Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag im Advent, 30. November 2003
Predigt übe
r Römer 13, 8-12, verfaßt von Hellmut Mönnich
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

ich hörte nur zu:
„Dies' triste Wetter macht einen ganz depressiv! Morgens schon bin ich müde. Und zu nichts habe ich Lust.- Ich beneide meine Schwester: Die fährt Weihnachten mit ihrem Freund in die Sonne. Dahin, wo's warm ist und hell ist. Auf die Kanaren fahren sie.“

„Mir geht es ganz anders! Ich freue mich auf diese Zeit auf Weihnachten zu: Auf unser warmes Wohnzimmer. Auf's warme Kerzenlicht. Auf's Basteln und auf's Spielen mit unseren Kindern. Und wenn die ganze Wohnung nach Keksen duftet – ist das nicht gemütlich? Wir nehmen uns Zeit zu reden – ich meine: mein Mann und ich. Ich freue mich jedes Jahr wieder auf diese Zeit. Man muss ja gar nicht immer in den grauen Himmel gucken und sich ärgern, dass es so früh dunkel wird.“

„Nein!“ hörte ich eine noch eine Mutter sagen, „ mich bedrückt auch nicht das trübe Wetter – und manchmal scheint ja auch die Sonne. Ich finde es ätzend, dass schon ab Totensonntag sozusagen der Startschuss fällt für die furchtbar hektische Zeit bis Weihnachten mit all' dem Werbe- und Kaufrummel! Dem Weihnachtslieder-Gedudel durch die ganze Innenstadt. Den glitzernden Engeln und den Weihnachtsmännern – und alles nur, damit die Kassen besser klingeln! Ich gehe mit meinen Kindern nach Möglichkeit gar nicht in diesen Trubel. – Aber ich will mich nicht aufregen. Vielleicht hat der ganze Rummel ja auch sein Gutes – so menschenunfreundlich er ist. Ich meine: Mich regt das nicht nur auf. Für mich ist das auch Anlass zu merken, dass – wenigstens für mich – ganz anderes wichtig ist. Ich meine Fragen wie: Was ist für mich eigentlich wichtig? Was wünsche ich mir für meine Kinder? Für das Zusammenleben? Was wünsche ich eigentlich im Leben für mich? - Und auch: Was bedeutet mir Weihnachten, das ja nun nicht mehr weit weg ist? Ich bin in dieser Zeit oft sehr nachdenklich.-

Jungen Müttern hörte ich zu. Vor dem Kindergarten standen wir. Der Stuhlkreis im Kindergarten mit der Geschichte und dem Lied war noch nicht zu Ende. Für meine Enkeltochter ist dieser Schluss im Kindergarten immer ganz wichtig! - Noch eine Mutter sagte etwas:

„Also: Ich habe in dieser Jahreszeit ganz unterschiedliche Stimmungen und Gedanken. Am Totensonntag gehe ich immer auf den Friedhof. Da liegt meine Omi. Und der Opa. Und dieses Jahr lag ich abends im Bett noch eine ganze Zeit lang wach. Wie wird's mal mit meiner Mutter sein? – ging es mir durch den Kopf. Und irgendwann - mit mir selbst? Es kann doch alles furchtbar schnell zu Ende sein. Erinnern die erfrorenen Balkonblumen und das schon gefallene Laub nicht daran, dass, dass , ja, dass alles auf den Tod hin lebt? Entschuldigt, dass ich das so sage. – Aber dann geht's mir auch wieder ganz anders: Ich freue mich über das Kerzenlicht am Nachmittag und Abend. Ich freue mich am Morgenrot vor unserem Ostfenster. Ich warte, dass die Tage bald wieder länger werden. Ich warte auf Sonne über dem Schnee, überhaupt das helle Licht! Eigentlich geht es mir gut.“-

Kennen Sie auch solche Gedanken, liebe Gemeinde? Hat der Predigttext, der für den 1.Advent heute vorgeschlagen ist, in unsere Stimmungen und Gedanken hinein etwas zu sagen? Ich will den Abschnitt, der aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom genommen ist, nun erst einmal vorlesen und zwar in der Übertragung der GUTEN NACHRICHT. Diese Bibelübersetzung bemüht sich sehr um verständliche Sprache.

Der Abschnitt selbst steht im letzten Teil dieses längsten Briefes des Paulus, dem Teil, in dem Paulus das für Christen richtige Verhalten skizziert. Ich lese aus dem 13. Kapitel ab Vers 8:

„Bleibt niemand etwas schuldig – außer der Schuld, die ihr niemals abtragen könnt: der Liebe, die ihr einander erweisen sollt. Wer den Mitmenschen liebt, hat alles getan, was das Gesetz fordert. Ihr kennt die Gebote: ‚Brich nicht die Ehe, beraube niemand, blicke nicht begehrlich auf das, was anderen gehört.' Diese Gebote und alle anderen sind in dem einen Satz zusammengefasst: ‚Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.' Wer liebt, fügt seinem Mitmenschen nichts Böses zu. Also wird durch die Liebe das ganze Gesetz erfüllt. Macht Ernst damit – und das erst recht, weil ihr wisst, was die Stunde geschlagen hat! Es ist Zeit für euch, aus dem Schlaf aufzuwachen. Denn unsere endgültige Rettung ist nahe; sie ist uns jetzt näher als damals, als wir zum Glauben kamen. Die Nacht geht zu Ende, bald ist es Tag. Deshalb wollen wir alles ablegen, was zur Finsternis gehört, und wollen uns mit den Waffen des Lichts rüsten.“

Passt dieser Bibeltext zum 1.Advent heute? Spontan möchte man antworten: Eigentlich nicht. Aber vielleicht sieht das anders aus, wenn wir das Geschriebene besser verstehen.

Was haben Sie behalten von dem, was Paulus da schreibt? Vielleicht dies:

Du sollst die Menschen, mit denen du zusammen lebst, genau so lieben, wie dich selbst – oder wie vielleicht mancher es noch von früher her im Ohr hat : Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.

Und vom zweiten Absatz: Mach jetzt Ernst damit – viel Zeit, das aufzuschieben, hast du nicht mehr.

Ich selbst lese das, was Paulus da vor fast 2000 geschrieben hat, mit gemischten Gefühlen. Ich merke: auch mit abwehrendem Gefühl, mit Distanz. Trotzdem möchte ich genauer wissen, was er meint – bevor ich die Bibel einfach wieder zuklappe.

Zunächst zur letzten Zusammenfassung: ... viel Zeit ...hast du nicht mehr. Gemeint ist damit offenbar die kurze Zeit, bis Gott selbst auf seine, unsere Erde kommt. Ab heute ist ja Adventszeit! Ich mache mir wieder klar :„Advent“ heißt „Ankunft“. Gemeint ist damit Gottes Ankunft . Gemeint ist damit das, wovon Jesus immer wieder sprach, wenn er vom „Reich Gottes“ sprach: Vom Leben im Schutz Gottes und in seiner Gegenwart. G In der Gegenwart Gottes, der sein Volk, auch mich, ja: alle Menschen liebt . Jesus wartete auf diese Zeit und er sprach immer wieder davon.. Ja, in seiner Lebensart war die erwartete Zukunft schon da. Jesus wartete aber darauf, dass sie für alle Menschen, für die ganze Welt da ist. – Auf dieses erwartete, erhoffte Kommen Gottes und dann Handeln Gottes bezieht sich der Ausdruck „Advent“. Das ist die eine Bedeutung von „Advent“.

Mancher, der die Härte des Lebens, die Brutalität des Lebens, die Rätselhaftigkeit des Lebens kennen gelernt hat, wünscht sich, sehnt sich nach einem Leben, wie Jesus es meinte: Leben in aufmerksamem Miteinander, ja, in liebevollem Miteinander. Vielleicht muss man im Leben erst tief verletzt worden sein, um sich nach Leben, wie Jesus es meinte und lebte, zu sehnen. Nach Leben, in dem sozusagen Gott den Ton angibt. So verstehe ich den nicht sofort verständlichen Begriff Reich Gottes .

Es gehört zu den Erfahrungen der Anhänger Jesu damals und der ersten Christen dann, dass ihnen klar wurde: Mit Jesus hat diese ganz andere Lebensmöglichkeit tatsächlich schon angefangen! In diesem Bauhandwerkersohn aus Galiläa ist Gott schon - verborgen - gekommen. Gott und das Leben, wie er es will, ist schon für begrenzte Zeit und an einem benennbarem Ort sichtbar geworden. Das ist die zweite Bedeutung von „Advent“. Als christliches „Volk Gottes“ leben wir zwischen diesen beiden „Adventen“, dem in der Zukunft und dem in der Vergangenheit.

Nicht von ohne Grund hat sich der Brauch entwickelt, in der Adventszeit und dann zu Weihnachten Kerzen anzuzünden. Die Kerzen auf dem Adventskranz und dann am Tannenbaum sind genau genommen so etwas wie Hinweiszeichen, Symbole für das Licht, das mit Jesus in unsere oft so entsetzliche, finstere Welt gekommen ist. „Die Dunkelheit weicht zurück und das wahre Licht leuchtet schon“ hat das ein früher Christ im ersten Johannesbrief ausgedrückt (1.Joh. 2,8).-

Eigentlich ist es ganz folgerichtig, dass Paulus die Christen in Rom nun einlädt und anspornt, ihr Leben schon jetzt dementsprechend zu leben zu versuchen. Und wie – das sagt er mit wenigen Sätzen im ersten Absatz des Predigttextes, den man zusammenfassen kann: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Vielleicht geht es Ihnen bei dieser Aufforderung ähnlich wie mir: Ich kenne diese Aufforderung seit meiner Konfirmandenzeit. Ich halte sie für wichtig. Ich stimme dem Satz zu – aber bleibt er sehr abstrakt. Der Volksmund hat das immer schon gewusst und bündig gesagt: „ Selber essen macht fett “. Oder auch: „ Mir sitzt das Hemd näher als der Rock.“ Was halten Sie für richtig?

Um dieses Thema nicht gleich fallen zu lassen, muss man wohl seinen Verstand bemühen - wenn man nicht einfach beim eigenen Egoismus bleiben will.

Die Aufforderung zur Nächstenliebe ist alt – älter als das inzwischen 2000 Jahre alte Neue Testament. Denn schon im ersten Testament, im Alten Testament steht dieses Gebot im 3. Mosebuch 19,18. Offenbar ist dieses Gebot für ein gelingendes Zusammenleben sinnvoll – weil wir nämlich über unseren Egoismus, unsere Selbstliebe so schwer hinauskommen. Der christliche Denker Kierkegaard hat zur Formulierung dieses Gebotes angemerkt: „Soll man den Nächsten lieben wie sich selbst, so dreht das Gebot wie mit einem Dietrich das Schloss der Selbstliebe auf und entreißt sie dem Menschen ... Dies ‚wie dich selbst' lässt sich nicht drehen und deuteln ... es lässt der Selbstliebe nicht die leiseste Entschuldigung übrig, nicht die mindeste Ausflucht offen. Wie wunderbar!' So sah das der christliche Denker Kierkegaard 1847.

Paulus versteht das Nächstenliebe-Gebot als Zusammenfassung aller Gebote Gottes – oder besser ausgedrückt: Anweisungen zum Leben. In unserem Abschnitt aus dem Römerbrief nennt Paulus Beispiele aus den 10 Geboten. Ich fand es in meinem Studium faszinierend, als uns deutlich gemacht wurde: Aufgabe der Gebote in der Bibel ist es, das Miteinander , das Zusammenleben der Menschen des Volkes Gottes so zu steuern, dass jeder einzelne und alle miteinander im Schalom, im Frieden leben kann bzw. können. Noch genauer: dass ein jeder unversehrt, mit allen möglichen Entfaltungsmöglichkeiten als Glied des Gottesvolkes leben kann.

Paulus grenzt das Gebot nicht auf das Christenvolk ein. Lassen wir uns das heute gesagt sein? Wir sind heute angesprochen auf unsere – situationsbedingte - Kreativität in Sachen Nächstenliebe. Auf unseren Verstand - mit dem wir unvoreingenommen denken sollen; auf unsere Phantasie – um wenn nötig, neue Wege zum Tun zu finden; auch auf unser Herz – um uns in den anderen hinein zu versetzen. Lieben heißt auch: herausfinden, was der andere, was die andere braucht. Und dann zu tun was hilfreich ist Das kann auch heißen: den anderen, die andere vor Bösem zu bewahren.

Den Nächsten, die Nächste zu lieben bedeutet nicht, dass ich mich selbst überfordern muss. Und auf die Frage: wo soll man anfangen, wo soll man aufhören mit solcher Liebe und mit helfendem Tun? ist nüchtern zu antworten: Weder kann man jedem in der Welt alles geben, was er braucht, noch kann es gelingen, alles Böse von den Unzähligen, die in der weiten Welt auf Hilfe warten, abzuwenden. Man bleibt immer Liebe schuldig . Dennoch: „Liebe ist möglich “, wie jemand formuliert hat.

Kann man das an Problemen heute kurz und bündig verdeutlichen? Auf die Gefahr missverstanden zu werden: dass in ganzen Regionen unserer Welt gehungert wird und Menschen eher vegetieren als leben hat auch damit zu tun, dass wir Menschen und Völker in den wohlhabenden Ländern zwar mit aller Welt Handel treiben – aber zur Hilfe zum Leben und zur Gesundheit der Menschen in den Armutsgebieten kaum etwas übrig haben. Wir bleiben gar zu einfach im Jammern um fehlendes Geld in unseren Gesellschaften stecken. Wie viel unseres sog. Bruttosozialproduktes hatten wir Deutschen zu geben versprochen? Ich fürchte, wenn's um's Geld geht, hat das Liebesgebot keine Stimme mehr – und wir Christen wie unser Staat bleiben lieber stumm. Liebe – klingt dann einfach nur sentimental.

Und wie steht's um die plötzlich wieder aufgelebte Debatte um den Antisemitismus? Wer von „den Juden“ spricht und alte Klischees reaktiviert, hat jedenfalls als Christ vom Neuen Testament und vom Liebesgebot nichts verstanden. Verantwortliches Urteilen muss sich vor jeder Einäugigkeit hüten. Und wer die gegenwärtige Situation in Israel und Palästina beurteilt, darf nicht leichtfertig den Selbstmordterror übersehen, mit dem Palästinenser israelische Zivilisten tyrannisieren. Man kann die Politik der gegenwärtigen Regierung in Israel für fragwürdig halten und kritisieren – was übrigens aus der Distanz immer leicht ist – und dann hoffentlich auch die Terroraktivitäten palästinensischer Attentäter verurteilen – für antisemitische Urteile gibt es keine Entschuldigung.

Beim Appell des Liebesgebotes geht es nicht um Beliebigkeit - sondern um konkretes Verhalten. Auch dann, wenn es nicht opportun erscheint. Z.B., indem man den Mund aufmacht, wenn's nötig ist.

Darum möchte es uns Christenmenschen gehen: Um Menschlichkeit nach Jesu Art im Alltag unseres Lebens heute. Eben dazu lädt uns der Bibeltext heute ein. Und damit kann uns der etwas sperrige Abschnitt aus dem Römerbrief gut in die Zeit bis zum Geburtsfest Jesu Christi begleiten. Was haben Sie aus dem Predigttext heute für sich herausgehört?

Amen

Pastor i.R. Hellmut Mönnich
Ewaldstr.97
37075 Göttingen
hi.moennich@freenet.de



(zurück zum Seitenanfang)