Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Neujahr, 1. Januar 2004
Predigt übe
r Markus 13,31, verfaßt von Martin Hein
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Predigt über die Jahreslosung (Mk 13,31 )

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

Das alte Jahr gehört nun endgültig der Vergangenheit an, liebe Gemeinde. Seit wenigen Stunden schreiben wir 2004. Hinter uns liegt der Silvesterabend. Ausgelassen und fröhlich haben wir den Jahreswechsel gefeiert, oder aber allein für uns selbst in einer Mischung aus Sentimentalität und Traurigkeit. Erinnern Sie sich noch an die Wünsche, mit denen Sie zum Jahresbeginn 2003 gestartet sind? Das liegt schon weit zurück. Manches ist in den vergangenen Monaten in Erfüllung gegangen; anderes nicht. Und vieles, was in unser Leben getreten ist, konnten wir uns vor einem Jahr überhaupt nicht vorstellen oder es gar planen. Erstens kommt es anders, sagt die abgeklärte Volksweisheit, und zweitens, als man denkt. Hoffentlich hat bei alledem das Gute im Leben überwogen!

Wie immer die eigene Bilanz ausfallen mag – jetzt ist das neue Jahr Wirklichkeit. Und wahrscheinlich haben wir uns trotz aller Erfahrung im Umgang mit Jahreswechseln nicht entmutigen lassen, unsere Hoffnungen für die vor uns liegende Zeit zum Ausdruck zu bringen: Glück und Gesundheit vor allem, erfüllende Begegnungen mit anderen Menschen, Frieden in der Welt.

Nicht alles wird sich vollkommen ändern – trotz der gesetzlichen Neuregelungen, die heute Nacht in Kraft getreten sind. Jedes Jahr baut viel stärker auf dem vorangehenden auf, als man meine sollte, wenn wir vom „Jahreswechsel“ sprechen. Die neuen Möglichkeiten, auf die wir uns einstellen, spielen sich meist in eher engen Grenzen ab. Aber das heißt ja nicht, daß es überhaupt keine Veränderung mehr gäbe. Alles Leben ist dem beständigen Wandel unterworfen – weil es Leben ist.

Allerdings lassen sich die Schattenseiten am Beginn des neuen Jahres keineswegs leugnen: Schauen wir etwa in die Weltpolitik, dann wird es nach menschlichem Ermessen kein besonders ruhiges Jahr sein, das vor uns liegt. Die Angst vor Terroranschlägen ist unvermindert hoch; die Gewalt im Irak hat nicht ab-, sondern zugenommen; eine gerechter Friede in Israel und Palästina scheint außerhalb aller realistischen Vorstellungen zu liegen. Sicherheit und Frieden sind äußerst zerbrechlich. Und wer in den vergangenen Tagen die schrecklichen Bilder vom Erdbeben im Iran hat auf sich wirken lassen, könnte schier mutlos werden. Wir leben bei uns in Deutschland, was die Politik, aber auch die Natur angeht, in weitgehend stabilen Verhältnissen. Aber eine Bestandsgarantie haben wir dafür nicht.

So verbindet sich mit unserer Hoffnung auf die neuen Möglichkeiten des Jahres 2004 die Sehnsucht nach dem, was uns mitten in aller Unsicherheit und allen Umwälzungen Halt verleiht. Worauf können wir uns eigentlich felsenfest verlassen, was ist nicht dem ständigen Wandel preisgegeben? So lauten die Fragen, die uns beschäftigen. Denn ohne Verläßlichkeit droht alles ins Wanken zu geraten – nicht nur die Welt, sondern vor allem wir selbst.

Um uns auf den entscheidenden Fixpunkt hinzuweisen und uns Mut zu machen, von hier aus das Leben zu wagen, steht am Beginn des Jahres 2004 eine starke Jahreslosung. Sie stammt aus dem Markusevangelium und lautet:

„Jesus Christus spricht: Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen.“ (Mk 13,31)

Ich gestehe, liebe Gemeinde: Das klingt unvorstellbar! Das reizt gleich zum Widerspruch. Wir haben während des vergangenen Jahrhunderts schmerzlich lernen müssen, was es bedeutet, daß Himmel und Erde aus den Fugen geraten können. Frühere Generationen konnten sich das nur in endzeitlichen Schreckensbilder fern der eigenen Realität ausmalen. Das Ende der Welt ist inzwischen längst eine denkbare Folge wissenschaftlicher Forschung und militärischer Aufrüstung geworden. In den Arsenalen der Menschheit lagert die Fähigkeit dazu! „Himmel und Erde werden vergehen ...“ – das sagt sich so leicht und meint doch die schrecklichste Dimension, die wir uns denken können: das Ende allen Lebens.

Und dieser größten und letzten anzunehmenden Veränderung, der möglichen Auflösung unserer Welt ins Nichts, setzt Jesus das Einzige entgegen, das dennoch unvergänglich sein soll: „Meine Worte aber werden nicht vergehen.“ Größer könnte der Gegensatz zwischen Vergehen und Bestehen nicht sein. Nimmt Jesus da, mit Verlaub gesagt, den Mund nicht doch zu voll? Kann es die Wahrheit seiner Worte – auf die Spitze getrieben – sogar mit der Vergänglichkeit der Welt aufnehmen und ihr standhalten?

Ja, sie kann es. Das ist der Kern unseres Glaubens. Denn Jesus weist uns in allem, was er geredet und getan hat, auf eine Wirklichkeit, die größer und höher ist und weiter reicht als die Begrenzungen der Schöpfung: auf Gott selbst. Jesu Worte verbürgen sich für den, dem allein wir vertrauen sollen und auf den wir uns bei allem, was geschieht, verlassen können – selbst wenn es in uns oder um uns her zu schwanken beginnt und bisherige Sicherungen ihre Stärke verlieren. Jedes Wort, das Jesus gesagt hat, stellt uns unmittelbar vor Gott. Und nur von Gott her können wir es wagen, ohne Angst oder Verzweiflung auf die Flüchtigkeit der Jahre, des eigenen Lebens oder auch der Welt zu blicken.

Um uns das zu ermöglichen, sind Jesu Worte zu allererst Worte der Vergebung : Was uns von Gott und anderen Menschen trennt, wird durch sie aufgehoben und beseitigt. Wir unterliegen nicht mehr dem unheimlichen Zwang, uns gegen Gott auflehnen zu wollen und um jeden Preis das Leben nach unseren eigenen Maßstäben gegen andere durchsetzen zu wollen. Vielleicht machen wir mittlerweile in der evangelischen Kirche viel zu wenige konkrete Erfahrungen damit, welche hilfreiche, mutmachende, lebensspendende Kraft aus dem Zuspruch der Vergebung unserer Schuld erwächst. Es kommt doch nicht von ungefähr, daß Jesus den Menschen, bevor er sie heilte, die Sünde vergab! Das Verhältnis zu Gott wird dadurch heil; wir werden wieder zu dem, wie Gott uns gewollt hat: zu seinen Kindern. Von Gott geliebt zu sein trotz aller eigenen Fehlerhaftigkeit und Unzulänglichkeit, ist das Wichtigste, das Jesus uns zugesagt hat.

Sodann werden Jesu Worte zu Worten der Orientierung für unser Denken und Handeln: Wir können ihnen nicht nur glauben, sondern werden befähigt, sie zu tun. Wie anders sähe unser gesellschaftliches Zusammenleben aus, würde wirklich ernst gemacht mit dem, was Jesus uns als Gottes Willen bezeugt! Ich gestehe zu, daß es in der Tat schwierig ist, etwa mit der Bergpredigt reale Politik zu machen. Aber der pauschale Hinweis darauf, dies sei schlechterdings unmöglich und weltfremd, muß uns doch nicht von vornherein davon entbinden, uns im Geist der Bergpredigt für Frieden und Gerechtigkeit, für Aussöhnung und Vertrauen zwischen Einzelnen oder Völkern einzusetzen! Das ist aussichtsreicher und verheißungsvoller, als wir meinen! Während es heute scheint, als sei alles dem völligen Belieben anheimgestellt und als könnten alle machen, was sie wollen – Hauptsache, man gehört zu den sogenannten Gewinnern –, verweist Jesus auf zuerst auf Gott. Von ihm her ergibt sich ein unverrückbarer, stets verläßlicher Maßstab für unser eigenes Verhalten: Gott sollen wir über alles lieben, und daraus folgt, daß wir auch unsere Nächsten lieben können wie uns selbst. Ich bin weiterhin davon überzeugt, daß in den einfachen Regeln, die Jesus für das Gelingen des menschlichen Miteinanders nennt, ein starkes, lebensdienliches Potential steckt, das wir um unser aller Zukunft entdecken und entfalten sollten.

Schließlich aber sind Jesu Worte Verheißungen ewigen Lebens : Sie erschöpfen sich nicht in dieser Welt und gehen nicht darin auf. In ihnen liegt ein Überschuß an Hoffnung, die unsere engen Grenzen von Raum und Zeit überschreitet. Weil Gott allein ewig ist, haben alle Worte, die uns dieser Ewigkeit gewiß machen, unverbrüchlichen Bestand. Unser Leben, so beglückend es auch sein mag, ist befristet. Jeder Jahreswechsel, aber auch jeder Abschied macht uns das deutlich. Selbst die Welt, die uns umgibt und an deren Schönheit wir uns freuen, ist nicht das Letzte und Bleibende. Wer das begriffen hat und sich auf Jesu Zusage verläßt, daß uns niemand, auch nicht der Tod, aus seiner Hand reißen kann, gewinnt eine unendliche Freiheit und ein tiefe Gelassenheit im Umgang mit der Zeit und allem Wandel unseres Lebens. Jochen Klepper hat diese Hoffnung ausdrucksstark in Worte gefaßt: „Der du allein der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.“

Diese Freiheit und Gelassenheit angesichts aller Unbeständigkeit der Welt und diese Gewißheit und Fröhlichkeit angesichts der bleibenden Liebe Gottes wünsche ich uns allen. „Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen“, sagt Jesus. Darauf können wir uns wirklich verlassen. Dann wird es, komme was mag, ein gesegnetes Jahr werden. Amen.

Und der Friede Gottes, der alles menschliche Begreifen übersteigt, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben.

Bischof Dr. Martin Hein, Kassel
e-mail: bischof@ekkw.de

 


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