Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Weihnachten, 25. Dezember 2003
Predigt übe
r Titus 3, 4-7, verfaßt von Leo Karrer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Weihnachten — "Als aber Gottes Güte und Menschenfreundlichkeit erschien…"
Überlegungen zu Titus 3,4-7

1. Weihnachten ist nicht schon Heilige Nacht

Im Reigen der grossen Feste nimmt Weihnachten im Laufe des Jahres gefühlsmässig den grössten Raum ein. Auch das Festtagsgeschäft blüht wie sonst wohl kaum. Und wenn in der Adventszeit eher stressige Betriebsamkeit herrscht und kaum Ruhe für den Sinn von Advent (= Ankunft) gefunden wird, dann kann schon die Frage beklemmen, ob Weihnachten inzwischen auch ohne Kirche ganz gut ablaufen würde. Ist nicht schon die Vorbereitungszeit ein Zeichen dafür, dass wir uns ein krankes Bild von Weihnachten aufdrängen lassen? Bestimmen nicht Geschäftigkeit und ein selbstverständlicher Pakt des Schenkens und Beschenktwerdens unsere Stimmung so sehr, dass kaum mehr Zeit und Laune vorhanden sind, sich dem tiefen Sinn von Weihnachten als "geheiligter Nacht" auszuliefern. Und öffnen wir unseren Mitmenschen und vornehmlich den Kindern am Festabend mit dem Füllhorn der Geschenke, Spielsachen und Süssigkeiten auch unsere eigenen Herzen? Viele nehmen schon vorher reissaus vor dem Fest und gehen in Ferien. Man kann auch mit seinem Kopf und seinem Herzen den Sinn und die Botschaft dieses Festes fliehen und davor die Weite suchen. Man kann in der Tat ein üppiges Weihnachten haben, ohne dass Heilige Nacht wird, selbst dann, wenn wir religiöse Lieder singen, fromme und humanitäre Reden bemühen und wieder einmal das religiöse Gefühl an der Mitternachtsmette aufwärmen. Vielleicht ist das ja manchmal schon viel. Aber es findet sich noch nicht, was Weihnachten sagen will.

2. Weihnächtliche Kurzformel des Glaubens: Titus 3,4-7

Die vier Verse aus dem Titusbrief, die die Kirche im Weihachtsgottesdienst verkündet, lauten: "Als aber die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters, erschien, hat er uns gerettet — nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens — durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist. Ihn hat er in reichem Mass über uns ausgegossen durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir durch seine Gnade gerecht gemacht werden und das ewige Leben erben, das wir erhoffen."

Der Verfasser dieses Briefes, wohl ein Bischof, der ganz von Paulus und dessen Lehre geprägt gewesen ist, hatte natürlich keine Ahnung von unserem heutigen Weihnachtsrummel. Die Probleme in den an Paulus orientierten urchristlichen Gemeinden gegen Ende des ersten Jahrhunderts waren ganz anderer Natur: die schon recht deutlich verfassten Gemeinden müssen sich in einer heidnischen Umwelt wehren. So kreisen die Sorgen im Titusbrief um die Einsetzung geeigneter Vorsteher (Bischöfe) und um die Bekämpfung der Irrlehren; es erfolgen Anweisungen für die Männer und Frauen sowie für die Sklaven und Aussagen über die Gnade und ein christliches Leben, insbesondere über die Pflichten der Getauften im sozialen Bereich. Und in diesem Zusammenhang finden wir die Betonung der Gnade, der Güte und der Menschenfreundlichkeit Gottes, die in Jesus Christus erschienen sind. Wir entdecken in diesem Brief sowohl Instruktionen zur Kirchenordnung und Ermahnungen zum Verhalten der Getauften als auch feierlich stilisierte Sätze, die in der Verkündigung und im Gottesdienst zu festen Formeln geronnen sind. Es werden zentrale Glaubenssätze vorgelegt: sie künden vom Retter, vom Heiland. Damit stehen wir mitten im Geheimnis, das an Weihnachten gefeiert wird: "Christ, der Retter, ist da."

Im Titusbrief werden Selbsterlösung und Werkgerechtigkeit ausgeschlossen. Vielmehr beinhaltet Rettung diese tiefgreifende Erneuerung des Menschen im Hl. Geist, radikal wie eine zweite Geburt (Tit 3,5). Und aus der geschenkten Rettung fliesst gleichsam das glaubwürdige Handeln als Getaufter. Der Indikativ des geschehenen Heils wird zum Imperativ christlicher Verhaltensweise.

Dieses Licht der Gnade, der Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, das in Jesus Christus erschienen ist, erhellt nun das Dunkel der Welt. So stehen auch die heutigen Verse aus dem Titusbrief in einem grellen Kontrast zur ehemaligen Aussichtslosigkeit im Unheil (Tit 3,3). Durch das Aufscheinen Gottes in Jesus Christus ist die einschneidende Wende vollzogen zwischen dem dunklen "Einst" und dem hellen "Jetzt". Auch Weihnachten ist ganz erfüllt vom Gedanken des Lichtes im Dunkel.

3. Im Dunkel der Nacht…

Unser Zwiespalt mit Weihnachten liegt nicht nur in der Art und Weise, wie wir dieses Fest einmal pro Jahr begehen. Er hängt viel tiefgründiger mit dem Advent unseres Lebens zusammen, den wir auch ausserhalb der Weihnachtszeit das ganze Jahr hindurch leben und erleben, gestalten und erleiden. Es kann wohl kaum an Weihnachten das plötzlich gelingen und sich schenken, was sonst im Alltag unseres persönlichen Lebens und im menschlichen Miteinander kaum eine Chance erhält. An Weihnachten kann ich nicht mit einem heroischen Gewaltakt dem Ganzen meines Lebens plötzlich wieder punktuell einen tiefen Sinn verschreiben oder die sonstige Langeweile und den Mangel an Geborgenheit überspringen und für einige Stunden "heile Welt" spielen.

Auch in der weiten Welt der grossen Politik können die ideologischen und martialischen Waffen zwar für einige Stunden zum Schweigen gebracht werden, aber Frieden wird dadurch noch nicht gestiftet. Weiss Gott, wir brauchten heute viele Friedenstauben, die den Weg der Menschen und der Völker zueinander finden helfen. Und selbst dann bleiben doch Hunger, Gewalt und Ungerechtigkeiten, Vereinsamung und die Sinn-Krise des heutigen Menschen. — Und wie soll Weihnachten zu einem Zeichen voll Hoffnung werden, wenn es sich nicht auch bewährt für die sozial Benachteiligten, Drogenabhängigen, Neurotiker, Progressiven und Konservativen, die Armen und Kranken, Frustrierten und Müdegewordenen, die bis an den Rand des Lebenswollens gedrückt werden usw.?

Vermag der Stern von Bethlehem, der die Botschaft vom unverhofften und unerwarteten Retter und Heiland ausstrahlt, das Dunkel im Leben vieler Menschen zu erhellen? Wirkt der in Bethlehem verkündete Friede sich auch unter uns Christen und in unseren Kirchen aus? Wenn Friede und Freude Qualitätszeichen einer Heiligen Nacht sein sollen, in der die Botschaft vom Anbruch des Lichtes im Dunkel der Nacht verkündet wird, dann stellt sich die Frage — wie im Titusbrief — ob wir Christen und Christinnen uns von der Strahlkraft dieses Festes anziehen lassen und selber zu glaubwürdigen Zeugen und Zeuginnen seiner Botschaft werden. Wenn man das alles — auch mutig gegenüber dem eigenen Herzen — bedenkt, dann wird es wichtig, bei allem Weihnachtsrummel den Durchbruch zur Tiefe des Festes zu wagen, denn im Dunkel der Nacht beginnt das Licht der Hoffnung zu strahlen: die Güte und die Menschenliebe Gottes, des Retters (Tit 3,4)

4. "… verkünde ich euch eine grosse Freude" (Lk 2,10)

Den Sinn der Heiligen Nacht können wir verfehlen, wenn wir die biblischen Weihnachtsgeschichten nur als blosse Kindheitsberichte historisch oder psychologisch erklären und deuten wollen. Mehr als eine fromme Legende oder Biographie käme nicht heraus. Die Berichte von der Geburt im Dunkel der Nacht wollen vielmehr verkünden und ankündigen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die biblischen Erzählungen von der Geburt Jesu nach Ostern verfasst worden sind. Der Glaube an Jesus als den von Gott in sein Leben aufgenommenen Christus steht am "Anfang", nicht die Nacherzählung einer Geburt. Vom Ostergeschehnis und vom Glauben an den Auferstandenen her erhält die Heilige Nacht ihre Tiefe, weil das Geheimnis, das an Ostern offenbar wurde, schon im Kommen dieses Kindes anwesend ist: schon im Kind Jesus kommt Gott an. Das macht Weihnachten zur Heiligen Nacht.

So wenig das Kreuz Ostern verhindern konnte, so wenig kann die Armseligkeit der Krippe das Geheimnis dieses Kindes kompromittieren: vom ersten Augenblick seines Daseins an ist Gott in ihm am Werk. Schon in seiner Geburt wirkt verborgen, was sich an Ostern dem gläubigen Blick offen erweist: Gott, den Jesus noch in seinem Sterben und in seinem Tod als liebenden Vater fand, kommt in diese Welt und bietet den Menschen seine rettende Liebe an. Im Vertrauen auf das Kind von Bethlehem, im Vertrauen auf das Wort und den Weg, den Jesus gegangen ist, sind Scheitern, Tod und verhärmtes Leiden, sind Nacht und Dunkelheit nicht das letzte Wort, kein Fall in ein bodenloses Nichts.

Die gute Nachricht und die Kunde von der grossen Freude sind nicht abseits unseres konkreten Lebens oder gar nur im sakralen Bereich bedeutsam. Es gibt nicht den weltlichen und den göttlichen Bereich getrennt nebeneinander. Vielmehr bedeutet die Geburt als Ankunft im Dunkel der Nach das Kommen Gottes in diese Welt. Die Welt und die menschliche Wirklichkeit sind gleichsam die Krippe, in die Jesus hineingelegt werden will. Heilige Nacht bedeutet, nicht mehr das Dunkel ist bestimmend, weil Gott und Mensch von nun an zusammengehören. Das macht die gute Nachricht zur Kunde von der grossen Freude, macht jedes Menschen Leben sinnvoll und liebenswert.

5. Heilige Nacht…

Wir sind leicht geneigt, an das Kind von Bethlehem Fragen zu stellen. Wenn wir aber glaubend bekennen, dass sich im Kommen Jesu von Nazaret das Ja Gottes zu uns Menschen vollzog, dann stellt das Kind von Bethlehem uns in Frage.

Vom Kind in Bethlehem her gibt es nur eine Lösung: Weihnachten als Heilige Nacht ernst zu nehmen, das Licht im Dunkel leuchten und erstrahlen zu lassen. Oder etwas nüchtern ausgedrückt: was wir an Weihnachten feiern, sollte "Programm" des ganzen Jahres und Sinn unseres ganzen Lebens sein. Wenn es im Johannes-Prolog heisst: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt", dann stellt diese Aussage ein Plädoyer für das Leben und den Mut zum Lebendigsein dar. Deshalb darf trotz der negativen Bilanz an Elend und Verlassenheit nicht übersehen werden, wieviel Kräfte im Sinn von Weihnachten enthalten sind: Gott ist in Jesus Christus, im Kind von Bethlehem, ein Gott für uns geworden. Wir Christen müssen demnach daran erkennbar werden, dass wir auch Menschen für andere werden, dass wir uns verborgen und offen als Experten für Menschlichkeit und letztlich auch für Lebensfreude erweisen, dass wir uns mit Mut und Solidarität an die Probleme der Menschen heranwagen. — Zwar können wir nicht alle Schatten des Dunkels lösen; aber wir können uns im Dunkel der Nacht Mut und Zuversicht sowie Frieden, Freude und Hoffnung schenken lassen und diese dann selber weitergeben.

Wenn wir uns bei aller Betriebsamkeit des Weihnachtsfestes dem Sinn der Heiligen Nacht, dass Gott uns nahegekommen ist, nicht verschliessen, dann ist unser Weihnachten offen für das Licht und die Botschaft, die die Nacht der Geburt Jesu zur Heiligen Nacht werden lässt. Dann erträgt es den gesellschaftlichen Rahmen als üppiges Fest und als gegenseitiges Schenken und Beschenktwerden. Ja, das Fest gewinnt dadurch seinen Sinn. Erst recht gilt es, "fröhliche Weihnacht" zu wünschen. Die Heilige Nacht wird zum Geschenk und zur Bereicherung, wenn man den unwahrscheinlichen Mut aufbringt, sich dem Sinn und Geheimnis des Kommens Gottes auszuliefern. In diesem Sinn ist der Weihnachtswunsch ein Wunsch für das Leben eines jeden Menschen, auch wenn wir noch im Advent des Lebens stehen. So gesehen kann man gar nicht anders als jedem Menschen getrost frohe Weihnachten zu wünschen.

Prof. Dr. Leo Karrer, Neuchatel, WSchweiz
c/o Bernadette.Schacher@unifr.ch


(zurück zum Seitenanfang)