Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Predigten über biblische Gestalten im Jahr der Bibel 2003
"Rut", verfaßt von Christian Berndt
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

„Gott, die moabitische Witwe“

(in Anlehnung an eine Predigt von John Holbert, Preaching Old Testament, Nashville 1991, 93ff)

Liebe Schwestern und Brüder,

ich möchte heute nicht über eine Geschichte aus der Bibel predigen, sondern ich will euch eine solche Geschichte erzählen, eine Geschichte mit so vielen Facetten, dass nur eine Erzählung sie annähernd beleuchten kann, eine Geschichte einer unheimlich starken Frau, eine Geschichte von fast unbeschreiblicher Treue und Liebe, eine Geschichte von Gott, eine Geschichte von weiblicher Gewiefheit und weiblicher Verführung: Die Geschichte von Rut.

Es ist die Zeit, in der die Richter richten. Eine schreckliche Hungersnot hat das Land Israel erfasst. Da weiß ein Mann, Elimelech, keinen anderen Ausweg, als seine Heimatstadt Bethlehem zu verlassen, zusammen mit seiner Frau, Naomi, und ihren beiden Söhnen.

Nun ist das keine Zeit, in der gut zu reisen ist. Mit hinterhältigen Mördern wie Ehud; verrückten Königen wie Abimelech; wilden Männern wie Samson; und Kindermördern wie Jephthah, die das Land bevölkern. Kein Wunder, dass diese Zeit woanders so zusammen gefasst wurde: „Ein jeder tat, was in seinen eigenen Augen recht war.“

Dennoch ziehen Elimelech und seine Familie durch die Wüste und über den Jordan nach Moab. Moab ist vielleicht nicht der beste Ort für Flüchtlinge aus Israel, da die Moabiter anderen Göttern huldigen als Jahwe, dem Gott von Elimelech und allen anderen Israeliten. Aber wenigstens herrscht dort keine Hungersnot, keine Dürre. Und die vier können überleben. Die Familie scheint gerettet.

Jedoch dauert es nicht lange, bis sich das Blatt wendet. Zuerst stirbt Elimelech und hinterlässt Naomi als Witwe. Abrupt rutscht Naomi die soziale Leiter fast bis auf den Boden herab: Eine Witwe zählt nicht viel in dieser Zeit, befindet sich in einem Topf mit den anderen, die nichts haben und nichts gelten, den Fremden, Waisen und Ausländern. Ihr Versorger ist tot, und auch religiös und sozial sind ihre Rechte arg begrenzt. Allerdings hat sie wenigstens noch ihre beiden Söhne – sie verbinden sie noch zur männlich dominierten Kultur des alten Orients.

Nach ein paar Jahren heiraten die Söhne zwei Frauen aus dem Land Moab, Orpa und Rut. 10 Jahre lang geht alles gut, doch dann ... sterben auch die beiden Söhne. Und nun sind da drei Witwen. ... Drohte zuvor die Hungersnot, so scheint jetzt das Leben ohne die Männer und damit ohne mögliche Nachfahren zu Ende zu gehen.

In dieser hoffnungslosen Lage erreicht Naomi eine Nachricht: Es gibt wieder Brot im Land Israel. Da macht sie sich auf, die Schulter schwer mit der Trauer um ihre drei Männer. Hinter ihr her ziehen – in respektvoller Distanz - Orpa und Rut.

Auf dem Weg taucht Naomi aus ihrer Trauer lang genug auf, um die beiden Schwiegertöchter hinter sich zu sehen, und sie drängt sie: „Kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter!“ Sie dankt ihnen für ihren Dienst an ihr und ihren Söhnen, für ihre Liebe und Barmherzigkeit. Und sie hofft, dass Gott so viel für sie tun wird, wie sie, die Schwiegertöchter, an ihr, Naomi, getan haben. Konkret wünscht sie, dass die beiden Frauen wieder heirateten und damit ein neues Zuhause im Haus ihrer Männer finden würden. Kurzum, Naomi malt ihnen ein hoffnungsvolles Bild eines Lebens in ihrer Heimat Moab vor Augen. Zwischen den Zeilen sagt sie damit: Wenn ihr mir nach Israel folgt, erwartet euch keine solche Zukunft.

Aber Orpa und Rut brechen in Tränen aus und weigern sich umzukehren. Naomi redet weiter gegen sie an. Versucht sie zu überzeugen, dass sie selber keine Kinder mehr gebären wird und daher keine Zukunft mehr habe, aber dass sie, die jungen Frauen, diese Zukunft doch noch vor sich hätten – in ihrer eigenen Heimat. Und sie klagt: „Mein Los ist zu bitter für euch, denn die Hand Gottes ist gegen mich gewesen.“ Da reicht es Orpa und sie kehrt um. Sie schlägt den offensichtlich vernünftigen Weg ein, der ihr neue Möglichkeiten verheißt: in Moab.

Rut aber lässt nicht von ihr. Sie klammert sich an Naomi, und diese ist überrascht, vielleicht sogar genervt: „Siehe," ruft sie, „deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre du auch um!“ Sie meint damit: „Du hast nur eine Chance. Nun los, benutzte deinen Kopf!“ Ganz offensichtlich will Naomi nichts mehr mit Rut zu tun haben. Daher erstaunen die nächsten Worte von Rut um so mehr:

„ Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Ich werde sogar dein Grab mit dir teilen. Möge Gott mir auch Schreckliches antun, nur der Tod wird mich von dir scheiden.“

Diese Worte mögen wohl anrührend klingen – vernünftig sind sie nicht. Es gibt keinen Platz für Rut in Israel. Als Frau zählt sie wenig in einer völlig patriarchal, also auf Männer ausgerichteten Gesellschaft. Noch weniger gilt sie als Witwe und gar als Ausländerin. Zudem hat sie eine andere Religion und eine andere Kultur. Und schließlich hat Naomi – ihre einzige Verwandte in Israel – kein Interesse an ihr. Mit ihren Worten hat Rut ihr eigenes Leben weggeworfen zugunsten ihrer Schwiegermutter. Kein Wunder, dass diese Worte die Jahrhunderte so gut überdauert haben. Sie sind ein unvergleichliches Beispiel von Hingebung, ohne dass irgendetwas dafür erwartet wird.

Ruts Worte machen Naomi sprachlos. Sie wehrt sich nicht mehr gegen Rut, und so ziehen beide nach Bethlehem. Dort werden sie begeistert begrüßt, vor allem Naomi, deren alte Freunde und Nachbarn sie lange Jahre nicht gesehen haben: „Ist das wirklich Naomi, die Liebliche?“ fragen sie. „Nein,“ antwortet diese, „nennt mich nicht `lieblich´. Nennt mich besser „Mara“, die Bittere. Denn Gott hat mir viel Bitteres angetan. Voll zog ich aus, aber Gott hat mich leer zurückgebracht.“

Nun, was muss die völlig verstummte Rut bei diesen Worten denken? Sie hat gerade ihr Leben für diese Frau gegeben, und jetzt verkündet diese, ihr Leben sei völlig leer! Rut selbst ist leer, verlassen, allein in einem fremden Land, ohne Eltern, Geschwister, Freunde. Vielleicht wird sie jetzt endlich zur Vernunft kommen und nach Moab zurückkehren. Aber falls wir das glauben, dann haben wir ihr nicht zugehört oder ihr nicht geglaubt, was sie auf der Straße nach Bethlehem zu Naomi gesagt hat. Diese Frau wird Naomi niemals verlassen.

Diese große Treue zu Naomi beweist Rut gleich nach ihrer Ankunft in Bethlehem aufs Neue. „Lass mich aufs Feld gehen und Ähren auflesen, bei einem, vor dessen Augen ich Gnade finde.“ So sagt sie zur Schwiegermutter. Damit riskiert sie zum 2. Mal ihr Leben und ihre Zukunft. Nicht, dass dieses Ährenauflesen verboten wäre. Nach den Gesetzen Israels sind die Ähren am Rande des Feldes wie alles, was den Schnittern beim Binden der Korngarben herunterfällt, für die Bedürftigen da. Aber dieses Auflesen ist eine harte Arbeit und ständig der Gefahr durch lustvolle Feldarbeiter oder wütende Besitzer ausgesetzt, eine Gefahr besonders für eine junge und unbekannte fremde Witwe.

Dennoch geht Rut auf das Feld, um für Naomi zu sorgen. Und sie geht – wie es das Schicksal will – direkt zum Feld von Boaz. Was sie nicht weiß: Boaz ist ein naher Verwandter von Naomis verstorbenem Mann Elimelech – und damit auch ein Verwandter von Rut. Ein angesehener, ehrenvoller und reicher Mann.

Als Boaz an diesem Tag an seinem Feld vorbeikommt, grüßt er seine Arbeiter und bemerkt sofort Rut, die am Rand Ähren sammelt. Er fragt seinen Vorarbeiter: „Zu wem gehört das Mädchen?“ Dieser erzählt ihm, dass sie die Moabiterin sei, die mit Naomi gekommen ist, und dass sie darum gebeten habe, Ähren auflesen zu dürfen. Da kümmert sich Boaz ganz besonders um sie: Er warnt sie, nahe bei seinen Mägden zu bleiben; er warnt seine Knechte, dass sie sie alleine lassen. Und sie darf von dem Wasser der Arbeiter trinken. Das erscheint alles unverhältnismäßig großzügig zu sein.

Aber Boaz weiß mehr über Rut, als er zuerst zugibt. Er lobt Rut für das, was sie für Naomi getan hat. Das hat ihn schwer beeindruckt. Er bittet sogar Gott um einen „vollkommenen Lohn“ für ihre Taten, für ihre große Treue zu Naomi. Währendessen weiß Rut gar nicht, wie ihr geschieht. Woher kommt nur dieses Interesse des Feldbesitzers?

Doch dieses Interesse geht noch weiter. Mittags lädt Boaz Rut sogar zu einem reichhaltigen Essen ein und erlaubt ihr danach auf dem Feld Getreide zu sammeln, wo es sonst strikt verboten ist. ... Vielleicht merkt ihr, was hier los ist. Boaz gibt es nicht offen zu, aber der Mann hat sich verliebt!

Mit wohl über 20 kg Gerste kommt Rut am Abend zu Naomi – und mit den Resten des üppigen Mittagessens. Naomi ist völlig überrascht und jubelt, als sie die Geschichte hört. Sie freut sich, dass Gott sich doch nicht von ihr abgewandt hat. Und sie scheint schon Pläne zu schmieden, als sie Rut erzählt: „Dieser Boaz, weißt du, das ist ein Verwandter von uns; er gehört zu unseren Lösern.“ Vielleicht, so scheint sie zu denken, vielleicht ist dieser Verwandter unsere Rettung. Denn nach dem Gesetz Israels ist der nächste männliche Verwandte eines kinderlos gestorbenen Mannes verpflichtet, dessen Witwe zu heiraten. Dieser Verwandte ist der „Löser“, der den ganzen Besitz des Verstorbenen „auslösen“ kann. Das erste Kind aus dieser neuen Ehe wird dann dem Verstorbenen zugerechnet, damit seine Linie, sein Name nicht ausstirbt. Also scheint Boaz der perfekte Heiratskandidat zu sein.

Aber Naomis Hoffnungen scheinen sich schnell zu verflüchtigen. Denn nach dem guten ersten Tag geht Rut immer wieder aufs Feld. Tag für Tag. Bis zum Ende der Erntezeit, mindestens 7 Wochen lang. Aber Boaz bewegt sich kein Stück weiter auf sie zu.

Da entwickelt Naomi einen verwegenen Plan. Sie hat lange genug gewartet. Jetzt will sie handeln und mit Boaz einen neuen Schwiegersohn und Ernährer an Land ziehen. Und wie könnte es anders sein: Ihr Plan schließt Rut ein. Noch nicht einmal diese ahnt, was ihre Schwiegermutter mit ihr vor hat. „Meine Tochter,“ sagt sie zu Rut, „ich will dir ein neues Zuhause suchen. Boaz ist unser nächster Verwandter. Heute Nacht arbeitet er auf der Tenne, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Er ist ein guter Mann, aber ihm fehlt etwas Initiative. Also nimm ein langes Bad, benutze mein bestes Parfüm, zieh dein bestes Kleid an – du weißt schon, welches ich meine – und geh zur Scheune. Zeige dich nicht, sondern warte, bis er sich schlafen legt. Wenn du sicher bist, dass er schläft, dann geh hin, decke seine Beine auf und lege dich neben ihn. Er wird dir schon sagen, was du tun sollst.“

Parfüm, das schönste Kleid, Ausziehen, sich neben ihn legen – Naomi stellt hier die schönste sexuelle Falle auf. Das entspricht natürlich in keinster Weise allen Gesetzen oder kulturellen Gepflogenheiten Israels. Aber wenn Boaz nicht zu Rut kommt, dann muss Rut eben zu Boaz kommen.

Und was antwortet Rut ihrer Schwiegermutter? Ganz gehorsam: „Alles, was du mir sagst, will ich tun.“ Aber das stimmt nur halb.

Ja, sie badet sich, sie macht sich schön und geht im Geheimen zur Scheune. Sie zieht Boaz sogar seine Kleidung weg und legt sich neben ihn. Aber als Boaz aufwacht, da wartet sie nicht einfach auf das, was Boaz machen könnte. Sie ergreift selber die Initiative und fordert ihn auf: „Breite den Zipfel deines Gewandes über mich und nimm mich zur Frau. Du bist doch der Löser.“

Boaz erkennt sofort, was Rut von ihm will. Er segnet sie dafür, dass sie ihn den jüngeren Männern vorgezogen hat. Und er gibt dann zu, dass Rut das Heft in der Hand hat: „Alles, was du sagst, will ich dir tun.“

Was für ein Ja zum Heiratsantrag von Rut! Was könnte jetzt noch schief gehen? Nur eins ...„ Es gibt noch einen Verwandten,“ sagt Boaz der verdutzten Rut, „und der ist näher mit dir verwandt als ich.“ Auf einmal zerschlagen sich alle Hoffnungen Ruts. Ein anderer Mann ist näher verwandt mit ihrem Schwiegervater Elimelech und hat daher das Erstrecht auf dessen Besitz, wozu eben in der damaligen Männerwelt auch Rut gehört. Doch noch scheint nicht alles verloren. Denn Rut hat Boaz schon ganz für sich gewonnen. So verspricht er ihr, sie zur Frau zu nehmen, wenn der andere Verwandte solches ablehnt. Und dafür würde er schon sorgen.

Und er sorgt auch dafür. Gleich am nächsten Morgen ruft er die Männer des Ortes am Tor zusammen, am Ort des Gerichtes. Und er spricht zunächst gar nicht von Rut. Vielmehr bietet er dem potentiellen Mitbewerber, dem näherstehenden Verwandten, das alte Land von Elimelech an, das immer noch auf dessen Namen lautet. „Du hast das Erstkaufsrecht.“ Sagt er ihm. „Aber wenn du es nicht willst, dann löse ich es, da ich nach dir komme.“ Der andere Verwandte geht begeistert auf das Angebot ein. Klar, das Land will er haben. Doch da sagt Boaz: „Da ist nur ein Haken an der Sache. Als nächster Verwandter musst du dann auch Rut heiraten, die verwitwete Schwiegertochter von Elimelech. Denn nur so kann die Linie von Elimelech weitergehen und sein Besitz in seinem Namen bleiben.“ Da zögert der Verwandte. Das Stück Land hätte er schon gerne, aber nicht, wenn es dann dem ersten Kind von Rut gehören würde, da dieses Kind ja nach altem Recht zu Elimelech gehören, seinen Namen fortschreiben würde. Und da könnten ja noch andere Kinder kommen, die er zu versorgen hätte. Dankend winkt er ab und lässt Boaz Land und Besitz, sprich Rut. Er wählt den einfachen, wirtschaftlich überzeugenden, vernünftigen Weg, wie damals Orpa.

Endlich kann Boaz vor allen Leuten erklären, dass er das alte Land von Elimelech und auch Rut „kaufen“ will. Die damalige Welt der Männer scheint wieder in Ordnung, da auch bald ein männlicher Nachkomme geboren wird, der offiziell Naomis Söhne ersetzt. Hier könnte die Geschichte eigentlich enden. Doch überraschend tauchen noch einmal die Nachbarinnen von Naomi auf und verkünden: „Deine Schwiegertochter, die dich liebt, die hat einen Sohn geboren. Sie ist dir mehr wert als 7 Söhne.“ Eine treffende Zusammenfassung für diese außerordentliche Frau, Rut.

Ruts Liebe und Treue zu Naomi dominiert diese Geschichte. Zuerst gibt sie ihre Zukunft auf, um bei Naomi zu bleiben. Dann riskiert sie viel, als sie auf das Feld zum Ährenlesen geht. Schließlich riskiert sie wieder viel, als sie gegen das Gesetz Boaz auf der Tenne aufsucht.

Egal, wie patriarchal die Geschichte auch bestimmt ist, Rut durchbricht die männliche Herrschaft und Normgebung. Nach dem Tod ihres 1. Mannes und dem Wegzug von Naomi war ihr Leben leer. Aber durch ihre Liebe füllt sie es mit neuem Leben für sich und für Naomi, die zuletzt mit ihrem Enkel Obed spielen kann, dem Großvater von König David.

So wird in dieser Geschichte eine leere Welt mit Liebe und Leben gefüllt. Diese Geschichte mag uns bekannt vorkommen, wenn wir an unseren Gott denken, der immer wieder auf eine leere Welt blickt und immer wieder Propheten, Apostel, seinen Sohn Jesus und andere Heilige schickt, um sie mit Liebe zu füllen.

Naomi dankte Rut am Anfang unserer Geschichte für ihre Liebe und Treue zu ihr und ihrer Familie. Und sie sagte weiter: „Sei wie Rut, o Gott.“ „Handle auch so wie Rut an mir.“ (frei nach 1,8) Und Gott ist wie Rut. Wie eine Witwe aus Moab.

Amen

Pastor Christian Berndt, Stade
Christian.Berndt@evlka.de

 


(zurück zum Seitenanfang)