Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Predigten über biblische Gestalten im Jahr der Bibel 2003
"Ezechiel", verfaßt von Stephan Hölter
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

(Lesung: : 5. Mose 5,6-10)

Liebe Gemeinde,

Ich habe mal eine Frage an Sie. Wer von Ihnen ist jünger als 60?

(abwarten; Meldungen wahrnehmen!)

Sie alle können sich also nicht mehr an den 2. Weltkrieg und das 3. Reich bewusst erinnern.

Und ein Teil von den noch Älteren hat damals, soweit ich weiß, in der Sowjetunion gelebt, und hat die Nazizeit hier auch nicht miterlebt. Trotzdem wird uns allen noch heute in gewisser Weise die Schuld für die Verbrechen der Nazis gegeben, einfach weil wir Deutsche sind. Gerade diejenigen von Ihnen, die als Deutsche in Russland gelebt haben, könnten sicher ein Lied davon singen, wie sie als Faschisten beschimpft worden sind und sich Schuldzuweisungen gefallen lassen mussten, für Gräueltaten eines Staates, in dem sie nie gelebt haben.

Und auch andere wüssten vielleicht von Auslandserfahrungen zu berichten, wo sie sich praktisch dafür entschuldigen mussten, Deutsche zu sein. In letzter Zeit hat sich das zwar etwas gebessert, aber Jahrzehnte lang hat man von uns doch erwartet, dass wir uns schämen, Deutsche zu sein, weil von deutschem Boden in der Vergangenheit so viel Unheil ausgegangen ist.

Dabei waren viele von uns, wie wir gerade gesehen haben, damals noch nicht einmal am Leben, und auch die anderen waren wohl zum größten Teil noch so jung, dass sie kaum hätten aktiv an den Verbrechen der Nazis mitwirken oder etwas dagegen hätten tun können. Wir müssen und sollen die Verantwortung tragen, für etwas, was eine ganz andere Generation, und selbst von der, ja eigentlich nur ein Teil, getan hat. Das ist schwer einzusehen.

Aber wir Deutschen sind nicht die einzigen, die so empfinden. Ganz ähnlich ging es nämlich auch dem Volk Israel schon gute 2500 Jahre vor uns. Damit befinden wir uns in der Zeit des Propheten Ezechiel. In dieser Zeit, befand sich das Volk Israel in der Verbannung, im Exil. Jerusalem war von den Babyloniern erobert worden. Und die Eroberer hatten einen Großteil der Israeliten von ihrem Grund und Boden weg geführt und mit nach Babylon genommen, in die Gefangenschaft. Besonders wurden alle Gebildeten und Reichen mit nach Babylon genommen. So sollte der eroberte Staat klein gehalten werden. Und in Babylon durften Israeliten natürlich zunächst mal auch keine hohen Ämter bekleiden oder ähnliches. Auch die Exulanten wurden bewusst klein gehalten. Sie sollten nicht zu Macht und Einfluss kommen können. Das ganze Volk Israel drohte also von der politischen Weltbühne völlig zu verschwinden. Seine Eigenständigkeit hatte es schon verloren.

Diese Situation wurde von den Israeliten als Strafe empfunden. Man sah gar nicht so sehr die Babylonier als die Bösen an, die Israel zu unrecht unterworfen hatten, sondern man legte viel mehr Wert darauf, zu erkennen, dass Israel selbst durch diese Ereignisse eine Bestrafung erfährt für begangenes Unrecht. Das hatten die Propheten jener Zeit immer wieder so gepredigt. Das Volk hatte Jahrhunderte lang die Gebote Gottes missachtet, vor allem das 1. Gebot, das wir vorhin in der Lesung gehört haben. Die Israeliten hatten fremde Götter angebetet. Und dafür erging nun Gottes Strafgericht über sie.

Eigentlich nur gerecht, aber mit einem kleinen Haken: Fremde Götter angebetet und somit gegen das 1. Gebot verstoßen, hatte eine ganz andere Generation von Israeliten. Nicht die, die jetzt im Exil waren, hatten das getan, sondern ihre Vorfahren, und auch von denen vielleicht noch nicht einmal alle, sondern nur ein Teil. Die Israeliten, die im Exil waren, sollten also nun die Verantwortung für etwas tragen, was gar nicht sie selbst, sondern ihre Vorfahren getan hatten, ganz ähnlich wie bei uns Deutschen heute.

Das wurde schon damals als ungerecht empfunden und die Israeliten hatten dafür ein Sprichwort entwickelt: „Die Väter essen unreife Trauben, und die Söhne bekommen davon stumpfe Zähne.“ Das soll heißen: eine Generation hat für die Fehler einer anderen zu bezahlen.

In der Welt ist das oft so, aber kann das auch vor Gott gelten? Ist das göttliche Gerechtigkeit?

Das 1. Gebot scheint dies zu bestätigen. Denn in der vollständigen Fassung der Bibel, wie wir sie vorhin gehört haben, sagt es ja auch: „Ich, der Herr dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht an den Kindern bis ins 3. und 4. Glied.“

Dieses 1. Gebot ist zugleich eine Selbstvorstellung Gottes. Er stellt sich als eifernder Gott vor, der scheinbar die Kinder für die Fehler ihrer Väter bezahlen lässt. So jedenfalls kann man diese Aussage verstehen. Und so ist sie von den Israeliten im Exil auch verstanden worden. Und sie empfanden es als ungerecht. Sie wollten - verständlicher Weise - nicht für die Sünden ihrer Väter und deren Väter bezahlen müssen. „Die Väter essen unreife Trauben, und die Söhne bekommen davon stumpfe Zähne.“ Das kann nicht Gottes Gerechtigkeit sein.

Der Prophet Ezechiel setzt sich mit dieser Frage auseinander und versucht zu erklären, dass es sich hier um ein Missverständnis handelt. Selbstverständlich ist Gott nicht so ungerecht, dass er die Kinder, wenn sie nichts getan haben, für die Fehler ihrer Eltern leiden lässt. In der Welt kommt so etwas vor, aber nicht bei Gott. Vor ihm zählt eine andere, eine bessere Gerechtigkeit. Im 18. Kapitel seines Buches schreibt Ezechiel dazu folgendes:

Lesung: Ezechiel 18,1-23

Jeder leidet und bezahlt nur für seine eigenen Untaten. Niemand wird von Gott für die Fehler seiner Vorfahren zur Rechenschaft gezogen. Damit sagt Ezechiel den Israeliten: Auch ihr leidet hier im Exil nicht für die Fehler eurer Großväter, sondern für eure eigenen. Hättet ihr so gehandelt, wie der Sohn des Ungerechten in diesem Beispiel, der sich hat durch das schlechte Beispiel seines Vaters warnen lassen, wäre euch nichts geschehen.

Aber das habt ihr nicht getan. Ihr habt weiterhin so gelebt, wie eure Eltern und Großeltern. Und deshalb trifft euch auch die volle Strafe, die die Schuld von Generationen abzugelten hat.

Die Schuld eurer Vorfahren lastet nur deshalb auf euch, weil ihr selbst auch nicht besser seid als sie.

Ezechiel legt das 1. Gebot hier neu aus, denn es war zuvor falsch verstanden worden und wird es leider noch heute oft. Wenn es dort heißt, dass Gott die Sünden der Väter an den Kindern heimsucht, dann spricht er damit die Väter an und ruft sie zur Verantwortung. Wer das hört oder ließt, soll sich selbst als Vater angesprochen fühlen und sich seiner Verantwortung für seine Nachkommen bewusst werden. Man soll sich selbst an der Stelle der Väter sehen, nicht der Kinder. Nicht was vorige Generationen getan haben, steht hier im Mittelpunkt, sondern was wir selbst für nachfolgende Generationen tun können. Auf ihnen lastet unsere Schuld noch bis in die 3. und 4. Generation. Aber auf sie kommt auch unser Segen bis in die 1000. Generation. Das ist Gottes Gerechtigkeit, dass seine Barmherzigkeit seinen Zorn um ein vielfaches überwiegt. Bis zum 3- oder 4-fachen trägt er uns das Schlechte nach, aber bis zum 1000-fachen das Gute.

Und jede Generation, auch jeder Einzelne, leidet nur für seine eigenen Fehler. Zwar ist er vorbelastet durch seine Eltern und deren Eltern usw., durch die Zugehörigkeit zu einer Familie oder letztlich auch zu einem ganzen Volk. Aber jeder entscheidet ja selbst, ob er sich auch weiterhin verhält, wie seine Vorgänger oder wie die anderen Volksgenossen. Wer das tut, dem kommt auch die Strafe für das zu, was sie alle gemeinsam angerichtet haben. Wer das aber nicht tut, der muss auch nicht mit für die Fehler der anderen bezahlen, jedenfalls nicht vor Gottes Gericht, denn da geht es gerecht zu.

In der Welt ist das zuweilen anders. Hier werden wir als Deutsche wohl auch weiterhin damit leben müssen, dass man uns nachträgt, was die Nazis angerichtet haben. Aber vor Gott gilt eine andere, eine bessere Gerechtigkeit: Wer sich selbst von dem abgrenzt, was einige unserer Eltern oder Großeltern zwischen 1933 und 45 getan haben, wer sich selbst davon distanziert und dies weder gut heißt noch zu rechtfertigen versucht, und natürlich nicht selbst so wird, der braucht sich vor Gott auch nicht für das zu rechtfertigen, was damals geschehen ist. Und das ist auch gut so, denn schließlich hat jeder Einzelne genug eigene Fehler und Schwächen, mit denen er vor seinem Gott steht.

Wer sich allerdings weiterhin zu dem hält und sich selbst mit hinein ziehen lässt in die Fehler seiner Vorfahren, wer diese womöglich sogar wiederholt, der macht sie natürlich damit auch zu seinen eigenen Fehlern und macht sich dann logischer Weise mit verantwortlich dafür. Der wird dann auch völlig zurecht dafür zur Rechenschaft gezogen.

Aber wer das 1. Gebot richtig und bis zum Ende ließt, kann ja vor allem nicht übersehen, dass Gottes Liebe und Barmherzigkeit seinen Zorn und seinen Willen zur Strafe um ein Vielfaches übersteigt. 3- bis 4-fach wird das Böse gerächt, aber 1000-fach wird das Gute vergolten. D.h. wer sich Unrecht zuschulden kommen lässt und die Fehler seiner Vorfahren nachahmt, der wird für die letzten 3 bis 4 Generation mit bestraft, aber wer das Gute von seinen Vorfahren übernimmt und ihnen darin nacheifert, der steht vor Gott unter dem Segen von 1000 Generationen. Und umgekehrt: Mit unseren Fehlern tragen wir Verantwortung für die nächsten 3 bis 4 Generationen, aber mit dem Guten das wir tun, segnen und heiligen wir die nächsten 1000 Generationen.

Und was im Laufe von mehreren Generationen gilt, das gilt auch im Leben jedes Einzelnen von uns. So will Gott das 1. Gebot verstanden wissen und das sagt uns Ezechiel am Ende des heutigen Predigttextes: „Meint ihr, Gott hat Freude daran, wenn ein Mensch wegen seiner Vergehen sterben muss? Nein, Gott freut sich, wenn er von seinem falschen Weg umkehrt und am Leben bleibt.“ „Wenn ein Verbrecher umkehrt und das Böse lässt, (...) wird ihm all das Böse, das er früher getan hat, nicht mehr angerechnet.“ Das ist Gottes 1000-fache Barmherzigkeit. Sie betrifft die nachfolgenden Generationen, aber ebenso auch schon jeden Einzelnen. Es ist für niemanden jemals zu spät, umzukehren.

Ich denke, dass ist das wichtigste überhaupt, das uns der Prophet Ezechiel hier schreibt: Gott ist eben nicht nachtragend, oder wenn: dann trägt er das Gute um ein Vielfaches mehr nach als das Schlechte. Und selbst der, bei dem das Schlechte bisher noch überwiegt, kann jederzeit umkehren, zu Gott. In seinem Sohn Jesus Christus macht er uns dazu auf´s Neue das Angebot.

Wer an den glaubt, der braucht sich nicht mehr an seinen Fehlern messen lassen. Wer an den glaubt, dem werden nicht mehr die Fehler seiner Vergangenheit oder womöglich früherer Generationen angerechnet. Wer an den glaubt, der ist gerecht vor Gott.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, stärke und bewahre unseren Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn. Amen.“

Stephan Hölter
Hoelter75@aol.com


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