Gott, der allmächtige Vater
Martin Luther, WA 30 I, 10,6: "Wer einen Gott anzeigen wil, der mus anzeigen, was er kan und vermag."

Reflexion zum Glaubensbekenntnis
" Ich glaube an Gott, ... den Allmächtigen...“
Klaus Schwarzwäller

Scheinbar ist es akademische Haarspalterei, wenn man fragt: Ist Gott als der Vater der Allmächtige? Oder ist er als der Allmächtige der Vater? Oder ist er gerade als allmächtiger Vater bzw. in väterlicher Allmacht Gott? Doch mit diesen Fragen wird nicht akademisch-theoretische Flohfängerei betrieben. Hier steht vielmehr in der Gestalt bloßer feiner Differenzierungen Wesentliches zur Frage, nämlich: Wen bekennen wir, indem wir Gott als den allmächtigen Vater bekennen? Wen – eine Urmacht und Urpotenz, aus der alles hervorgeht und die wir darum als Vater aller Dinge bezeichnen und als Gott verehren? oder Gott als den, der väterlich, wie liebende Eltern, sich uns zuwendet und darin sich als machtvoll und göttlich erweist? oder eine väterliche Ur- und Allmacht, die wir aufgrund unserer Erfahrung als Gott identifizieren? Kurz, um wen oder was geht es: die Macht, die Väterlichkeit oder ums Gottsein?

Man sage nicht, das sei nur fürs theologische Denken von Belang. Die Kirchengeschichte belehrt uns bitter, was es bedeutet, wenn wir Gott vor allem in Begriffen und Bildern der Macht erfassen: Das schlägt irgendwann unvermeidlich um in Gewalt und Tyrannis. Sie belehrt uns nicht minder, daß die einseitige Betonung des Vaters zum „lieben Gott“ führt – jenem gutwilligen, doch etwas hilflosen alten Mann, der im Grunde auf uns und unsere Hände und Gedanken und auch Schlaumeiereien angewiesen ist. Sie gibt ebenso zu erkennen, daß das Ausgehen von dem Gottesbegriff, den wir dann durch Macht und Väterlichkeit erklären und füllen, wie wir sie im eigenen Leben, in Natur und Geschichte, in erhabenen Augenblikken oder auch Katastrophen erfahren, zu – einem Gott zu führen pflegt, wie wir ihn in den Dichtungen unserer Klassiker oder auch in der bürgerlichen Moral antreffen.

Der Umblick erbringt: Man wird von vornherein die drei Begriffe zusammennehmen und sich dagegen verwahren müssen, daß man sie voneinander trenne. Also: Gott ist Gott als Vater und Allmächtiger; er ist Vater als allmächtiger Gott; er ist der Allmächtige als Gott der Vater. Wozu dann die Differenzierung? Darum, weil das Wort „Gott“ zu groß, viel zu groß ist für uns und all unser Denken und alle unsere Erfahrung. Sagten wir nur „Gott“, wir würden uns in diesem großen Wort gleichsam verlieren – mit dem Ergebnis, daß wir nach Gefühl und Gutdünken unsererseits eintrügen, was wir unter diesem Wort verstehen. Damit aber würde aus Gott letztlich entweder mein jeweiliger Privatgötze oder aber ein gemeinsamer Nenner, auf den man schier alles nebeneinander schreiben kann, weil er in seiner Bestimmung beliebig wurde. Gott, das ist deutlich, würde darüber verloren. Man könnte dann nur noch seufzen: „Ach Gott, ach Gott...!“ Gesagt wäre dabei nichts mehr.

Indem wir an Gott glauben und ihn bekennen, beten wir einen Gott an und sprechen von ihm, der ausgesagt, benannt, identifiziert werden kann. Woraufhin? Daraufhin, daß er, wie es die Bibel kennzeichnet (Apg. 14,17), „sich nicht unbezeugt gelassen“ hat, sondern der in spezifischer Weise hervorgetreten ist. Im vorigen Jahrhundert hat man das mit dem Begriff der „Selbstoffenbarung“ festzuhalten versucht, der allerdings in abstraktes Räsonieren und insbesondere dahin geführt hat, daß man beim Reden von Gott in feuilletonistischer Haltung verblieb, was so einleuchtend ist, wie wenn man über die eigene Ehefrau/den eigenen Ehemann allerlei geistreiche Weisheiten und Aussagen erhöbe und in abstrakter logisch-analytischer Untersuchung ausdifferenzierte. Was dabei im einzelnen herauskam, kann jetzt nicht dargestellt werden; jedenfalls ist hier erkennbar ein Irrweg begangen worden. Es gilt, ihn zu verlassen und mehr auf das den Blick zu richten, was man ursprünglich mit der Rede von Gottes „Selbstofffenbarung“ hatte festhalten wollen: daß nämlich Gott, er selbst, gehandelt hat, und zwar so, daß er für uns eindeutig ist als Gott, der allmächtige Vater. Für diese Neubesinnung blicken wir auf Luthers Katechismen samt den ihnen vorausgehenden bzw. sie begleitenden Katechismuspredigten.

Ich stelle hier nur ab auf den Kleinen Katechismus (EG 806.2). Dort verweise ich als Erstes auf eine scheinbar rein ästhetisch-sprachliche Äußerlichkeit: Luther beginnt seine Erklärung bekanntlich mit „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen...“ Ich bin überzeugt, daß wir unsererseits, gesetzt einmal, wir verwendeten Luthers Vokabeln, geschrieben haben würden: „Ich glaube, daß Gott samt allen Kreaturen auch mich geschaffen hat...“ Daß ergäbe im ersten Satzteil den nichtssagenden Rhythmus einer Banalität: ~>~~>~>~>~>~~>~>~~. Das fließt in gleichmäßiger Läppischkeit vor sich hin und fällt am Ende kraftlos ab. Luther aber sagt: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen...“, also ~>~>>>~>~~~>~~~>~. Was bei dieser Kennzeichnung ins Auge springt, wird beim lauten Sprechen nicht allein merklich, sondern drängt sich geradezu auf: Die drei Akzente nacheinander erzeugen einen Stau. An dieser Stelle geht es nicht in glattem Fluß. Sondern hier drängt sich etwas auf engstem Raum zusammen und erzeugt eine intensive Verdichtung: „...dáß mích Gótt...“ In ihr steckt so viel Spannung, daß alles Folgende gleichsam hineingezogen ist; also, um es so zu sagen: Es muß einfach weitergehen, auch über „mich“ weit hinaus. Wer in Luther eingelesen ist, weiß: Das ist bewußt so gesetzt (vgl. z.B. in der Weihnachtsgeschichte „...die war schwanger...“ [????] – nicht, wie’s korrekt wäre, „...die schwanger war...“ [????], was wie ein Anhängsel gewirkt hätte [s. den Rhythmus des vorstehenden Nachsatzes!]).

Hierin ist eine Aussage enthalten, die Aussage: In das Faktum von Gottes allmächtigem Schaffen bin ich unmittelbar und unlösbar einbezogen. Ich kann hier nicht theoretisieren, nicht in kritische Distanz gehen, nicht gleichsam mit ausgestreckten Armen davon oder darüber handeln als wie über einen Sachverhalt. Ich war, bin und bleibe unmittelbar und total involviert. Wer Gott, dieser Gott, ist und was er tut, das wirkt sich unvermeidlich auf mich aus. Indem ich von Gott spreche, mache ich Aussagen auch von mir. Darin steckt zugleich: Wenn ich über Gott zu reden mich unterfange, dann habe ich auch mich selbst im Grundlegenden vergegenständlicht. Dann ist, streng bis zum Ende gedacht, meine Definition und daraufhin auch Vernummerung nur eine Frage der Zeit bzw. der Konsequenz. Und was das heißt, darauf hat Theodor W. Adorno in seiner Negativen Dialektik eindringlich aufmerksam gemacht am Beispiel der Judenvergasung. Gott also ist weder Gegenstand noch Sache. Gott – eine von Eugen Rosenstock-Huessys Grundbehauptungen ist, das Wort „Gott“ sei ursprünglich ein Vokativ. Inhaltlich gesehen, hat er recht: Wer von Gott redet nicht aus geschehener Anrufung hin auf wieder geschehende Anrufung, macht bloße Worte und gründet sich in bloße Worte.

Als Zweites weise ich darauf hin, daß der Tenor in der Tat aussagt, was die Sprache als solche vollzieht: Ich bin „samt allen Kreaturen“ von Gottes Schaffen und Wirken, von seiner Macht und seiner – wie’s später heißt – „väterlichen Güte“ umschlossen. D.h. der Frage danach, wo Gott zu finden sei, wie und auf welchen Ebenen bzw. in welchen Medien (z.B. unser Geist, die Natur etc.), ist von vornherein der Boden entzogen, und auch eine „Offenbarung“ ist hier überflüssig, die uns die Schuppen von den Augen nähme. Die Frage ist hier überhaupt nicht die nach der Gotteserkenntnis und deren Bedingnissen und Modalitäten; diese Frage setzt ja voraus, daß ich als eine Art „Ich-AG“ lebte und mich umtäte und dabei dann auf dies und jenes stieße und an einer bestimmten Stelle das Gefundene als „Gott“ identifizierte – die Haltung des abstrakten Ichs des reinen Gedankens. Das traditionelle Lehrstück von der Gotteserkenntnis beläßt Luther hier also an seinem Ort, nämlich der Studierstube, und trägt an seiner Stelle die wesentliche, die relevante – nein, nicht Frage, sondern Aussage vor: daß Gott uns alle wie mich mit seinem Tun und Handeln bereits umschlossen hat, längst bevor jemand nach ihm fragte, daß somit belangvoll ist allein, daß ich’s tatsächlich wahrnehme und mit meinem Leben angemessen aufnehme.

Dabei wird jedoch nicht mit teutzschem Tiefsinn und luthérischer Grundsätzlichkeit gleichsam vom Augenblick 0 ausgegangen. Längst leben wir in verschiedenen Zusammenhängen, die u.a. entscheidend dadurch geprägt sind, daß „Gott sich nicht unbezeugt gelassen“ hat und somit z.B. das Glaubensbekenntnis gesprochen und weitergegeben wird. Salopp geredet, hält Luther sich hier nicht damit auf, das Rad neu zu erfinden, sondern – um beim Bild zu bleiben – stellt vor Augen und malt aus, daß und wie wir rollen und was das heißt. So treten hier an die Stelle gewichtiger Fragen von fundamentaler Bedeutung, mit denen man nur mehr die Hirnzellen trainiert, Hinweise von praktischer Bedeutung, die mein ganzes Leben mitsamt meiner Lebensführung unmittelbar herausfordern – die Hirnzellen inclusive. Will sagen: Geht es um Gott, so geht es um die Realität, so geht es füglich unausweichlich auch um mich und mein Leben und meinen Alltag mit allem, was das heißt und einschließt. Abermals: Mit Gott stehe ich selbst zur Rede, zur Frage, und das mit allem, was mich ausmacht. Der Punkt dabei ist nicht, wie ich das erkenne und ableite und begründe, sondern: ob ich mir darüber im klaren bin und erfasse, was das heißt, einschließt, an Konsequenzen erbringt. Daß ich dann nicht bei mir selber stehen bleiben und verharren kann, liegt auf der Hand.

Als Drittes stelle ich heraus, daß Luther auf diese Weise zu einer Zuordnung der Prädikate bzw. Titel „allmächtiger“ und „Vater“ kommt, die die rein begriffliche Differenzierung überbietet. Das geschieht durch bewußte Umkehrung des Vorgehensweges. Normalerweise führt eine gedankliche Klärung zu Definition und Begriff – so unsere wissenschaftliche Tradition bis in die Gegenwart. Definition und Begriff aber bedürfen der Erklärung, der Füllung und der Ausführung, damit das in sie Abstrahierte erkennbar werde. Das ist notwendig, sollen die Begriffe nicht zu bloßen Hülsen werden, mit denen dann nur mehr logische Korrektheiten konstruiert würden. Begriffe ohne Anschauung seien leer, hat Immanuel Kant gesagt und zugleich hinzugesetzt, daß Anschauung ohne Begriffe blind sei. Das nun macht Luthers Umkehrung des üblichen Weges spezifisch aus, daß er in eins hiermit der scheinbar unausweichlichen Dialektik dieses Doppelsatzes sich entwindet und so das uns (und Kant!) so geläufige, wo nicht geradezu selbstverständliche Schema von Theorie versus Praxis leer laufen läßt. Formelhaft geredet also: nicht vom Begriff zur Klärung hin auf eine neue Gewinnung dieses Begriffs bzw. die Gewinnung eines neuen Begriffs, sondern vom Begriff hinein in die Fülle der theologisch erfaßten Realität.

Das geschieht, indem Luther die – begrifflichen – Aussagen des Glaubensbekenntnisses weder begrifflich expliziert noch konkretisiert oder durch Beispiele zu veranschaulichen sich bemüht, er vielmehr bereits im Ansetzen von dem ausgeht, den das Bekenntnis zum Grund und zum Ziel hat: Gott, den allmächtigen Vater. Es ist bezeichnend, daß Luther in der Erklärung die Begriffe der Vorgabe nur in einem Falle anspielend streift („...väterlicher, göttlicher Güte...“). Er hat sie zwar durchaus im Blick. Doch er hat sie im Blick gleichsam als Sehhilfen, die ihn dazu anleiten, Gott als Wirkenden und in seinem alles umschließenden väterlichen Handeln wahrzunehmen und bekennend auszusagen. Also, wenn man so will: Begriffe als das Àpropos für die Entfaltung der Fülle von Gottes Herrlichkeit, Gnade und Macht. Diese Entfaltung ist anschaulich und lebendig, denn das, was zu sagen ist, prägt unser Leben, gestaltet unsere Welt, ragt bewahrend, hemmend, störend oder auch unauffällig in unseren Alltag herein. Somit werden nicht Stichwörter expliziert, sondern das, was ihnen Gehalt und Klang verlieh, vielmehr: der das tut, wird verkündigt. Das führt dazu, daß damit die Begriffe gleichsam von dem überflutet werden, was sie weniger enthalten als vielmehr ansprechen.

Wenn also im vorstehenden „Gott, der allmächtige Vater“ dem Anschein nach nur beiläufig berührt wurde, ging es im Kern gleichwohl exakt hierum – allerdings: im Eingehen auf Luther. Luther war, wie Ulrich Nembach in seiner Einführung erwähnte, dank seiner Ausbildung in der herkömmlichen, der begrifflich operierenden Theologie nicht nur geschult, sondern er beherrschte sie. (Den Spitznamen „Philosoph“ wird er als Student nicht grundlos getragen haben!) Aber er hatte ihre (hier nicht auszubreitenden) Mißlichkeiten, Schwächen und insbesondere Verführungen erfaßt und durchschaute, daß auf jedem ihrer Wege – welchem auch immer! – stets sich ergab, daß die Grenzen der Theologie mit den Grenzen der Vernunft zusammenfallen, d.h. Gott auf das Maß unserer Einsichtsfähigkeit und -willigkeit zurückgestutzt wird. Damit wird er zu einem Objekt, zu einem Gegenstand, den wir begrifflich verpacken und transportieren – oder vielmehr das zu tun vermeinen, gerade so, als ließe Gott sich derart einfangen. Damit haben wir uns auch in anderer Hinsicht bereits selber belogen: Wir tun dann nämlich so, als wären wir in der Position – um von der Fähigkeit zu schweigen! – , Gott als Gegenüber sozusagen frei in den Blick zu nehmen. Genau umgekehrt ist er es jedoch, der seinerseits uns umfängt und umwaltet und trägt und erhält, der uns wie überhaupt alles, was es gibt, geschaffen hat und auch das seinerseits uns schenkt, was wir selber produzieren wie „Kleider und Schuh...“

Es geht Luther also, pointiert geredet, nicht um die Begriffe „Gott, der allmächtige Vater“ und deren korrekten Gebrauch. Ihm geht es darum, daß wir unser Herz Gott öffnen und unser Leben von ihm empfangen und in ihm gegründet wissen und dabei uns durch die traditionellen Begriffe und ihr differenzierendes Kennzeichnen dazu bringen lassen, von Gott gerade väterliche Güte und Fürsorge und machtvollen Schutz und Weltbeherrschung im Großen wie im Kleinen zu erfahren, zu erwarten und – nicht zuletzt im Gebet zu erbitten. Der Weg hierher aber ist nicht der von „Wissen und Verwirklichen“ noch von Belehrung und Tat oder Einsicht und Handeln etc. Auf alle diese Weisen nämlich erheben wir uns zu Subjekten des Glaubens, analog dem, daß der Empfang von Leib und Blut Jesu Christi im Abendmahl in einer langen, fatalen Tradition als „Danksagung“ („Eucharistie“) bezeichnet wird. Kurz, der Weg geht nicht einfach von der Belehrung und Erklärung über die Reflexion und das Wollen hin zum existentiellen Vollzug, so wie es Moral und Pädagogik von Sokrates bis heute wie selbstverständlich nehmen.

Darum ist seine Form der Dogmatik auch – scheinbar – undogmatisch: Bekenntnis, Predigt, Katechismus, seelsorgerlicher Rat. Denn es sind allein diese Gattungen, die da realisieren lassen, was alle Dogmatiken zwar behaupten, doch durch ihre Form faktisch dementieren und aushebeln: „...daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen...“ und ich darum, wenn ich das oder vielmehr: ihn aussagen will, ich das sprachlich nur als Bekenntnis, Predigt, Katechismus oder Seelsorge vollziehen kann.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
E-Mail: hweissenfeldt@foni.net


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