Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Neujahr, 1. Januar 2004
Predigt übe
r Jakobus 4, 13-15, verfaßt von Friedrich Mildenberger
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Jakobus 4,13-15: Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen -, und wißt nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kurze Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun. Nun aber rühmt ihr euch in eurem Übermut. All solches Rühmen ist böse.

Der Jahreswechsel ist eine gute Gelegenheit, innezuhalten und nachzudenken. Gerade die Gottesdienste zum Altjahrabend und zum Neujahr dienen ja solchem Innehalten und Nachdenken. Was ist mit unserer Zeit? Wie gehen wir mit ihr um? Vergeuden wir sie unbedacht, oder sind wir gerade im Blick auf die Zeit besonders sorgfältig, auch in unserem Vorblick auf das kommende Jahr? Brauchen wir also wirklich die harsche Kritik des Jakobus: “Nun aber rühmt ihr euch in eurem Übermut. All solches Rühmen ist böse” ? Es ist doch nicht unsere Selbstherrlichkeit, die uns nötigt, zu planen. Weil wir mit anderen Menschen zusammen leben, weil wir nicht allein sind, wenn wir etwas vorhaben, weil wir aufeinander angewiesen sind, darum müssen wir unsere Zeit einteilen. Es geht da nicht um ein selbstherrliches Verfügen, wie bei jenen Handelsherren, die Jakobus anscheinend im Auge hat. Die haben ihr Jahr samt dem Ertrag, den es ihnen bringen wird, schon fest in der Tasche. Wir haben zwar auch schon längst den neuen Terminkalender, und da ist eine Menge von Daten eingetragen: Geschäftliches, der geplante Urlaub, Besuche, die wir empfangen und die wir machen wollen, eine Freizeit vielleicht, die Konfirmation des Patenkindes: alles wichtige Termine, die wir im neuen Jahr wahrnehmen müssen. Anders geht es nun einmal nicht.

Dagegen ist gewiß nichts zu sagen. Übermut ist das sicher nicht, sondern eher die blanke Notwendigkeit. Weil wir miteinander leben, müssen wir miteinander ausmachen, was wir dann auch miteinander tun wollen. Zeit ist ja nicht einfach meine persönliche Zeit. Für die werde ich mir klugerweise auch einen Raum freihalten in dem, was das neue Jahr bringen soll. Aber vor allem ist da doch die gemeinsame Zeit. Und die braucht nun einmal die rechtzeitige Verabredung. Sonst kommen wir nicht beizeiten zusammen zu dem, was wir doch nur gemeinsam tun können. Und dann werden wir die Ziele gewiß nicht erreichen, die wir uns auch gemeinsam vorgesetzt haben.

Was soll also dieser Vorbehalt, die Klausel des Jakobus: “So Gott will und wir leben” ? Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Stillschweigend gilt dieser Vorbehalt bei allen unseren Verabredungen. Wenn da “höhere Gewalt” dazwischen kommt, kann man niemand vorwerfen, daß er seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei. Und auch wenn wir dabei bleiben können, haben wir es nicht in der Hand, daß das gemeinsame Vorhaben wirklich gelingt. Glück gehört dazu. Und wer ein wenig abergläubig ist, oder auch bloß gedankenlos nachmacht, was er bei anderen gesehen hat, der kann dann noch dreimal auf Holz klopfen: “Unberufen! Toi toi toi.”

Wenn es nur um diese stillschweigenden Selbstverständlichkeiten ginge, dann brauchten wir uns nicht lange mit diesen Worten des Jakobus zu befassen. All unser Planen, das persönliche wie das gemeinsame, steht unter dem Vorbehalt, daß da nichts dazwischen kommt. Was so dazwischen kommen kann, das brauche ich nicht lange auszuführen. Persönliche Probleme können das genauso sein wie Geschehnisse, die uns alle miteinander betreffen. Wenn ich krank werde, oder ein Todesfall in meinem nächsten Umkreis bewältigt werden muß, dann wird anderes zurückzustehen haben. Wenn eine Naturkatastrophe uns alle betrifft, oder ein Terroranschlag die Gemeinschaft erschüttert, dann kann das gemeinsames Handeln unmöglich machen oder wenigstens die Ziele, die wir uns gesetzt haben, in Frage stellen. Das haben wir an anderen und an uns selbst zur Genüge erfahren. Und können darum nur hoffen und wünschen, daß uns das im kommenden Jahr möglichst erspart bleibt. Darum wünschen wir uns ja heute gegenseitig “ein gutes neues Jahr”.

Wäre es nur diese Selbstverständlichkeit, an die uns die Worte des Jakobus erinnern wollen, dann brauchten wir uns also nicht lange bei ihnen aufzuhalten. Doch wenn wir genauer zusehen, merken wir: Was uns da gesagt wird, das nötigt uns zu einem viel grundlegenderen Bedenken unseres Umgangs mit der Zeit, als es jener selbstverständliche Vorbehalt ist, der die Möglichkeit höherer Gewalt in unser Planen einbezieht. Wir sind es gewohnt, solche höhere Gewalt als das zu sehen, was uns dazwischen kommen kann; dazwischen kommen bei der Ausführung unserer Pläne, auch für das kommende Jahr. In solcher Gewohnheit ist die Zeit dieses kommenden Jahres so etwas wie ein leerer Terminkalender, den wir mit unseren Vorhaben nach und nach füllen können - wenn uns nichts dazwischen kommt. Was uns Jakobus klar machen will, ist aber dies: Ihr selbst seid doch nur dazwischen gekommen; nur kurze Zeit seid ihr da, um dann wieder weg zu gehen. “Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet.”

Das nötigt uns, wenn wir es denn ernst nehmen wollen, zu einer grundlegenden Revision unserer gängigen Anschauung. Danach haben wir Zeit; unser Terminkalender, den wir mit uns herumtragen, ist der Repräsentant dieser Zeit. Fragt mich jemand, ob ich zu einem bestimmten Zeitpunkt mich mit ihm verabreden kann, dann sage ich: Einen Moment, ich muß erst in meinem Kalender nachschauen. Wenn ich nicht schon einen Termin habe, werde ich gerne kommen. Aber das ist, wenn wir Jakobus folgen, nur eine sehr oberflächliche Anschauung. Sehen wir genauer zu, dann muß sich unser Verhältnis zur Zeit umkehren. Sie hat uns, die Zeit. Und wir selbst sind in dieser Zeit nur dieser kurze Zwischenfall, ein Rauch, ein Nebelwölkchen, von dem man absehen kann, wann es die aufsteigende Sonne verschwinden läßt. Es ist also nicht so, daß wir selbst der feste Punkt sind, von dem aus dann die verfließende Zeit wahrgenommen und durch unser Tun gefüllt werden kann. Diese verfließende Zeit nimmt uns mit und läßt uns dann irgendwann - nicht lange wird das dauern - zurück. Wir können uns zwar auch so denken: Ich überblicke die kommende Zeit und kann sie nach meinem Belieben und meinen Bedürfnissen füllen: Morgen bin ich dort, und übermorgen werde ich das tun, und in einem Jahr werde ich es geschafft haben, wie die Handelsherren des Jakobus. In solchem Denken ist die Zeit außer uns und wir verfügen über sie wie über unseren Terminkalender. Aber in Wahrheit ist es die Zeit, die über uns verfügt. Als leibhafte Menschen sind wir eingebunden in diese Zeit. Mit jedem Atemzug, mit jedem Pulsschlag können wir es fühlen, wie uns die Zeit mitnimmt.

Das ist eine Erfahrung, die Jede und Jeder machen kann. Unbestreitbar ist das, daß uns als leibhafte Menschen die Zeit mitnimmt. Und gerade so werden wir nicht nur bestimmt, sondern auch verändert durch diese Zeit. Wir brauchen uns das nicht erst einzureden; daß es so ist, das sehen wir. Und noch so verlockende Antiaging-Programme können das nicht zudecken. Auch das gehört zu den Denkanstößen des Jahreswechsels, diese Erfahrung ins Auge zu fassen. Jakobus hilft uns dazu, wenn er auf das Rauchwölkchen hinzeigt, das wir sind. Nicht ich, der ich mich als einen denke, der Zeit hat und über diese Zeit verfügt, bin der feste Punkt, von dem aus die Zeit in ihrem Verfließen wahrgenommen werden kann. Ich werde mitgenommen, und die Zeit bestimmt über mich und bringt mich nicht nur den Zielen entgegen, die ich mir gesetzt habe - wenn denn nichts dazwischen kommt. Sie bringt mich auch dem Zeitpunkt näher und näher, wo meine Zeit ihr Ende findet.

Der Zeit hat im vollen Sinne des Wortes, das ist Gott selbst. Er ist der Herr der Zeit, der diese Zeit füllt mit dem, was er will und schafft. Darum die Mahnung: “Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.” Unser Leben, eingebunden in die verfließende Zeit, ist bestimmt durch Gottes Willen, der diesem Leben Anfang, Verlauf und Ende gesetzt hat, wie das sein Wille ist. Oberflächlich geredet wäre es, wenn ich sagte: “Ich führe mein Leben so, wie ich das für richtig halte. Ich habe meinen Lebensplan bis hin zur Alterssicherung ausgearbeitet, und wenn mir nichts dazwischen kommt - toi toi toi - wird es auch so laufen.” Vielmehr sollte ich sagen: “Mein Leben wird geführt durch den Herrn, der mir dieses Leben gegeben hat, der es bestimmt und ihm nach seinem gnädigen Willen ein Ende setzen wird.”

Daß es so ist, erfahren wir auf Schritt und Tritt. Ich habe mir nicht ausgesucht, daß ich überhaupt lebe. Ich habe mir meine Eltern nicht ausgesucht und nicht den Ort und die Zeit meiner Geburt. Mein Lebensweg wurde sicher auch immer wieder durch meine Entschlüsse und Entscheidungen bestimmt. Aber die mußten sich doch zwangsläufig nach den Umständen richten, in denen ich mich vorgefunden habe. Und diese Umstände habe nicht ich mir ausgedacht und gestaltet. Sondern seit ich mich selbst als lebendigen Menschen wahrgenommen habe, bin ich in diesen ganz bestimmten Umständen gewesen und bin von ihnen mitgenommen worden. Gute Zeiten waren das und schlimme Zeiten, Zeiten des Glücks wie Zeiten des Schmerzes. Manchmal ist es wie von selbst gelaufen. Schritt für Schritt konnte ich weiter kommen, ohne daß das Mühe machte. Ich habe es kaum bemerkt. Aber dann habe ich mich auch gestoßen, bin gestolpert, bin gefallen. Und konnte auch wieder aufstehen und weiter machen. Ein Glück ist es, daß ich nicht allein gehen mußte, daß liebe Menschen mich begleitet, mir geholfen, mich gestützt haben. War das mein Wille, mein Entschluß, daß es gerade diese und diese Menschen gewesen sind? Sicher nicht; sie sind mir begegnet. Ich bin dankbar, daß ich mit ihnen zusammengeführt wurde, eine kleinere oder auch eine große Strecke meines Weges in der Zeit mit ihnen teilen kann. Töricht wäre es und bloße Einbildung, wenn ich sagte: “So habe ich es gewollt und darum ist es auch so gelaufen.” Das wäre jenes übermütige Rühmen, das Jakobus an seinen Handelsherren tadelt, die er uns als ein Beispiel dafür vorstellt, wie wir es gewiß nicht machen sollten. Nein! Daß es so gekommen ist, das verdanke ich dem, der mein Leben geführt hat in all den Zeiten, die ich erlebte, an die ich mich erinnere, oder die ich vergessen und vielleicht sogar verdrängt habe, weil ich da nicht die Rolle gespielt habe, in der ich mich gerne sehe. Auch da war er dabei, und nichts ist vor ihm verborgen.

“Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.” Was für die Zeit bisher gilt, das abgelaufene Jahr 2003 und all die Jahre vorher, an die ich mich erinnere, das gilt auch für das kommende Jahr und all die Jahre, die ihm folgen werden: Zeit ist das, die Gott gewollt hat, auch für mich gewollt hat. Zeit wird es sein, die Gott will, auch für mich will, solange es ihm gefällt, mein Leben zu erhalten und zu führen. Weil ich das erfahren habe, ist dann auch klar und eigentlich selbstverständlich: Dies oder das, was wir uns vornehmen, für heute und morgen und dieses kommende Jahr 2004, das können dann nicht einfach beliebige Ziele und Vorhaben sein. Ich werde mich natürlich bereden mit denen, die mir nahe stehen, mit denen, die mit dabei sein sollen bei dem, was ich vorhabe. Aber erst recht werde ich mich mit dem bereden, der mein Leben führt. Wie ich ihm danken kann für die lange Strecke Weges, die er mich bis hierher gebracht hat, so werde ich ihn bitten für den Weg, der vor mir liegt. Wenn es ein gutes neues Jahr werden soll, dieses Jahr 2004, das vor uns liegt, dann doch so, daß dies oder das, was wir tun werden, nach seinem Willen getan wird. Das heißt dann nicht nur, daß wir uns gewiß nicht vorsetzen wollen, was er verabscheut und verbietet. Es heißt auch, daß wir uns gerne auf das einlassen, was von ihm kommt.

Als Buben haben wir in dem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbrachte, “Neujahr” gewünscht. Wir haben mit unseren Käpseles-Pistolen vor der Haustür oder auf der Treppe geknallt und dann den Leuten, die herauskamen, gesagt : “Ich wünsch Dir ein gutes Neues Jahr, Gesundheit, den Frieden und den Heiligen Geist.” Dafür haben wir ein paar Süßigkeiten oder auch Pfennige gekriegt. Verstanden habe ich diesen Wunsch damals sicher nicht. Aber die Worte sind mir geblieben. “Wenn der Herr will und wir leben, werden wir dies oder das tun”: das ist eine Umschreibung für diesen Wunsch. Gesundheit und Frieden sind die persönliche und die gemeinsame Voraussetzung für all das, was wir uns vornehmen können. Die Gabe des Heiligen Geistes aber soll das, was da als das Neue Jahr kommt, auf Gott beziehen und von ihm her durchsichtig machen. Sicher ist das dann noch sehr allgemein geredet; das tut Jakobus ja auch. Aber wenn uns Gottes Geist das erhellt, was auf uns zukommt, dann wird er uns dieses kommende Jahr von dem her sehen lassen, der alle Zeit bestimmt. Wir zählen unsere Jahre ja immer noch nach Christi Geburt, und reden darum auch vom Jahr des Herrn 2004. Soll das nicht nur eine unverbindliche Floskel sein, dann wirft diese Bezeichnung ein Licht auf all das, was dieses Jahr bringt. Allerhand Zeiten und Umstände können wir voraussehen und uns in dem, was wir vorhaben, darauf einstellen. Aber weil auch das kommende Jahr ein Jahr des Herrn ist, gilt da nicht nur der Vorbehalt unseres Planens, daß uns nicht höhere Gewalt dazwischen kommt. Vielmehr wissen wir uns samt der verfließenden Zeit dieses Jahres durch ihn bestimmt, getragen und geführt. Er erleuchte uns durch seinen Geist, daß wir das nicht nur allgemein sagen können, sondern es auch von Zeit zu Zeit erfahren, daß unsere Zeit in seiner Zeit geborgen ist.

Amen

Prof. Dr.Friedrich Mildenberger
Rehweiherstraße 7 91056 Erlangen
eMail: mildenberger-kosbach@t-online.de

 


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