Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Weihnachten, 24. Dezember 2003
Predigt übe
r Titus 3, 4-8, verfaßt von Jan Hermelink
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Christvesper St. Nicolai, Göttingen
Ablauf und Liturgie des Gottesdienstes

Liebe Gemeinde,

Weihnachten – das ist das Fest der Heimkehr .

Wer in der Fremde studiert oder arbeitet, kehrt nun zurück in die Heimat – seit Tagen ist das auf dem Göttinger Bahnhof zu beobachten.

Und auch wer am gleichen Ort arbeitet – lebt – und liebt,
kehrt Weihnachten zurück:
– endlich kommt die Familie zu ihrem Recht
– oder die alten Freunde, die wir das Jahr über vernachlässigt haben.

Weihnachten ist die Zeit der Heimkehr –
das Fest des Rückzugs, auch des Atemholens.

Atemholen, eine Pause machen, ein heilsamer Rückzug –
das scheint mir in diesem Jahr besonders nötig.
Viele sind erschöpft – nicht nur in der großen Politik:
Monatelanges, nächtelanges Verhandeln in Berlin
scheint nicht viel Fortschritt gebracht zu haben
– oder es ist, wie in Brüssel, sogar gescheitert.
Da tut es gut, erst einmal in die Weihnachtspause zu gehen –
Zeit, auszuspannen, vielleicht auch Zeit, neu nachzudenken.

Viele sind erschöpft, enttäuscht –
auch hier in Göttingen, wie in allen Universitäten:
Die Proteste der letzten Wochen haben einmal nicht viel bewegen können.
Längst hat der Streit um Stellen, um Institute und Studiengänge begonnen.
So mancher von uns hat das Gefühl, sich engagiert zu haben –
bis an den Rand der Kräfte –
und nun scheint alles wirkungslos zu bleiben, ohne Resonanz – umsonst.
Da tut es Not, sich zurückzuziehen –
an den eigenen Schreibtisch, zu den Liebsten, Nächsten.
Da tut es gut, Abstand zu gewinnen,
– vielleicht – zu sich zu kommen.

Weihnachten ist das Fest der Heimkehr, das Fest der Rekreation.
Auch wer Weihnachten mit dem Gottesdienst beginnt,
kehrt vor allem heim:
zu den vertrauten Liedern, den alten Geschichten,
in das je eigenen Bild der Kindheit.
Auch hier sucht man den Abstand, erhofft neuen Atem – zu Recht!

Weihnachten ist das Fest der Heimkehr – und zwar von Anfang an.
In den Weihnachtsgeschichten selbst ist viel von Rückkehr die Rede.
Josef kehrt heim nach Bethlehem, in die Stadt seiner Vorfahren –
nicht freiwillig, gewiss.
Aber der politische Zwang, das Gebot des Kaisers,
dient doch zugleich einem göttlichen Plan :
In der Stadt Davids soll der Retter, der Heiland geboren werden.
Gott selbst kehrt zurück zu den Anfängen, Gott selbst holt neuen Atem,
kommt zurück auf die alte Verheißung:
Aus Bethlehem soll der kommen, der Israel erlösen wird –
und mit Israel die ganze Welt.
Zu den Hirten soll er gehören – wie einst David.

Gott selbst kehrt zurück zur anfänglichen Verheißung:
Wieder, und nun endgültig, soll das Volk im Finstern es hören,
sollen die Erschöpften und Resignierten aufhorchen:
„Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben –
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter ...“

Weihnachten ist das Fest der Heimkehr, der Rückkehr zu den Anfängen, – und darum, nur darum ist Weihnachten auch das Fest der Kindheit.

Wer zurückkehrt nach Hause – erschöpft, resigniert, oder einfach müde –
wer so zurückkehrt, ist empfindlich .

Wer heim kommt, um Atem zu holen,
erwartet die vertrauten Räume, die alten Geschichten –
erhofft vielleicht einen Neuanfang – aber erst einmal keine Neuerungen.

Wer heute in den Gottesdienst kommt, ist ebenfalls empfindlich.
Waren das schon zu viele ungewohnte Lieder?
Waren das heute zu viel unbekannte Texte?

Heute, am Weihnachtsabend, sind wir empfindlich –
wohl auch deswegen, weil wir – ob wir wollen oder nicht –
zurückkehren in die eigene Kinderzeit.

Und das ist nicht allein erholsam, entlastend.
Schöne, leicht und gern erinnerte Kindheitsbilder mischen sich
sogleich mit anderen Bildern:
die Spannungen, die Weihnachten begleiten,
die Abschiede, die Enttäuschungen.
Es wird auch abgründig an diesem Abend.

Auch da sind die Weihnachtstexte realistisch – wir haben es gehört:
die Krippe, außerhalb der Herberge – keine heimelige Kindheit.
Bei Jesaja ist das Gedröhn der Soldatenstiefel zu hören –
die Geburt des Kindes ist begleitet vom Stöhnen der Getriebenen.

Die weihnachtliche Heimkehr ist riskant –
man wird empfindlich, verletztlich wie ein Kind,
rasch enttäuscht und rasch verängstigt.

So sind – auch heute im Gottesdienst –
die alten, die vertrauten Geschichten wichtig.
Aber zugleich brauchen wir neue Geschichten –
oder doch neue Töne in den alten Geschichten,
eine neue Sicht, andere Deutungen der eigenen Erinnerung.
So ungewohnte Deutungen, neue Töne haben wir vorhin vernommen –
in dem urchristlichen Brief an Titus:

„Als aber erschien die Freundlichkeit,
die Güte und Menschenliebe Gottes, unseres Retters
– nicht auf Grund der gerechten Werke, die wir getan haben,
sondern nach seiner Barmherzigkeit –
da errettete er uns, machte er uns selig :
durch das Bad der Wiedergeburt
und der Erneuerung im Heiligen Geist,
den er über uns ausgegossen hat in Fülle ,
durch Jesus Christus, unseren Retter,
damit wir – durch seine Gnade gerechtfertigt –
Erben des ewigen Lebens würden – nach unserer Hoffnung.“

Das sind durchaus vertraute Töne.
„nicht auf Grund unserer Werke, sondern nach seiner Gnade“ –
wenn Gott erscheint, so werden wir erinnert,
dann liegt das nicht in unserer Hand.
Wenn Gott seine Verheißung erneuert,
wenn Gott selbst uns neuen Atem gibt,
dann ist das – zum Glück – nicht eigener Anstrengung zu verdanken –
weder dem politischen Engagement noch der liturgischen Präsenz.

Wir brauchen da nur zu warten, zu hören,
zu singen und vielleicht zu beten,
wir brauchen uns nur erinnern zu lassen vom Titusbrief:

Gottes Gnade ist erschienen – freundlich, barmherzig, uns zur Rettung.
Das sind ebenfalls vertraute Worte – aber sie sind blass geworden,
sie sind zu groß, zu weit, um Atem zu holen.

So ist es freundlich, geradezu barmherzig, wie uns die Epistel an Titus
heute ein neues, ein ungewöhnliches,
aber ein sehr schönes Weihnachtsbild anbietet
„ das Bad der Wiedergeburt “.

Das ist hier, für Titus, zunächst ein Bild für die Taufe –
das Bad der Wiedergeburt,
ursprünglich vollzogen als Ritus an Erwachsenen:
Dreimal werden sie untergetaucht, mit dem ganzen Körper:
Atemnot, einsam, desorientiert –
und dann werden sie empor geholt: „gerettet bist du durch Christus“ –
sie schöpfen neuen Atem: wiedergeboren zum Leben mit Gott.
Und dann werden die Täuflinge mit Öl gesalbt:
der Geist Jesu ist ausgegossen über dir;
von nun an umgibt dich: die Fülle Gottes.

Daran wird Titus mit seiner Gemeinde erinnert:
Ihr habt die Drohung des Todes gespürt, den Abgrund, das Schweigen –
und dann der neue Atem, die Fülle der göttlichen Gnade –
die Wiedergeburt.

Das kennen wir auch:
die ersten Schritte nach der langen Krankheit,
das erste Atemholen in der frischen Luft: wiedergeboren.

Oder eine zögernde, vorsichtige Geste nach dem großen Streit –
und da antwortet der Andere, lächelt – wir fangen neu an: wiedergeboren.

Vielleicht ist es das, was wir zu Weihnachten suchen,
im Gottesdienst und bei vertrauten Menschen:

Noch einmal neu anfangen, nochmals den ersten Atemzug tun –
Wiedergeburt.

Vielleicht boomt deswegen auch der Markt der Wellness-Angebote:
Erholung für Leib und Seele, Bäder zur Entspannung,
besänftigende Töne, heilendes Wasser.

Denn das führt geradewegs zurück in die Kindheit:
noch einmal geboren werden, gebadet werden wie ganz am Anfang,
gesalbt werden, umfangen von Fülle des Wohllauts, des Wohlgeruchs.

Bäder der Wiedergeburt, das Bad der Wiedergeburt –
Titus wird mit diesem Bild an die Taufe erinnert:
Gott hat dich wiedergeboren, hat neu angefangen mit dir,
hat dir die Fülle seiner Verheißung zugesagt, unverbrüchlich.

Es wäre schön, wenn wir uns so an unsere Taufe erinnern könnten –
an Untertauchen und Emporkommen, an Salben und gute Gerüche,
an die Zusage von Gottes Fülle.

Aber eben dafür haben wir ja Weihnachten:
Um an den Anfang zurück zu kehren, in die eigene Kindheit –
und uns auch daran zu erinnern: wir sind getauft.

Die weihnachtliche Heimkehr ist riskant, spannungsvoll –
aber eins ist sicher:
Gott hat Weihnachten noch einmal begonnen – mit dem Kind in Bethlehem.

So ist die weihnachtliche Rückkehr in die eigene Kindheit zwiespältig –
aber eins ist sicher:
auch mit uns hat Gott neu begonnen: in der Taufe.

So können wir – gerade zu Weihnachten – uns auch daran erinnern,
könnten uns gerade heute erzählen und erzählen lassen:
wie wir damals getauft wurden –
mit ein wenig warmen Wasser – aber doch mit sehr viel Aufmerksamkeit,
mit großen Hoffnungen, auch mit Ängsten der Eltern,
und mit dem Segen, der vollen Zusage Gottes – die bis heute gilt.

Noch ein weiterer Gedanke aus dem Titusbrief ist mir wichtig:
Das Bad der Wiedergeburt rettet nicht nur das Leben hier und jetzt.
Die Taufe soll uns nicht allein bewahren in den privaten und politischen Anforderungen der Gegenwart – sondern sie zielt darüber hinaus:
Gott hat den Geist über uns ausgegossen in Fülle,
„damit wir Erben des ewigen Lebens würden.“

Mir ist dazu der Bericht einer Kieler Seelsorgerin eingefallen
[Renate Ebeling, WzM 46 (1994), 391, gekürzt]

„Die Kinderklinik ruft mich zu einer Taufe.
Auf der Intensivstation werde ich in einen Raum geführt, in dem der kleine Junge allein im Brutkasten liegt, beatmet, am Tropf.

Eine Schwester ist bei dem Kind,
sie bittet mich, nochmals die Hände zu desinfizieren.
Bald darauf kommen die Eltern zu uns; wir stellen uns vor,
dann blicken die beiden mich erwartungsvoll an.
Ich fülle eine Nierenschale mit warmen Wasser,
wir stehen gemeinsam am Brutkasten.
Der Junge atmet schwer;
die Eltern beginnen zu weinen.

Nach einer Weile nicken die beiden mir zu.
Vorsichtig schiebe ich die Nierenschale neben den Kopf des Säuglings;
ich bitte die Eltern, wenn sie mögen, doch ihr Kind anzufassen.
Nach ein paar einleitenden Worten taufe ich den Jungen.
Während des Segens und des Taufspruchs sind Eltern, Kind und ich durch die aufliegenden Hände miteinander verbunden.

Wir beten gemeinsam das Vaterunser, ich schließe mit dem Segen. Dann stehen wir drei schweigend bei dem Kind.
Es scheint sich etwas entspannt zu haben, der Atem geht leichter,
es lächelt ein wenig.“

Ich denke, auch dies ist eine Weihnachtsgeschichte:
ein Anfang, gefährdet, vorsichtig – und doch mit einer großen Hoffnung.
Auch dies ist eine Geschichte,
wie Menschen zu Gott zurückkommen, heimkehren –
und wie Gott neu mit ihnen beginnt.

Vielleicht ist dieser Junge am nächsten Tag gestorben,
vielleicht lebt er bis heute.
Die Fülle Gottes ist und bleibt ihm zugesprochen, im Leben und im Tod.

Auch später wird es Situationen geben, in denen er schwer atmet,
bedroht ist, hilflos – wie alle Menschen.
Dann wird es ihn vielleicht, hoffentlich stärken, dass er getauft ist,
von Anfang an – „wiedergeboren zum Leben in Ewigkeit“

Irgendwann werden wir ein letztes Mal nach Hause zurückkehren.
Dieses Leben hier – anstrengend und bedrohlich,
und doch wunderbar, mit immer neuen Anfängen –
dieses Leben hier wird zu Ende gehen,
und wir werden noch einmal neu beginnen.

Heute, am Weihnachtsabend, wird uns auch dies versprochen:
Dann werden wir die Fülle Gottes erfahren.

Und der Friede Gottes, der weiter reicht als alle unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Ablauf und Liturgie des Gottesdienstes

Musik zum Beginn

Eingangslied : EG 39, 1–5 (Kommt und lasst uns Christus ehren)

Gebet:

Ehre und Preis sei dir, Herr Jesus Christus.
Du bist ein Menschenkind geworden,
damit wir Gottes Kinder werden.
Du bist arm geworden,
auf dass wir reich würden.
Du hast Knechtsgestalt angenommen,
damit wir erneuert werden zum Bilde Gottes.
Wir bitten dich:
Erfülle unser Herz, heile unser Leben,
dass wir von deiner Liebe nehmen – und sie weiterschenken.
Dir sei Ehre in Ewigkeit.
Gem.: Amen

Alttestamentliche Lesung
Jesaja 9, 1-6

Lied : EG 20, 1-4 (Das Volk, das noch im Finstern wandelt)

Lesung der Epistel (zugleich Predigttext)
Titus 3, 4–8

Lied : EG 200, 1–2 (Ich bin getauft auf deinen Namen)
oder EG 27 (Lobt Gott, ihr Christen) alle Strophen

Lesung des Evangeliums

Lukas 2, 1–20
unterbrochen durch Lied 27 (Lobt Gott, ihr Christen)

Glaubensbekenntnis

Lied vor der Predigt : EG 38 (Wunderbarer Gnadenthron)

Predigt

Lied nach der Predigt : EG 36, 1-3. 5. 7. 12 (Ich will dich lieben, meine Stärke)

Fürbitte / Vaterunser

Lied : EG 27 oder EG 37, 1–5 (Ich steh an deiner Krippen hier)

Segen

Schluss-Lied : EG 44 (O du fröhliche)

Musik zum Ausgang

Prof. Dr. Jan Hermelink, Göttingen,
jan.hermelink@theologie.uni-goettingen.de


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