Immer diese Mutter-und Kind-Gruppen- da liegen auch schon wieder Windeln im Müll und stinken. Können die denn nie mal aufräumen? Die Konfirmanden sitzen aber auch nie still im Gottesdienst. Die Jugendgruppe ist ja fruchtbar laut- was die da nur wieder machen? Ich denke, Ihnen fallen ganz viele Punkte ein, wo Gemeindegruppen, Gemeindeglieder aneinander Kritik üben und eben nicht Anteil nehmen.

Und sehen wir uns selbst doch mal an. Sind wir wirklich ganz frei von Neid und können uns an den Gaben und Fähigkeiten der anderen wirklich ganz ungetrübt freuen? Und verteilen wir unser Lob wirklich gleichmäßig oder erkennen wir nicht doch manches höher an als anderes? „Der ist doch im Kirchenvorstand“ oder „Die verteilt doch nur den Gemeindebrief“, sind Sätze, die ich gut kenne und die eben durch kleine Wörter deutlich machen, dass wir eben nicht alle Glieder für gleich wichtig halten.

Außerdem erlebe ich immer wieder, dass in einer Gemeinde eben nicht alle Gaben und Fähigkeiten vorhanden sind. Da gibt es vielleicht ganz viele, die toll handarbeiten können. Klasse, eine Gabe, die die Gemeinde gut nutzen kann. Aber es fehlt dann an denen, die die Organisation des Verkaufs übernehmen können und schon kommen auch die tollen Handarbeiten nicht so recht zur Geltung. Oder: es fehlt an Menschen, die wirklich zuhören können und vielleicht mal den einen oder anderen Besuch übernehmen können. Was machen wir denn, wenn Glieder, wenn Gaben fehlen?

Das alles macht eines deutlich: Paulus zeichnet ein Idealbild. Das Idealbild einer Gemeinde, in der alle Glieder eben so gut zusammenarbeiten wie die Körperteile eines Körpers.

Das kann ja verschiedene Gründe haben: Entweder es gab wirklich mal so eine ideale Gemeinde oder aber es gab zur Zeit des Paulus schon dieselben Schwierigkeiten wie heute. Wie sah es denn nun aus in Rom, soweit wir das heute wissen? Kurz gesagt: Nicht viel anders als heute bei uns. In der Gesellschaft Roms gibt es unterschiedliche und sich widersprechende Strömungen und Moden. Die kulturelle Vielfalt bietet natürlich viele Möglichkeiten, aber lässt auch Konkurrenz zwischen den einzelnen Gruppen entstehen und eine gewisse Beliebigkeit. Fremde Religionen kommen nach Rom, sie werden in privaten Zirkeln außerhalb des gewöhnlichen Alltags gelebt. Vom Staat wird gleichzeitig Kaiserverehrung gefordert. Um überhaupt eine Einheit zwischen den vielen Strömungen zu bekommen, wird die Sprache vereinheitlicht, das Recht wird einheitlich sowie Münzen, Maße und Gewichte. Es entsteht der Gedanke eines Weltbürgertums. Die Gesellschaft spaltet sich aber in eine Oberschicht, die in unermeßlichem Reichtum und Luxus lebt und eine breite Masse von verarmten Arbeitern und Schuldsklaven.

Also: Vermutlich hatten die Menschen in Rom dieselben Schwierigkeiten wie wir heute. Menschen erleben täglich, dass sie austauschbare Nummern oder verkäufliche Ware sind, dass sie nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten geachtet werden, sondern einzig und allein nach dem Ansehen und der Macht, die sie haben. Sie erleben das wahrscheinlich auch innerhalb der Gemeinde.

Und da stellt Paulus die Frage, was Menschen in der christlichen Gemeinde eigentlich miteinander verbindet. Das Verbindende, und darauf kommt es Paulus vor allem an, das Verbindende ist die Liebe. Die Liebe, mit der Jesus Christus jeden von uns liebt, eben nicht als austauschbare Nummern, sondern durch die jeder einzelne Mensch etwas Besonderes ist. Jeder Einzelne ist unentbehrlich, er oder sie ist in Gottes Augen etwas Besonderes, etwas ganz Tolles, eben ein geliebtes Wesen mit ganz speziellen Fähigkeiten. Damit kann er oder sie dem Nutzen aller dienen, nicht mit seiner Rolle oder Funktion. Wir sollen und dürfen uns mit den Augen der Liebe sehen, das ist das, was Paulus möchte von einer idealen Gemeinde. Und wer sich mit diesen Augen sieht, der kann dann eben auch gastfreundlich sein, der kann Anteil nehmen aneinander, füreinander beten und jeden gleich achten.

Wie geht das nun in der Praxis?
Ich denke, das erste, was wir lernen können, ist uns gegenseitig wahrzunehmen.

Ich war jahrelang Pastorin auf einem Dorf. Da sollte man eigentlich meinen, dass jeder jede kennt. Aber auch da war es schon so, dass die Mutter-Kind-Gruppen nicht wussten, wer denn die Mitglieder der Bibelstunde sind und umgekehrt oder selbst die Gottesdienstbesucher sich nicht mehr alle kannten. Oft ist es ja auch so, dass die Kritik aneinander, das Unverständnis dadurch entsteht, dass wir gar nicht genau wissen, was die anderen denn da so machen.

Und wie oft habe ich erlebt, dass Menschen, die sich jahrelang vom Sehen her kannten, erst in einer schwierigen Situation erfahren haben, dass der Andere etwas konnte, was weiterhalf. Darüber hatte man eben nie geredet.

Die Konfirmanden in unserer Gemeinde machten während ihrer Konfirmandenzeit immer ein Gemeindepraktikum, d.h. sie gingen für drei Wochen je zu dritt oder viert in eine Gruppe oder einen Kreis der Gemeinde und haben den Anderen darüber berichtet. Sie waren oft ganz erstaunt, was es da so alles gab und manchmal haben sie es auch ihren Eltern erzählt und neue verborgene Talente kamen zum Vorschein, weil die Eltern plötzlich Interesse bekommen hatten.

Wenn ich Sie jetzt fragen würde, wie es in der Gemeinde so aussieht, ich weiß nicht, was da für Antworten kämen: Was wissen Sie über die einzelnen Gruppen und Kreise der Gemeinde? Wer gehört alles dazu? Wie viele Konfirmanden und Konfirmandinnen in wie vielen Gruppen gibt es denn eigentlich? Und was machen die in ihrem Unterricht?

Und wenn Sie jetzt in Gedanken noch ein Stück weiter überlegen: Gehen Sie mal in Gedanken in Ihre Straße, in Ihr Wohnviertel. Wissen Sie, wer da wohnt und ob der Nachbar krank ist und vielleicht Hilfe braucht? Ich lebe in einer kleinen Straße. Bis vor zwei Jahren kannte ich alle Nachbarn, man sah sich, redete ein paar Worte. Inzwischen sind einige neu eingezogen, die ich bis heute nicht kennengelernt habe. Und selbst in so einer kleinen Straße kann es passieren, dass jemand lange krank ist und keiner es weiß, weil man sich eben nur ab und an mal auf der Straße trifft.

Wir leben häufig nebeneinander, aber nicht miteinander. Und manch einer scheut sich auch etwas Persönliches zu fragen. Warum eigentlich? Ich empfinde es als sehr angenehm, wenn beim Bäcker jemand sagt: „Oh, Sie kaufen aber viele Brötchen heute, haben Sie Besuch?“ Oder wenn der Nachbar sagt: „Ich habe Sie lange nicht gesehen: Waren Sie krank oder hatten Sie Urlaub?“ Das zeigt doch: da nimmt mich jemand wahr. Ich bin nicht austauschbar.

Aber es fällt uns oft schwer, auf andere Menschen zuzugehen. Ich möchte Sie jetzt einladen zu einem kleinen Experiment, zu etwas, was man sonst in der Kirche nicht tut. Drehen Sie sich mal in aller Ruhe um! Schauen Sie mal, wer da so alles mit Ihnen im Gottesdienst sitzt. Und dann überlegen Sie mal: Wen kenne ich? Vom Sehen? Mit Namen? Mit wem habe ich vielleicht schon mal geredet? Wenn wir eine Gemeinde werden wollen, in der die Glieder sich gegenseitig ergänzen, in der wir in Liebe aneinander Anteil nehmen, dann müssen wir hier bei uns beginnen. Vielleicht sind Sie ja nach dem Gottesdienst mal ganz mutig und gehen einfach mal auf jemanden zu, mit dem Sie noch nie geredet haben und wechseln ein paar Worte. Das ist nicht einfach, ich weiß, aber wie schön, wenn Sie sich dann demnächst mal wieder treffen und nun wissen: das ist Frau und dann den Namen sagen können und die wohnt da und da. Und dann gehen Sie vielleicht beim nächsten Mal auf jemanden anderes zu. So, stelle ich mir vor, kann deutlich werden, dass uns die Liebe Christi verbindet. So kann Gemeinde wachsen und so können wir auch neue Talente und Fähigkeiten entdecken zur Bereicherung aller.

Sicher, eine Idealgemeinde wird es wohl nicht geben, wir sind eben Menschen mit Schwächen und Fehlern. Und es wird vielleicht auch immer die eine oder andere Gabe fehlen, aber entdecken können wir sie nur, wenn wir aufeinander zugehen. Dennoch können unsere Gemeinden gastfreundlicher und fürsorglicher sein, wenn wir uns darum bemühen, die Anderen zu sehen.

Vielleicht überlegen Sie ja auch mal, wenn Sie einer Gruppe oder einem Kreis in der Gemeinde angehören, ob Sie nicht mal eine andere Gruppe einladen, um sich kennenzulernen, um vielleicht mal etwas gemeinsam zu machen. Ein kleiner Anfang, der dann dazu führen kann, das nicht mehr alle sagen: Die Bibelstunde, der Altennachmittag oder die Jugendgruppe, sondern dann sind es plötzlich Menschen mit Namen, Gesichtern und Fähigkeiten, die wie wir auch Gemeinde Jesu Christi sind. Dann ist es vielleicht auch einfacher, Aufgaben zu verteilen oder Hilfe anzunehmen und so ein Leib mit vielen Gliedern zu werden.

Amen

Liedvorschläge:

66, 1.7-8 Jesus ist kommen
5, 1-5 Gottes Sohn ist kommen
398 In dir ist Freude
70, 1-3.4 Wie schön leuchtet der Morgenstern
67, 1-4 Herr Christ, der einig Gotts Sohn

Angelika Überrück
Pastorin
Jakob-Kaiser-Str. 14
21337 Lüneburg
Tel.: 04131/852731
Email: RUeberrueck@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)