Christus, Gottes eingeborener Sohn, der Herr
Martin Luther, WA 30 I, 90,16: "Herr sey hie so viel als erlöser etc."

Gottheit und Menschheit vereinen sich beide
Predigt von Ulrich Braun über Philipper 2, 5-11

Predigttext: Philipper 2, 5-11
Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war. Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zu Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, das Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Liebe Gemeinde!

Wie Gott sein zu wollen, hat keinen guten Leumund. Auch nicht, sich allzu bestimmt als Werkzeug Gottes zu verstehen. Zu Recht gilt als gefährlich, wem ein allzu fester Glaube die Unterscheidungsfähigkeit von Gottes und dem eigenen Willen trübt.
Beginnt man so, wird gleich noch eine weitere Gefahr deutlich: nämlich die, alles Reden heute auf die aktuelle Krise und den Krieg im Irak zu beziehen. Auf das religiöse Selbstverständnis des amerikanischen Präsidenten, auf andere Formen des religiösen Fundamentalismus und – um der Ausgewogenheit willen – vielleicht sogar auf Teile der zu neuer Selbstgewissheit erwachenden Friedensbewegung.

Krisenzeiten sind Bekenntniszeiten. Es schließen sich die Reihen. Es herrscht Bekenntniszwang – dafür oder dagegen. Der amerikanische Präsident hat es selbst formuliert: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und so haben sich die Parteien hinter ihren Bekenntnissen versammelt, neue und alte Europäer, Willige und Unwillige. Und auch die Experten für den Willen Gottes haben sich eingegraben. Stellungskrieg.

Die Funktion von Bekenntnissen ist, zu einen und zu trennen. Sie vergewissern und sie grenzen ab. Sie sagen, was gelten soll und was nicht. Viele von uns spüren diese Doppelfunktion, wenn wir im Gottesdienst das Glaubensbekenntnis sprechen. Es ist gut, etwas zusammen zu tun. Gemeinsam zu sprechen, verbindet uns.

Zugleich aber beschleicht uns die Frage, wie weit wir denn noch sagen können, was wir da murmeln. Wie weit meine ich, was ich da sage? Und wenn ich mir bei dem ein oder anderen Satz vorbehalte, ihn nicht gar so fest und jedenfalls nicht wörtlich zu glauben, gehöre ich am Ende schon gar nicht mehr dazu? Krisenzeiten sind Bekenntniszeiten, und Bekenntnisse können ihrerseits die Krisen verschärfen. Weil sie scheiden, was sich nicht einen lässt.

Der Philipper-Hymnus
Es trifft sich, dass unser kleiner Predigtabschnitt, der sogenannte Philipper-Hymnus, uns einen Blick in die Bekenntnisgeschichte des Christentums gewährt. Dabei hilft auch ein Seitenblick auf die Entstehungsgeschichte des Briefes. Paulus sitzt im Gefängnis. Er hat das Gefühl, dass seine Zeit abläuft. Welche Frist ihm noch bleibt, ist ungewiss. Also in jedem Falle ein guter Zeitpunkt, einmal grundsätzlich und in gebotener Kürze zu sagen, worauf ihm alles ankommt.

Schreibend vergegenwärtigt sich Paulus diejenige Gemeinde, der er sich am nächsten fühlt. Tröstliche Erinnerungen ruft er dabei auf, die die Gottverlassenheit der Gefängniszelle erträglicher machen sollten.

Aus welchen Gründen Paulus in Haft saß, lässt sich kaum sagen. Wo vor allem der Satz „Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns“ zum Rechtsgrundsatz wird, wird einer schnell mal als Gegner eingestuft. Sicherheitshalber sozusagen. Die Haftaussichten sind entsprechend.
In dieser Gottverlassenheit also erinnert sich Paulus an bessere Zeiten. Und es fällt ihm ein Lied ein. Vielleicht hat er es in diesen besseren Zeiten mit der Gemeinde gesungen. Vielleicht hat er es sonst irgendwo aufgeschnappt. Jedenfalls könnte dies Lied älter sein als sein eigener Glaube, und er singt es, um mit dessen Grund in Verbindung zu treten und mit all den großen Fragen: Von der Nähe zwischen Gott und den Menschen, von der Gottverlassenheit und von der Frage, wem die Erde, was darüber, darauf und darunter ist, denn eigentlich gehört.

Göttergeschichten
Das Lied ist sozusagen ein früher Verwandter unseres Glaubensbekenntnisses. „... und an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn.“ So heißt es im zweiten Artikel des Apostolikums. Gott ist Mensch geworden. Oder ein Mensch Gott? In dem kleinen Text im Philipperbrief gibt es mindestens so eine leichte Schwebung, die das ahnen lassen könnte: Er hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, heißt es in diesem Lied.
Ob Paulus wirklich beschreibt, dass etwa ein Mensch Gott geworden wäre, darf mindestens bezweifelt werden. Übersetzung und Verständnis dieses Satzes sind schwierig genug, für beinahe zwei Jahrtausende die Synapsen der Gelehrten befeuert zu haben. Aber sei’s drum.

Die hellenistische Welt kennt viele Göttergeschichten. Vielfach verschwimmen die Grenzen zwischen Göttern und Menschen. Heroische Gestalten steigen geradezu zu den Göttern auf. Umgekehrt zeigen Götter in ihren Flegeljahren – oder wenn sie es sich als Göttervater auch später leisten können – durchaus menschliche Züge.

Ganz anders klingt das Christuslied des Paulus. Dass hier von Gott die Rede ist, erschließt sich nicht vom heroischen Augenschein. Nicht die heroische Seite des Menschlichen, sozusagen das Übermenschliche, baut die Verbindung zu Gott auf. Der Mann aus Nazareth begibt sich unter genau das Joch, das auf der Menschen Schultern liegt. Er erträgt Gemeinheit und Gewalt und das Eiferertum der Gottesexperten. Die Hinfälligkeit des Menschen wird an ihm schmerzvoll sichtbar. Das ist nicht der Stoff, aus dem Göttergeschichten gemacht sind. Doch andererseits scheint hier erst recht verstanden zu sein, was es denn mit den Menschen ist.

Der Maler Otto Dix hat diesen Christus vielfach abgebildet. Einmal hat er ein Kruzifix dargestellt, an dem gar nicht der Christus hängt, sondern ein Soldat des ersten Weltkrieges. Eine Gasmaske verhüllt das Gesicht und steht für den anonymen Giftgastod in den Schützengräben des Krieges. Aber Christus ist dadurch nicht einfach verschwunden oder selbst anonymisiert. Er wird an die Seite derer gestellt, die ihres Namens, ihres Gesichts und ihrer Würde beraubt und um ihr Leben betrogen worden sind.

Das ist nicht der Stoff, aus dem die Göttergeschichten zugeschnitten sind. Doch andererseits: Was nützen dem Paulus jetzt Herkules, Apoll und Aphrodite? Der Schein übermenschlicher Lichtgestalten fällt nicht bis in seine Zelle. Wer wirklich so im Elend sitzt, verspürt vielleicht auch gar keine Sehnsucht nach den Superhelden, die im Alleingang ganze Welten retten, leider aber auch zerstören können. In seiner Einmauerung braucht Paulus nur die Hoffnung, dass er am Ende nicht von Gott verlassen ist.

Herrschaftsansprüche
Das Lied, das Paulus sich singt, ist nicht nur eine kleine Trostmelodie, wie man sie dem Kind singt, das aus schlechten Träumen aufgewacht ist. Es erzählt von der Hingabe Jesu, der all das auch durchlitten hat, was Menschenkindern widerfährt, und was sie einander antun. Und genau darin, singt das Lied, hat Gott ihn erhöht. Er hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist.

Die ganze Welt wird darin zurecht gerückt. Nicht, dass aller Kummer schon verflogen wäre. Aber die Dinge klären sich. Es wird unterschieden, was ewig und was zeitlich ist. Die jedenfalls, die ihn eingeschlossen haben, sind zeitlich. Und alles, was das Leben zerstört, ist auch zeitlich. Zerstört werden kann auch nur das, was am Leben zeitlich und hinfällig ist. Aber wer wie der Mann aus Nazareth sich nicht an das klammert, was er ohnehin einmal verlieren wird, kann ein Leben gewinnen, das ganz mit Gott verbunden ist.
So jedenfalls singt Paulus. Ob es auch wahr ist? In jedem Falle ist ja das zeitliche Leben auch nicht zu verachten. Es ist bunt und begehrenswert und in jedem Falle alles, was wir vor Augen haben.

Paulus singt auch nicht das Lied der Weltverachtung, weil es ja am Ende doch nichts sei mit dem irdischen Leben. Er singt das Lied der Freiheit, die gewinnt, wer sich die Dinge zurecht rücken lässt. Wer sich nicht an das Leben klammert, der kann es gewinnen. Wer sich aber um nichts anderes kümmert, als darum, sein Leben möglichst reich und sicher zu machen, wird am Ende erfahren müssen, dass er’s dann doch verlieren muss.
Der Name Jesu steht für Paulus dafür, dass sogar durch den Tod hindurch ein Leben zu ahnen ist, vor dem sich alle Knie beugen müssen: alles, was im Himmel und auf der Erde und was darunter ist.

Das hat Folgen für das zeitliche Leben. Die stellt Paulus seinem Lied voran: Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war.
Und wie war er? Er hat sich nichts auf irgendwelche Würden zugute gehalten. Er ist ganz bei denen gewesen, mit denen er lebte. Er hat sie auf eine Weise verstanden, die Blinden wieder ein Bild der Welt gab, die Erstarrte wieder in Bewegung kommen ließ und Verstummten half, wieder Worte zu finden.

Er hat mit denen gelitten, die leidend waren, und hat am Ende das Todesurteil ertragen. Beinahe hätte es ihn zerstört, und einen Moment wollte es ihm so scheinen, als habe Gott ihn sogar verlassen. Und genau darin hat er sich wahrhaft als Gottes Sohn erwiesen, dass er alles hingegeben hat. Sogar das Leben.

Das Leben der Kinder Gottes
Paulus singt sich und den Philippern das Lied von diesem Christus. Er tröstet sich und die, die ihm nahe sind. Er sagt sich die Verse auf, die fest halten, was ihm wichtig ist, in Zeiten, da nichts mehr fest und alles ungewiss zu sein scheint. Was er vom Leben noch erwarten kann, ist nicht abzusehen. Vielleicht wird er es loslassen müssen, und keiner kann jetzt schon sagen, wie tief die Verzweiflung noch werden kann.

Das Leben der Kinder Gottes aber zeichnet sich nun nicht durch Lebensverachtung aus. Es zeichnet sich dadurch aus, dass sie dem Tod nicht mehr Macht zugestehen, als ihm zukommt. Wer immerfort um sein Leben fürchtet und um sein Wohlergehen, verbringt sein Leben am Ende damit, auf den Tod zu warten. Dessen Macht also muss gebrochen sein, um leben zu können.

Kann ein Mensch wie Gott werden und Gottes Willen und Plan sozusagen von innen her kennen? Zu Recht misstraut man dem, dem ein allzu fester Glaube das Unterscheidungsvermögen trübt. Was menschlich und was göttlich ist, ist durchaus nicht dasselbe. Es unterscheiden zu können, gehört zu den wichtigeren Einübungen in die Religion. Wer aber wahrhaft menschlich wird, wer am Ende sogar sich selbst loszulassen versteht, der wird das Leben lieben und den Tod nicht fürchten.

Wer so im Leben das Leben und nicht den drohenden Tod zu sehen vermag, ist nah bei Gott. So nah, dass er Gottes Kind genannt werden kann. Mehr noch. Er ist in Gott und Gott in ihm. Gottheit und Menschheit vereinen sich beide; Schöpfer, wie kommst du uns Menschen so nah. Davon sollen Himmel und Erde ein Lied singen.
Amen

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
E-Mail: Ulrich.Braun@Nikolausberg.de

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