Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Neujahr, 1. Januar 2004
Predigt übe
r Psalm 90 und Matthäus 6, 5-13, verfaßt von Erik Høegh-Andersen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Ein Tag und tausend Jahre

Wieder ist ein Jahreswechsel vollzogen. Das gibt Anlaß, zurückzudenken, und nach vorn zu denken. Vor uns haben wir noch einen Tag, jedenfalls einen halben Tag, ja ein Jahr, vielleicht viele Jahre, und unsere Nachkommen haben vielleicht hunderte, vielleicht tausende von Jahren.

Ein Tag, wo wir hier sind mit all dem, was das an Möglichkeiten enthält, Erfahrungen, Aufgaben und Ansprüchen - und dann tausend Jahre. Das Merkwürdige ist ja, daß die vielen Jahre verblassen in einer großen, luftigen, unüberschaubaren Perspektive, während der heutige Tag uns anspricht, etwas von uns will, uns bevorsteht - bezaubernd und groß. Ja als der Psalmist vor vielen Jahren aufzählen wollte, was unsere Zeiten waren im Vergleich zur Ewigkeit Gottes, dann mußte er sagen, daß ein ganzes Menschenleben nur ganz wenig bedeutet: Es ist "wie ein Gras, das am Morgen noch sproßt, das am Morgen blüht und sproßt, und des Abends welkt und verdorrt". Ja tausend Jahre sind vor Gott "wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache", unser Leben "fähret schnell dahin, als flögen wir davon", und "was daran köstlich scheint, ist nur vergebliche Mühe".

Also: Die große Perspektive schrumpft ein, wird zu nichts, die einzelnen Tage aber öffnen sich und werden wichtiger als alles andere. "Herr, lehre uns, unsere Tage zu zählen, auf daß wir klug werden", heißt es deshalb (nach der dänischen Übersetzung). Der Psalmist weiß, daß es die einzelnen Tage sind, die einem Leben seinen unverlierbaren Wert geben. Er weiß, wie wichtig es ist, daß wir sie uns merken, sie annehmen, damit sie nicht nur an uns vorbeigleiten, als seien sie nichts.

Herr, lehre uns, unsere Tage zu zählen! Das ist natürlich keine Aufforderung, rein numerisch die Tage zu zählen. Das ist eine Bitte, daß wir unsere Augen öffnen mögen und jeden einzelnen Tag in uns aufnehmen sollen. Da ist Klugheit zu holen; dort geschieht etwas Wunderbares; dort begegnet uns die Güte Gottes jeden Morgen, wenn wir einen Tag beginnen.

Es ist also einerseits so, daß die Tage, die Jahre, die Jahrtausende verschwinden und zu nichts werden, wie Tropfen im Meer der Ewigkeit. Andererseits hat jeder Tag seinen unverlierbaren Wert, einen grenzenlosen Reichtum, eine bodenlose Freude. Und wenn wir das Neue Testament aufschlagen, nämlich den 2. Petrusbrief (3,8), dann wird diese Doppelheit in einer fast paradoxen Formulierung ausgesprochen: " Ein Tag vor dem Herren ist wie tausend Jahre" und (ganz wie im Alten Testament) "tausend Jahre wie ein Tag".

Ein Tag ist wie tausend Jahre - das ist ein phantastischer Gedanke. In den Augen Gottes ist ein einziger Tag, so kurz er auch sein mag, so voll von Möglichkeiten, von Nähe und Leben, ewigem Leben, daß er wie tausend Jahre ist. Ja, jeder Tag enthält alles in sich, was erforderlich ist, um das Leben zu kennen und den Reichtum Gottes in ihm.

Das weiß man zuweilen, aber vielleicht am meisten, wenn man daran denkt, daß es eine Grenze gibt, daß es einmal vorbei ist. Das wissen wir vielleicht am besten, wenn wir überrascht und bewegt werden und der Tag ganz anders wird als wir uns das vorgestellt und gedacht hatten.

Die Ewigkeit und ein Tag

Eine der schönsten Erlebnisse des vergangenen Jahres war für mich der Film des griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos: "Die Ewigkeit und ein Tag". Das ist ein Film mit träumenden, magisch strömenden Bildern, die sich wie Wellen bewegen aus einem ewig wogenden Meer zu dem, was im Leben der Menschen geschieht. Der Film handelt von einem Schriftsteller, der am nächsten Tag in ein Krankenhaus muß und nicht damit rechnet, daß er da wieder lebendig herauskommt.

Der letzte Tag ist somit ein Tag des Abschieds, an dem er zurückdenkt an das Leben, in dem er nie richtig gegenwärtig war. Wo die Blicke der anderen ihm entgegenleuchteten, wie sich seine Frau ihm in großer Liebe nähern wollte, da wich er zurück, entzog sich und gab sich nie ganz selbst. Am letzten Tag will er nur ganz still sein Leben abwickeln. Und dann führt ihn dieser Tag zufällig auf eine Reise und hinein in das Leben eines Menschen, der vorher nicht dagewesen war.

Er trifft auf einen elternlosen albanischen Jungen, einen Flüchtling, und er kann ihn nicht wieder verlassen. Als der Junge Hilfe braucht gegen die griechische Polizei und die albanische Mafia, die ihn verkaufen will, sieht es der alternde Schriftsteller als seine Aufgabe, den Jungen nach Hause zu seiner Familie in Albanien zu bringen.

An diesem letzten Tag flieht er nicht - sondern eine zufällige Begegnung soll nun sein Leben besiegeln. So viele Möglichkeiten hat er nie ergriffen und benutzt, wenn er zurückschaut, aber an diesem Tag ergibt er sich. In der Begegnung mit dem Jungen findet er endlich das entschwundene Leben, das Leben der Ewigkeit.

"Die Ewigkeit und ein Tag", heißt der Film. Einer der griechischen Kirchenväter hat gesagt, daß die "Zeit wie eine Leiter ist, die die Ewigkeit aufstellt. Eine Leiter, die der ewige Gott mir dort zur Verfügung stellt, wo ich bin, auf meinem Niveau. Aber es ist nicht so, daß ich sagen kann, ich bin nun so und so weit auf der Leiter gekommen. Denn jeden Tag stehe ich am Fuße der Leiter".

Das bedeutet: Jeden Tag befinde ich mich am Beginn der Ewigkeit, jeden Tag will Gott etwas von mir, und ich stehe an der Schwelle zu seinem Reich.

Oft aber, das wissen wir nur allzu gut, sind wir blind und sehen gar nichts. Oft sind wir so mit vielen Vorhaben und Aufgaben beschäftigt, daß wir eigentlich gar nicht richtig verstehen, daß mir dieser Tag begegnet, wunderbar, mit etwas, was ich mir nicht gedacht hatte. Und offen lassen wir uns drauf nicht wirklich ein, wenn es wirklich gilt, treten wir einen Schritt zurück, vielleicht weil wir uns nicht bewegen lassen wollen und nicht hingeführt werden wollen, wo wir noch nie waren. Und eines Tages sehen wir vielleicht, daß uns das Entscheidende entgangen ist. Wir haben uns herausgehalten, uns nicht hingegeben, wir haben das bewegende Leben der Ewigkeit nicht ergriffen.

Und deshalb müssen wir beten: Herr lehre uns, unsere Tage zu zählen, ja laß jeden Tag und ergreifen. Ob der Tag finster ist oder hell, ob er schwer ist und ernst oder ob er uns mit all seiner Wonne emporhebt.

Vaterunser

Aber wenn das möglich sein soll, erfordert das eine ganz bestimmte Einstellung in uns. Das erfordert Offenheit, Demut und Mut, so daß unsere alten Gewohnheiten und alle unsere Pläne und Vorhaben nicht dem im Wege stehen, was uns von einem auf den anderen Tag begegnet

Und diese Einstellung, dieser Zugang zu den einzelnen Tagen, zu einem neuen Jahr, das finden wir auch am schönsten und klarsten ausgedrückt in dem Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, das unverwüstlich ist und sich im täglichen Gebrauch und bei besonderen Situationen über fast zweitausend Jahre bewährt hat.

Es geht nicht um viele Worte, sagt Jesus. Es geht um die Einstellung, die im Inneren des Herzens zu finden ist. Euer Vater im Himmel weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn darum bittet. Und dann kommt das Vaterunser, das Gebet, das all das zum Ausdruck bringt, was notwendig ist, um als Mensch sein Leben zu leben.

Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden.

Im Vaterunser verschiebt sich die Perspektive weg von uns selbst hin zu Gott oder zu dem, was kommen soll. Im Vaterunser öffnet sich der Horizont. Wir blicken nicht mehr in unsere eigenen, oft selbstsüchtigen Wünsche und Träume, sondern wir verstehen, daß die Tage, denen wir entgegengehen, Gott gehören, und daß wir in ihnen wirken und sein sollen. Was die Tage bringen werden, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß sie nicht leer sind. Sondern daß Gott jeden Tag etwas von uns will. Jeden Tag stehen wir an der Schwelle zu seinem Reich. Und ein einziger Tag ist ja in den Augen Gottes, mit all dem, was er enthält, wie tausend Jahre. Im Vaterunser aber übertragen wir es Gott, uns sehen zu lassen, was er will, uns die Wirklichkeit ergreifen zu lassen, in der wir nach seinem Willen sein sollen.

Und dann beten wir:

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Heute gilt es. Wir können noch so weit nach vorne denken, und dann sollen wir auch in gewissen Zusammenhängen. Heute aber spricht Gott zu mir und fordert mich. Heute schenkt uns Gott das, was notwendig ist, damit wir unser Leben leben können.

Und vergib uns unsere Schuld.

Eine Bitte darum, daß uns all das, was wir nicht getan haben, all das was wir nicht gewagt haben, all das Böse, das wir getan haben, daß all dies uns nicht bindet und unfrei macht, uns nicht daran hindert, in die Welt hineinzutreten, die vor uns liegt, offen und neu.

Wie auch wie vergeben unsern Schuldigern.

Das bedeutet, daß wir auch einander frei machen, daß wir einander neu sehen und begegnen.

Und erlöse uns von dem Bösen.

Wir wissen, daß das Böse uns heimsuchen kann, daß wir eingeschlossen werden im bösen und bitteren Leben des Hasses und des Neides. Herr erlöse uns von allem, was böse ist. Damit für uns und andere sichtbar wird: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Das ist der ewige, offene Horizont im Vaterunser. Das ist der Eingang, das Portal, das in das neue Jahr hineinführt. Ja in jeden neuen Tag, vor dem wir morgen stehen. Das Vaterunser stellt uns in das rechte Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen uns und unserem himmlischen Vater, der uns jeden Tag das tägliche Brot schenkt.

Wir wenden uns dem Gott des Himmels zu, um alles zu empfangen, was ihm gehört. Darin liegt eine tiefe und unerklärliche Geborgenheit trotz aller Sorge und Not in der Welt. Ja, es ist als wäre der Himmel Gottes schon um uns, auch wenn unser Dasein noch so irdisch und schwierig ist.

Wir wissen nicht, was heute, morgen und in den nächsten vielen Jahren auf uns zukommt. Aber wir wissen: Wenn wir eine Zukunft haben, dann begegnet uns Gott in ihr. Gott, der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist, und der bei uns ist mit dem Leben der Ewigkeit jeden einzigen Tag. Amen.

Pfarrer Erik Høegh-Andersen
Prins Valdemarsvej 40
DK-2820 Gentofte
Tel. ++ 45 - 39 65 43 87
e.mail: erha@km.dk

 

 


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