Christus, Gottes eingeborener Sohn
Martin Luther, WA 30 I, 90,9f: "Nam Euangelium nihil aliud est quam praedicatio de concepto, nato etc. Christo."

Christus, Gottes eingeborener Sohn
Predigt von Jan Szarek, Johannes 1, 1-14

Mit Gottes Gnaden hat wieder einmal die Passionszeit begonnen. Diese Zeit erinnert uns an die Erlösung, die sich in der Geburt von Jesus Christus ankündigt. Diese Geschichte der Erlösung ruft uns in telegrafischer Kürze der zweite Glaubensartikel in Erinnerung, in dem Martin Luther sagt: "Ich glaube an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria..." So mancher fragt heute, warum Gott seinen Sohn zu uns schicken musste. Hat Gott uns nicht ausgereicht? Wir glauben doch schliesslich alle an irgendeinen Gott?

Im Brief an die Hebräer finden wir die Antwort auf unsere Fragen. Dort schreibt der Apostel: "Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welt gemacht hat." (Hebr.1,1-2)

Dass Gott geredet hat, ist deutlich in dem Alten Testament belegt. Hat doch Gott durch sein Wort die Welt geschaffen, hat er doch seine Worte den alttestamentarischen Propheten in den Mund gelegt. In den Psalmen steht geschrieben, dass Gott durch sein Wort dem Volk nahe ist. Das Volk Israel war davon überzeugt, dass das Wort Gottes nicht nur Schall und Rauch ist, der vergeht, sondern ein schöpferisches Wort, das nicht leer zu demjenigen zurückkehrt, der es ausgesprochen hat. Das bestätigt der Prophet Jesaja, der geschrieben hat: "...so soll das Wort, das aus meinem Munde geht, auch sein:

Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und ihm wird gelingen, wozu ich es sende."(Jes 55,11).

Die ganze Aufmerksamkeit Gottes war auf den Menschen gerichtet, um ihn zu retten. Dem Menschen aber blieb dieses Wirken Gottes gleichgültig. Das ist der Grund dafür, warum Gott "in diesen letzten Tagen zu uns geredet hat durch den Sohn", wie es im Brief an die Hebräer heisst. Den Gedanken von der Fleischwerdung des Wortes hat der Apostel Johannes in seinem Evangelium, das wir heute besprechen, am treffendsten ausgedrückt: "Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns..." (Joh. l,14a)

Der Evangelist nennt Jesus Christus das fleischgewordene Wort Gottes. Das Wort ist nicht mehr nur ein Element der Sprache; es ist zu einer Person, ist Mensch geworden. Das bedeutet, dass Jesus zum letzten Wort geworden ist, das Gott an uns gerichtet hat.

Dieses grosse Geheimnis der Menschwerdung hat der Evangelist Johannes ganz schlicht ausgedrückt: "Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott." (Joh. 1,1-2) Dieses Ewige Wort - Logos -wird Mensch in dessen vergänglicher und irdischer Gestalt. Das Wort kommt in der Gestalt des Gottessohnes in die Gott feindlich gesinnte Welt. Das Wort wird 'einer von uns'. Gott nimmt unseren gebrechlichen Leib auf sich, um sich so mit dem Menschen zu verständigen. Das Ewige Wort Gottes liegt in der Krippe, durchwandert das Heilige Land, wird gekreuzigt und stirbt, um sich dann im Ruhm der Auferstehung und der Himmelfahrt zu offenbaren.

Logos erscheint dort, wo der Mensch lebt, teilt mit ihm Freude und Leid, Trauer und Tod. Es kommt "von oben', um bei uns zu sein, um "Gott mit uns' zu sein. Es ist uns in allem ähnlich, "doch ohne Sünde", wie es im Brief an die Hebräer (4,15) heisst. In Jesus Christus spricht Gott nicht nur zum Menschen; durch seinen Sohn sucht er diesen sündigen Menschen, denn der Mensch hat sich selbst verloren, hat sich von Gott abgewandt und ist ohne Gottes Hilfe verloren.

Die Fleischwerdung ist ein unbegreifliches Wunder im ganzen göttlichen Plan der Erlösung. Von den Theologen wird das Johannes-Evangelium als Evangelium vom Gottessohn, als Evangelium des Glaubens und als Missionsevangelium bezeichnet. Der Reformator Martin Luther nannte dieses Evangelium das Hauptevangelium. In seiner Erläuterung zum zweiten Glaubensartikel sagt Luther im Grossen Katechismus,“ in diesem Artikel würden wir die zweite Person Gottes kennenlernen, damit wir wüssten, wie vollkommen sich uns Gott gegeben und uns alles geschenkt und nichts für sich behalten habe.“

Viele sind nicht imstande, dieses Wunder der Fleischwerdung des Wortes zu begreifen. Zu diesen Menschen gehört auch Goethes Faust, der fragt: Warum das Wort? und überlegt, ob man nicht besser von Verstand, Kraft oder Tat sprechen sollte.

Bis auf den heutigen Tag unterliegen viele Menschen der Versuchung, das Wort Gottes durch Verstand, Kraft oder Tat zu ersetzen. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass solche Versuche tragisch enden. Die Menschwerdung des Gottessohnes ist keine einfache Fortsetzung der bisherigen menschlichen Erfahrungen mit der Religion.

Nachdem Jesus Christus auf die Welt gekommen ist, hat die Religion aufgehört, ein Suchen nach Gott zu sein. Denn Gott selbst ist herabgestiegen, weil er die Welt so geliebt hat, wie der Apostel Johannes (3,16) in seinem Evangelium schreibt; ja, er liebt jeden Menschen - auch dich, lieber Hörer des Wortes -So sehr, dass er eine grossartige Rettungsaktion zur Erlösung der Sünder eingeleitet hat.

Christus ist der angekündigte Messias, die Erfüllung der Wünsche und Erwatungen des Volkes Gottes; er ist der Schlüssel, der vor dem Menschen eine neue Perspektive öffnet - die Aussicht auf das Reich Gottes. Seine Inkarnation ist die Ankunft des Gottessohnes Jesus Christus für jeden von uns.

Wir leben in einer Zeit, in der der Mensch des Wortes schon überdrüssig ist - der Flut von Worten, die von allen Seiten auf ihn einströmen. Wir sind auch Zeugen der Manipulation des Wortes. Wenn das Wort irgendeine Wahrheit ausdrückt, kann es zur Lüge werden. Den Worten von heute fehlt oft die Glaubwürdigkeit; die heutige Zeit hat den Worten ihren eigentlichen Sinn und Inhalt genommen. Das Verstehen mancher Worte ist ausschliesslich auf geschriebene Zeichen reduziert, deren Inhalt schon nicht, mehr verstanden wird. Das alles ist ein 'Zeichen der Degeneration der Sprache, sie wird zu inhaltlosen Worten. Auch manches biblische Wort. kann 'zu einer .hohlen Phrase werden. An Reklameslogans gewöhnt, können wir am Wort Gottes ebenso gleichgültig vorüber gehen wie an einer der zahlreichen Reklamen für ein Waschpulver. Da wir schon nicht mehr auf Wortmanipulationen achten, denn oft heisst das, was wir hören, in Wirklichkeit etwas ganz anderes, haben wir oft keine Lust mehr, über die Bedeutung unverständlicher Worte der göttlichen Offenbarung nachzudenken. Aber gerade dieses eine Wort - das Wort des lebendigen Gottes - ist die absolute und unanzweifelbare Wahrheit, die wichtigste für das menschliche Sein heute und in der Ewigkeit.

Dieses Wort hat sich erfüllt, seine Bedeutung ist offenbart worden zu der von Gott bestimmten Zeit.

Die Bibel kennt zwei Bedeutungen des Begriffs Zeit. Da gibt es die gewöhnliche, die historische Zeit - Chronos; es ist die Zeit unseres tagtäglichen Lebens. Es gibt aber auch eine andere, besondere Zeit, die Zeit der Heimsuchung, die Zeit der Gnade und der Erfüllung der göttlichen Pläne. Die Heilige Schrift nennt diese Zeit Kairos. Der göttliche Kairos ist die Zeit der Wiederkunft des Herrn Jesus. Er ist dann nicht mehr der arme Zimmermann, er reitet nicht mehr auf einem Esel - er wird für die Welt und alle Menschen zum einzigen und endgültigen Richter, so wie es in der Offenbarung des Johannes geschrieben steht.

Jetzt haben wir also die Zeit der Gnade und die Zeit der Erlösung. Eine Zeit, die uns gegeben ist, um uns zu entscheiden, um Antwort zu geben auf das, was Gott in Christus für uns getan hat.

Lieber Leser, Gott hat uns durch die Inkarnation seines Sohnes jenen Kairos gegeben, diese besondere Zeit, die Zeit der Heimsuchung. Durch seinen Sohn gibt er uns zu verstehen, dass die Zeit gekommen ist; dass sich jetzt oder nie unser Leben, unsere Zukunft, ja alles entscheidet. Gott sagt: 'So sehr habe ich dich geliebt, Mensch, dass ich dir meinen eingeborenen Sohn gegeben habe. Was sagst du dazu? Wie reagierst du darauf?' Im Brief an die Hebräer (3,15) werden wir ermahnt: "Heute, wenn ihr seine Stimme hören werden, so verstockt eure Herzen nicht..."

Die Menschwerdung des Gottessohnes erinnert uns in dieser Passionszeit wieder einmal an die Bedeutung der Geburt Jesu Christi. Wir sollen aus der Selbstzufriedenheit, die uns zur Gewohnheit geworden ist, aufgerüttelt werden und Antwort geben auf sehr persönliche, geradezu intime Fragen: 'Wer ist Jesus Christus für dich?' 'Glaubst du an Jesus Christus, Seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn?'

Martin Luther hat gesagt, ”an Christus glauben sei nichts anderes als sicher sein, dass, wer ihn besitze, einen Vater und die volle Gnade sowie das ewige Leben habe.“

Schwestern und Brüder in Jesus Christus, wenn wir von dem Geheimnis sprechen, das uns Gott in seinem Sohn anvertraut .hat, wollen wir nicht vergessen, offen und ehrlich darüber nachzudenken, wer wir sind in den Augen des Schöpfers, der nicht gezögert hat, jenen, den er über alles liebte, der Qual und dem Tod auszuliefern, nur um uns - den verlorenen und sündigen Menschen - Liebe und Frieden zu geben. Wir wollen dafür dankbar sein und ein stilles Gebet sprechen vor jenem, dem wir Rechenschaft ablegen von unserem Verhältnis zu dem alleinigen Herrn und Erlöser.

Möge sein lebendiges Wort zur geistigen und moralischen Wiedergeburt eines jeden von uns und unserer evangelischen Gemeinschaft beitragen. Möge Gott uns dabei helfen und uns seinen Segen nicht versagen!

Amen

Dr. Jan Szarek
Altbischof der Ev.-Augsburgischen Kirche
in Polen

j.szarek@luteranie.pl

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