Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

13. Januar 2003
Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, Friedrich Schorlemmer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Damit endet normalerweise eine Predigt. Ich möchte sie damit beginnen. Es geht nicht gegen die Vernunft, sondern um höhere Vernunft, um die göttliche Vernunft, die der menschlichen Gewaltlogik widerspricht. Dafür hat Gott seinen Sohn in die Welt gesandt.

Wir werden viel innere Kraft brauchen: für unseren äußeren Widerstand und für unsere Hoffnung, damit wir nicht verzagen, nicht versagen. Das Geistliche wird politisch, weil Gott in die Welt gekommen ist – nicht bloß in unsere Seelen und Gottes-Häuser, sondern in unsere so wunderbare und so furchtbar zugerichtete Welt. Und das Politische braucht das Geistliche, das tiefere Fragen, die befreiende Begleitung, das Unverfügbare des Geistes Gottes – sonst wird alles zur politischen Parole, Taktik und Diplomatie der Feigheit. Es ist Zeit aufzuwachen.

Der Friede ist unmittelbar bedroht, der Weltfriede. Es wird ein Krieg durch die einzig verbliebene Supermacht im Verbund mit Großbritannien vorbereitet, bei dem zwar die Sieger feststehen, aber nicht klar ist, wer alles zu den Verlierern gehören wird – auch die Sieger. Fest steht nur, dass die Weltgemeinschaft und das internationale Recht Verlierer sein werden und dass die Spirale des Hasses sich schneller und weiter drehen wird. Und dass nach extern perfiden „Schätzungen“ 250.000 Menschen sterben werden, zigtausende zu Flüchtlingen werden – Opfer, die niemand beweint, wenn die Sieger feiern.

Um einige Missverständnisse von vornherein auszuräumen:

  • Wer gegen einen Krieg im Irak ist, ist nicht für Saddam Hussein.
    Dieser ist und bleibt ein so gefährlicher wie gewiefter Diktator. Aber er ist nicht der einzige, der eine Gefahr darstellt, und es lässt sich diese Gefahr nicht überall auf der Welt wegbomben.
  • Gegen die Bush-Administration zu sein ist kein Anti-Amerikanismus, doch was die Führungsmacht macht, muss nicht gut sein, weil die Amerikaner als selbst ernannte gute Macht gegen die Macht des Bösen zu kämpfen behaupten. Und wir Deutschen (und wir Europäer) sind keine Anti-Amerikaner, aber wir sind auch keine Befehlsempfänger von George W. Bush. Wir sind ein souveränes Land, in freundschaftlichem Verbund mit anderen demokratischen Staaten und in der UNO.
  • Es geht auch nicht um einen deutschen Sonderweg, sondern um einen Weg, der mit allen Kräften den friedlichen Ausweg aus der Krise sucht. Nicht „aus deutscher Sicht“ liegt der Fall anders als die Bush-Administration das behauptet, sondern aus jeder anderen Sicht.
    Es ist ein merkwürdiges Argument zu sagen, wir müssten mit in den Krieg ziehen, an der Seite der Amerikaner stehen, weil wir sonst am Katzentisch der Weltdiplomatie säßen. Was man als falsch erkannt hat, kann man nicht mitmachen, bloß um mit dabei zu sein. Unsere Regierung braucht und verdient Unterstützung, um bei ihrem Nein zu diesem abenteuerlichen Krieg zu bleiben.
    Diesmal schaut die Welt auf Deutschland nicht als Aggressor, sondern als ein freies, neu vereintes Land, das sich einer Friedenspflicht bewusst bleibt – aus historischer Erfahrung, als Täter und dann auch als Opfer von Krieg und Zerstörung.
    Die Deutschen sind bei PISA ziemlich schlecht weggekommen, aber in einer PISA-Studie zur Friedensbewahrung sollten sie gut abschneiden und weiter Kurs halten!
  • Es wäre ein Missverständnis zu glauben, alle Konflikte der Welt ließen sich gänzlich ohne Gewalt lösen. Aber Gewalt bleibt klar definitives letztes Mittel, „Ultima ratio“.
    Vielmehr gilt: Gewalt ist nicht der Königsweg zur Lösung von Konflikten; wo man kriegerische Gewaltmaßnahmen, friedenserzwingende Aktionen plant, müssen sie sich im Rahmen des mühsam errungenen internationalen Rechts vollziehen.
  • Und schließlich das letzte Missverständnis: Politik gehöre nicht in die Kirche. Aber Gott kam in die Welt, nicht bloß in unsere Seelen und unsere Gottes-Häuser. Er kam in die Welt, um uns aus unserer Gewaltlogik zu befreien: Was Gott in Jesus Christus uns zeigt, ist höher als unsere Logik von Schlag und Gegenschlag, Freundesliebe und Feindeshass, Siegern und Gewinnern.

Und deshalb steht am Anfang der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der ist es, der unsere Herzen und alle unsere Sinne bewahre, im Namen des Friedensbringers Jesus Christus.

Die Mächtigen in der Welt können machen, was sie wollen, solange die Ohnmächtigen nichts machen. Sie rechnen allenfalls mit der Lethargie der Ohnmächtigen, notfalls mit ihrem Gehorsam, bestenfalls mit ihrer kriegerischen Begeisterung.

Ich frage in dieser Zeit, in der Donald Rumsfeld zusammen mit Rüstungs- und Energielobbys hegemoniale Politik macht: Wo bleibt der Aufschrei? Wir alle können wissen, was auf dem Spiel steht. Wo bleibt unser Aufschrei?

Unsere Aktivität muss sich gegen einen Präventivkrieg richten. Deshalb brauchen wir auf allen Ebenen Konfliktprävention, eine Vorsorge für politische Lösungen, nicht immer nur humanitäre Nachsorge für Opfer, für Flüchtlinge durch Hilfsorganisationen; auch sie bleiben wichtig. Was jetzt zu tun ist, ist zuallererst die Stärkung der UN und des internationalen Rechts und ein eindringlich lautes, ein sehr persönliches und ein gemeinschaftliches NEIN zum Krieg. Krieg ist keine Antwort.

Liebe Zeitgenossen,

ich wiederhole: Der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Er bewahre unsere Herzen. Er bewahre uns in unserem Innersten, auch vor aller unserer Destruktion. Und er bewahre unsere Sinne, unser Denken, Fühlen, Handeln, unser Tun und Lassen.

Die Vernunft, die aus dem Frieden Gottes kommt, ist wahrlich nicht gegen die Vernunft, sondern braucht und verlangt eine andere Logik. Und deshalb muss auch politisch und nicht nur geistlich argumentiert werden, wenn es um Wege zum Frieden geht, der diesen Namen verdient.

Wir leben in dumpfen Zeiten. Ein neuer Krieg scheint ausgemachte Sache zu sein. Eine gelähmte Weltöffentlichkeit schaut zu, wird hin- und hergeworfen zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Beteuerungen, dass ein Krieg noch nicht sicher sei, und der täglichen Versicherung, dass er unausweichlich würde. Lähmung, Gewöhnung, Verwirrung. Der amerikanische Präsident mit seinem bestechend überzeugenden einfachen Weltbild und an seiner Seite Donald Rumsfeld haben sich aufgemacht, die ‚Achse des Bösen’ zu zerschlagen. Was sie die 'Achse des Bösen’ nennen, nannte die alte griechische Mythologie den 'Kampf gegen die Hydra’ - ein neunköpfiges Meerungeheuer, dessen Giftatem alles vernichtet.

Wenn ihr die neun Köpfe abgeschlagen wurden, wuchsen diese jedes Mal doppelt nach, bis dann schließlich Herakles kam und ihre Halsstümpfe ausbrannte.

Aber George W. Bush ist kein Herakles. Und er will nicht sehen, dass beim Abschlagen der Schlangenköpfe viele nachwachsen werden. Der besorgniserregende Konflikt mit Nordkorea macht es deutlich.

Und ein neuer Krieg würde neuen Terrorismus provozieren, weil es viele neue „Unschuldige“ gibt, die sterben werden und deren Hass angestachelt und politisch oder religiös aufgeladen werden wird.

Ein Krieg muss vermieden werden. Dazu braucht es jede einzelne Stimme und die vielen einzelnen Stimmen, die laut vernehmlich sagen: Nein - in Leipzig, Paris, in Berlin, in Brüssel, in London, in Washington, Moskau, Kairo, in Ankara, Jerusalem, in Tel Aviv, in Ramallah, in Bagdad, Neu Delhi, in Karatschi und in jedem Dorf, in jeder Zeitung, in jeder Kirche sag: Nein. Krieg ist schon Niederlage, bevor er begonnen hat, Niederlage der zivilen Lösung von Konflikten, zu denen wir in dieser mehrfach gefährdeten Welt verpflichtet sind. Sag: Nein! Rüttele die anderen auf, dass sie auch Nein sagen.

Noch ist Zeit; die Tür zu einer friedlichen Lösung ist noch nicht zugeschlagen.

Aber die Völker müssen laut und vernehmlich Nein sagen, und die Völker bestehen aus vielen einzelnen Individuen. Und wir brauchen überall Verbündete - und sie brauchen uns: die amerikanischen Freunde, die einen Präventivkrieg ablehnen, von Charter bis Clinton, vom ehemaligen deutschen UN-Inspektor Sponnek bis zum ehemaligen amerikanischen UN-Inspektor Ritter, vom englischen Dramatiker Herald Pinter bis zur amerikanischen Schriftstellerin Susen Sonntag, von der Inderin Arundhati Roy bis zum Isareli Uri Averny.

Wir brauchen eine Antikriegsbewegung, bevor der Krieg ausgebrochen ist. Gegenüber der Präventivstrategie brauchen wir präventiven Widerstand. Es geht nicht um einen deutschen Sonderweg, sondern um einen friedlichen Weg. Nicht aus deutscher Sicht muss ein Krieg abgelehnt werden; nicht aus deutscher Sicht sehen die Dinge anders aus, als es sich Rumsfeld und Bush denken, sondern aus jeder anderen Sicht.

Auf der deutschen Regierung lastet gegenwärtig ein starker Druck, denn sie ist als einzige europäische Regierung gegenwärtig noch immer bei einem Nein zu einem Krieg, den sie ein Abenteuer nennt. Und sie muss deshalb entschlossener auf europäischer Ebene für gewaltfreie Lösungen sich einsetzen, zusammen mit Kofi Annan und vielen anderen Diplomaten und Politikern auf der Welt. Und auf der deutschen Regierung lastet der Druck, als wenn die Deutschen unzuverlässige Verbündete wären, wenn sie sich nicht an einem solchen Krieg beteiligen. Dabei sollten doch die anderen Nationen in der Welt froh sein, dass die Deutschen einmal nicht bellizistisch sind – sie, die sie im vorigen Jahrhundert zwei große Kriege vom Zaun gebrochen haben. Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt; sie sind nicht besser, aber sie haben noch deutliche Erinnerung an das, was Krieg bringt: Gewalt, Tod, Zerstörung.

Ich empfinde es jedenfalls als eine sündhafte Schläfrigkeit der Mehrheit der Christen in unserem Land und der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Volkes, die stumpf und stumm, zuschauend und achselzuckend bleiben, während einige Oberhirten sehr offen reden, wie der Bischof von Rom Johannes Paul II. oder der Ratsvorsitzende der EKD Manfred Kock. Was aber sind die Worte der Hirten, ohne das laut vernehmbare SCHALOM des ganzen Volkes Gottes, jedes Einzelnen? (Hier in Leipzig schläft man nicht! Sie alle, sie heute hier, sind Pfadfinder der Friedenshoffnung und der Kriegssorge!) Präventiv aufstehen gegen Präventivkriege, statt nach dem Krieg wieder zu bekennen, wie feige wir geschwiegen haben und wie sehr wir die Opfer bedauern. Ich habe den Zynismus der Machtpolitiker und der Großmächte, der Großbanken und der Rüstungslobbys gründlich satt. Etwa 100 Milliarden Dollar soll der Krieg kosten. Das sind Steuern der Bürgerinnen und Bürger. Und die Kriegsgewinnler rechnen sich auch schon die Beute aus und teilen sie sich mit der Ölindustrie. Für die menschlichen Opfer, für die Beseitigung der Schäden sind dann wieder die Hilfsorganisationen zuständig. Da sammeln wir dann die Groschen des Mitleids. Da werden die Bilder des Elends via Fernsehen in unsere Wohnzimmer gespült. Und die Verursacher des Leids fühlen sich nicht verantwortlich für die Folgen ihrer Verwüstungen an Leib und Seele für Millionen Menschen, für ganze Regionen. Macht, Geld und Zynismus bilden eine unselige Dreieinigkeit. Der Seher Johannes nennt das zutreffend: die Hure Babylon. Und dennoch dürfen wir es nicht an Barmherzigkeit fehlen lassen, zugleich aber müssen wir Menschen überall auf der Welt den Machtzynikern das Handwerk legen – mit der Kraft unserer Herzen und der Klarheit unseres Kopfes und mit unermüdlicher Hoffnung, dass es gelingen kann, den Geist des Friedens und der Gerechtigkeit in unserer Welt Bahn zu brechen. Vor allem dieses archaische Denken, diese tödlichen Vereinfachungen, diese verlogenen Rechtfertigungen, die das Böse im Gewand des Guten an sich hat, gilt es zu durchschauen und zu durchbrechen mit Mitteln des Rechts, mit dem Ziel, das Lebensrecht aller zu fördern. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zu seiner Würde gehört seine Lebensmöglichkeit - gleich woher sie kommen, wie viel sie besitzen, wo sie leben, welcher Kultur sie angehören.

Auch wenn es sein kann, dass wir nichts bewirken konnten, sollten wir wenigstens nicht die Schuld des Schweigens auf uns laden, uns nicht an das Kriegerische gewöhnen und uns nicht von der Propaganda der Kriegslüsternen verwirren lassen: An einem Tag heißt es, es wird kein Krieg sein; am nächsten Tag, es wird doch ein Krieg sein.

Während gesagt wird, die Frage, ob es ein Krieg gäbe, sei noch längst nicht entschieden, verlegt man innerhalb weniger Tage zu den 70.000 schon stationierten Truppen nun noch einmal 30.000 und nun noch einmal 27.000. Wer soll noch glauben, dass sie in ein kleines Manöver ins Ausland verlegt werden? Eine beinah kriegsbesessene Großmacht steht einem verbrecherischen Diktator gegenüber. Es stehen sich gegenüber das irakische Volk und die Völkergemeinschaft. Soll denn ein Krieg geführt werden gegen ein ganzes Volk, um einen einzigen Diktator loszuwerden?

Zweifellos werden die Amerikaner den Krieg gewinnen. Und sie werden auch nur ihren Präventivkrieg gegen ein Land beginnen, bei dem sie gewinnen werden und bei dem ihr eigenes Territorium nicht erreicht wird.

Die Frage ist nur noch, wie lange er dauern und wie viele Opfer er kosten wird. Gegenwärtig scheint einzig zu zählen, wie viele Opfer es bei den Präventivkriegern (bei den Angreifern!) geben und welche Folgen dies für die Weltwirtschaft haben wird. Bei den Siegern gelten nie die Zahlen der Toten bei den Verlierern. Der Sieg der Weltmacht gegen ein einzelnes Land, das eingekreist und ohne Nachschub lebt, ist sicher. Das irakische Regime und das irakische Volk werden verlieren. Zugleich aber hat unsere Zivilisation schon verloren.

In welche archaischen Zeiten mit modernsten Machtmitteln wird unsere Welt zurückkatapultiert? Da erklärt der amerikanische Präsident im September 2002 in einer Rede: Saddam sei ein böser Mann, dem man auf keinen Fall trauen könne, und fährt dann wörtlich fort: „Schließlich ist das auch der Kerl, der meinen Vater umbringen wollte.“ Er bezog sich auf einen 1993 vereitelten Mordanschlag auf George Bush in Kuwait. Und Bush senior erklärt: „Ich habe nichts als Hass für ihn übrig.“ Geht es hier also um ein archaisches Muster von Blutrache und um einen „süßen Moment für die Familie Bush“, wenn Saddam verschwände? (vgl. MZ 30.09. 2002)

Dabei steht eines außer Frage: Saddam Hussein ist ein so gewiefter wie brutaler Diktator, der Giftgas eingesetzt hat gegen schiitische Minderheiten im Süden und gegen aufständische Kurden im Norden, ganz zu schweigen vom bestialischen Krieg mit dem Iran. Aber woher hatte er seine Waffen?

Auf welche Weltordnung müssen wir zugehen, wenn wir uns von der Geißel der Massenvernichtungswaffen befreien wollen? Wir werden uns nicht davon befreien, wenn die mächtigste Nation der Welt sich das Recht zum Erstschlag mit Massenvernichtungswaffen nimmt. Es muss weiter um entschiedene und entschlossene Maßnahmen gehen. Dazu braucht die Uno die Machtmittel, die sie zur Durchsetzung internationalen Rechts braucht, statt der Druckmittel der Supermacht auf die Uno. Das internationale Recht braucht die Macht, es durchzusetzen, und nicht eine einzelne Macht darf sich das Recht nehmen, notfalls zu machen, was sie für richtig hält.

Wer nicht alles daran setzt, friedliche Lösungen in Konflikten zu suchen, setzt sich dem begründeten Verdacht aus, Krieg zu wollen und mit Krieg alles andere zu wollen als das Ausräumen der Konfliktursachen.

Dabei sind bei allem, was uns bekannt wird, die bisherigen Erkenntnisse der Uno-Inspektoren im Irak mit ihren erweiterten Vollmachten nicht so, dass sie die besondere Besorgnis nährten, dass Saddam Hussein seine Massenvernichtungsprojekte weitergeführt hat und die Welt bedrohen kann.

Währenddessen erklärt der amerikanische Präsident, dass alles, was Saddam Hussein bisher getan habe, ihn „entmutigen“ würde. Wieso entmutigen? Meint er gar entmutigen, seinen Krieg zu führen? Während alles zunächst auf den 27. Januar zuläuft und Nordkorea währenddessen nuklear droht, wird zugleich gesagt, ein Krieg sei keineswegs sicher. Wieso aber werden weitere 60.000 Elitesoldaten zu den bereits 70.000 Stationierten in die Region entsandt? Man hält offenbar die Weltöffentlichkeit, vor allen Dingen sein eigenes Volk und seine Soldaten, für ausreichend propaganda-gläubig, apathisch oder schon für dumm genug, um der Propagandazentrale im Pentagon zu glauben.

Vor Weihnachten meinte Donald Rumsfeld, eine Informationsoffensive sei insbesondere für die pakistanische und deutsche Öffentlichkeit nötig.

Und es begegnet uns der Vorwurf, wer gegen diesen Krieg und gegen die außenpolitischen Maßnahmen dieser Administration sei, sei im Grund antiamerikanisch.

Wer in der DDR gelebt und sich ein redliches Gedächtnis bewahrt hat, kennt solche Töne. Wer gegen die Niederwalzung des Aufstandes 1956 in Ungarn war, gegen den Einmarsch ´68, gegen denAfghanistan-Krieg 1980, gegen die SS-20-Stationierung 1983, der war antisowjetisch, antikommunistisch und gegen Frieden und Sozialismus.

Wir werden unseren Kopf anstrengen müssen und mit unseren Gefühlen sehr bedachtsam umgehen müssen, um nicht in alte verhängnisvolle Muster zurückzufallen. Dabei ist eines klar:

Wer nach Ursachen und Zusammenhängen, nach Konflikten in der heutigen Welt wie nach deren langfristiger Beseitigung fragt, darf nicht die aktuelle Trauer über den Tod von Menschen sowie die Empörung über die Tat und die Täter vernachlässigen.

Zugleich gilt, wen Trauer und Empörung zum verständlichen Gegenschlag gegen die Täter führt, darf nicht Ursachen und Zusammenhänge vernachlässigen. Schließlich: Wer um seine Toten trauert, darf auch die anderen Toten nicht vergessen, die ebenso unschuldig waren wie die eigenen Toten.

Wer zum Gegenschlag ausholt, darf nicht unterschlagen, wie viele Unschuldige er trifft und wie viel neuer Hass sich gegen ihn richtet – je mehr Unschuldige getroffen werden.

Wer Opfer in kalter Kriegslogik zu „Kollateralschäden“ erklärt, muss damit rechnen, dass hasserfüllte Überlebende, unmittelbare Angehörige und kulturell Zugehörige ihre Selbstmordattentate zynisch als vergleichbare „Kollateralschäden“ verstehen. Und der ganze Globus, die globalisierte Welt, wird ihr Schlachtfeld sein. Und wir werden überall Betroffene sein.

Gegenüber einem weltweit verbreiteten Hass wird es keine ausreichenden Schutzmaßnahmen geben; es sei denn, wir ersticken in einer Sicherheitshysterie, die alle unsere gewonnenen Freiheiten aufs Spiel setzt.

Es gibt keine garantierte Sicherheit – nirgends! - es gibt nur eine Politik, die zu mehr Sicherheit führt durch Abbau von Konflikten. Politik ist im Konfliktfall der geduldige, kluge, besonnene, entschlossene Mut, Frieden mit dem Feind zu suchen, ohne vor ihm zu kapitulieren. Und es ist der Versuch, Gewalttäter und Gewalttaten einzudämmen und dazu auch die Macht des Rechtsstaates und die Macht der internationalen Ordnung zu gebrauchen.

Wenn wir die Menschenrechtsgrundsätze unserer westlichen Zivilisation ernst nehmen, dann zählen aber alle Gewaltopfer, und zwar alle gleich, Mensch für Mensch: Terroropfer in New York und Bombenopfer in Afghanistan, zerrissene Bistrobesucher in Tel Aviv und Flüchtlingsfamilien in Dschenin, deren Häuser in die Luft gesprengt werden.

Die entscheidende Frage ist nicht, wer angefangen hat, sondern wie wir es gemeinsam als Bürger zivilisierter Staaten schaffen, die Logik von Schlag und Gegenschlag zu überwinden, konkrete Täter und auch ihre Hintermänner zu fassen, aber nicht dem (verständlichen) Hass Raum geben und ‚die Palästinenser’ oder ‚die Iraker’ oder ‚die Juden’ zu Opfern zu machen.

Krieg ist Niederlage der Politik. Solange zivile Konfliktregelung möglich ist, soll man sie betreiben – mit aller Kraft, mit allem Recht, mit aller List, mit aller Macht, mit aller Kunst! Krieg ist keine Kunst, sondern sanktioniertes Morden, Zerstören und Rauben.

Um es abschließend noch einmal konkret, sehr konkret zu machen: Der Bootsmann auf dem Flugzeugträger „Abraham Lincoln“, der im persischen Golf kreuzt und dessen Flugzeuge zwanzig Minuten von Bagdad mit ihrer tödlichen Last entfernt sind, dieser Bootsmann sagt, er tue alles, was er dort tut, für seine Kinder und fügt hinzu „und für alle Kinder in der Welt“. Sein Gewissen ist völlig rein, er tut doch alles für die Kinder. Aber er fragt nicht mit, wie viele Kinder im Irak in zehn Jahren des Embargos und wegen des Embargos schon gestorben sind. Das weiß er vielleicht nicht, das wird ihm auch nicht gesagt. Er hört auf seinen Präsidenten und sagt: „Ich glaube ihm“. Und wie zu einer Andacht versammelt sich die Mannschaft vor dem Bordfernseher, wenn der Präsident spricht. Und der Präsident sagt – wiederholt –: „Der Tag der Abrechnung kommt.“ Und sein Verteidigungsminister sagt vor den Soldaten: „Ihr steht zwischen dem amerikanischen Volk und dem Bösen.“

Wer das glaubt, der kann nur noch draufhauen auf diese Hydra, ohne zu fragen, wie viele Schlangenköpfe ihr nachwachsen werden.

In einer komplexen Welt darf keiner sich erlauben, harmlos zu sein und ganz „einfach“ zu denken. Es ist alles sehr viel komplizierter. Die einfach erscheinende Lösung ist die, die viele neue Probleme schaffen wird, statt sie zu lösen.

Darum: Wer Frieden will, muss Frieden mit Mitteln des Friedens suchen und alle Möglichkeiten ausschöpfen, Krieg zu vermeiden.

Noch ist das Fenster nicht geschlossen. Noch ist Zeit, unsere Stimme zu erheben. Noch ist Zeit, mit den Mitteln, die die UN-Charta für die Völkergemeinschaft hat, für eine friedliche Lösung zu wirken und an sie zu glauben.

Für jeden Einzelnen gilt: Sag Nein zum Krieg! Sag Ja zu allem, was Krieg vermeidet. Und schließ dich den einfachen „Bitten der Kinder“ an: Wir alle sind Kinder, Kinder Gottes, Kinder dieser Welt.


Dr.h.c. Friedrich Schorlemmer
stellv. Direktor
Theologischer Studienleiter
(03491) 49 88-45
eMail: Ev-Akademie-Wittenberg@t-online.de


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